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Nicht der »Nigger«,
sondern »Niemand« verschwindet |
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Im
Jahr 1897 erschien in dem New Yorker Verlag Dodd, Mead and Company der dritte
Roman eines polnischen Seemanns, der 1874, mit siebzehn Jahren, als Schiffsjunge
zum ersten Mal anheuerte und zunächst auf Segelschiffen und Dampfseglern und
schließlich auf größeren, schnelleren Dampfern die Weltmeere umschiffte. Er hat
viele, tief in seiner Zeit verhaftete, und dadurch gleichsam zeitlose Romane
geschrieben. Über das Leben auf See, über den immerwährenden Kampf mit den
Gewalten der Natur, und damit auch den Kampf des Menschen mit der Natur in sich,
und, auch das, mit der Gewalt an sich. Mehrfach kam der junge Seemann am Kap
Horn vorbei und nicht immer ohne Probleme. »Draußen am Kap herrschte in diesem
Jahr ein schlimmer Winter. Kamen die abgelösten Rudergänger zurück, dann
schlugen sie sich die Arme gegen den Leib oder stampften im Laufen fest mit den
Füßen auf, während sie sich ihre geschwollenen roten Finger bliesen. Die
Deckwache wich den stechend kalten Spritzern aus und hockte in geschützten Ecken
und sah trübselig den hohen, mitleidlosen Wogen dabei zu, wie sie in
unstillbarem Zorn von Zeit zu Zeit das Schiff überspielten. Das Wasser ergoss
sich in Katarakten über die Türen der Back. Man musste durch einen Wasserfall
rennen, um in sein feuchtes Bett zu kommen.« Weißen Lesern, andere gab es noch nicht, wollte man keinen schwarzen Helden zumuten. Bei der folgenden englischen Ausgabe und allen späteren amerikanischen Editionen setzte sich Conrad dann aber mit seinem ursprünglichen Titelwunsch durch. Und so sind auch die meisten deutschen Ausgaben unter dem Titel »Der Nigger von der ›Narcissus‹« erschienen. Ohne jeden Zweifel keine unbedingt freundliche, vielleicht sogar abwertende, dafür aber präzise und vom Autor so intendierte Bezeichnung des Helden, dem Nigger. Genau darum geht es. Der hünenhafte Schwarze, der todkrank auf dem Schiff mitgeschleppt und am Ende durch eine christliche (See-)Bestattung über Bord gehievt und der Ewigkeit übergeben wird, dieser Jimmy Wait war – damals in den Augen und im Bewusstsein seiner Umwelt – kein Schwarzer und auch kein farbiger Mitbürger, kein Mohr (wie bei Shakespeare und Musil), sondern klar und deutlich: ein Nigger. Er kämpft, vergeblich, um sein Überleben. Die Besatzung, die ihm dabei hilft, kämpft um die Rettung ihres Schiffes, erfolgreich. Ein doppeltes Drama, das auf packende, intensive Weise, ineinander verschränkt, beschrieben wird. Wobei der Kampf um Anerkennung noch offen bleibt. Jimmy Wait, auch wenn er der Nigger bleibt, gewinnt an Anerkennung, doch verliert er sein Leben. Die Rassenfrage spielt dabei, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle. Joseph Conrad geht es hier vor allem um den, um die Menschen. Selbst der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung samt Martin Lu-ther King war es, trotz erheblicher Fortschritte, nicht gelungen, in den Südstaaten schon mal gar nicht, die Gleichberechtigung der Schwarzen wirklich durchzusetzen. Noch immer werden Jahr für Jahr Dutzende Schwarze von weißen Polizisten umgebracht, oft genug, weil sie in den Augen der weißen Rassisten eben nur Nigger sind.Aber diese Nigger sind nicht niemand. Sie haben eine Geschichte, ein Schicksal, und vor allem einen Namen, der jetzt immer häufiger auf Plakaten und Transparenten und immer öfter sogar auf den T-Shirts zu lesen ist. George Floyd aus Minneapolis ist zum Inbegriff dieses Kampfes geworden. Der Hamburger mareverlag bringt jetzt Joseph Conrads frühen Roman in neuer, an sich ordentlicher Übersetzung von Mirko Bonné wieder heraus. Allerdings unter einem neuen, politisch korrekten, dafür absurden Titel: »Der Niemand von der ›Narcissus‹«. Ein Unding. Wer sich an die Odyssee erinnert, eventuell sogar an die Deutung, die Horkheimer und Adorno in ihrer »Dialektik der Aufklärung« dieser Episode geben, der wird sich auch erinnern, auf welchem Weg ein »Niemand« zum »Selbst« wird. Der Zyklop Polyphem, der Odysseus seine Gefährten gefangen genommen hatte, noch in der Vorgeschichte befangen, schreit laut heraus, dass ihm »Niemand« sein einziges Auge ausgestochen habe. Natürlich kommt Polyphem deshalb auch keiner zur Hilfe. Auf diese Weise gelingt es Odysseus und seinen Gefährten zu fliehen. Kurz gesagt: Selbsterhaltung durch Selbstverleugnung. Der israelische Philosoph Avishai Margalit erwähnte in seinen Adorno-Vorlesungen an der Frankfurter Universität den Fall eines israelischen Soldaten, der im Libanon-Krieg, fremdes Leben rettend, sein eigenes geopfert hatte, und in einer Rede seines Kommandeurs namenslos bleiben musste, weil der dessen Namen vergessen hatte. Ein Niemand. Das ist, als hätte er nie gelebt. Und nicht zu vergessen ist auch der Hinweis auf das Jüngste Gericht, bei dem, wie man mir sagte, die Toten beim Namen gerufen werden sollen, um hernach ihren ewigen Frieden zu finden. Der langen Rede kurzer Sinn: der Nigger mag ein missachteter Mensch gewesen sein. Ein Niemand war er nicht. Jimmy Wait verwehrt sich selbst gegen die Bezeichnung Nigger. »Du würdest mich nicht Nigger nennen, wäre ich nicht halbtot«. Ein Irrtum. Für solche Zuschreibungen sind immer die anderen zuständig. Der Begriff »Nigger« beschreibt natürlich nicht das Selbstverständnis des Betroffenen. Er beschreibt das, was die anderen in ihm sehen, in dem Fall hier: eben den Nigger. Jimmy Wait war nicht nur der einzige Schwarze an Bord, überhaupt schien der Beruf des Seemanns nicht der bevorzugte Berufswunsch der Schwarzen am Ende des 19. Jahrhunderts gewesen zu sein. Deshalb ist es umso bezeichnender, wenn auf einem Schiff jemand ist, der nicht ist wie alle anderen. Es ist eine Fälschung der Geschichte, und eine Verleugnung des geschehenen Unrechts, wenn wir heute so tun, als seien die Nigger keine Nigger gewesen. Ihre Bezeichnung – als Nigger – ist das Mahnmal unserer Schuld. Denn wir, die Weißen, wir haben sie zu Niggern gemacht. Wir haben sie ausgebeutet, gequält, ermordet. Und: nicht als Menschen anerkannt. Joseph Conrad wusste, warum er seinen Helden den »Nigger von der ›Narcissus‹« nannte. Der Übersetzer dieses Buches, Mirko Bonné, meint es besser zu wissen. Damit überschätzt er nicht nur sich persönlich, sondern auch seine Funktion als Übersetzer. Artikel online seit 16.11.20 |
Joseph Conrad
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