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Für die Möglichkeit der Freiheit

Hannah Arendt und »Die Kunst, politisch zu denken«

Von Jürgen Nielsen-Sikora
 

In dem zu einiger Berühmtheit gelangten Interview mit Günter Gaus (1964) behauptet Hannah Arendt, sie gehöre nicht in den Kreis der Philosophen. Ihr Beruf sei, wenn man so wolle: Politische Theorie. Sie fühle sich keineswegs als Philosophin und glaube nicht, dass sie in den Kreis der Philosophen aufgenommen worden sei.

Als Denkerin des Politischen versteht auch Maike Weißpflugs Buch die 1975 verstorbene Intellektuelle und insistiert darauf, sie nicht einer bestimmten Denk- oder Theorietradition zuzuordnen. Arendt lege keine systematische Theorie der Politik vor und widersetze sich förmlich der »Eingemeindung in akademische Diskurse«. Sie misstraue im Grunde den Theorien und betone die Erfahrung als Hauptgegenstand des Denkens. Ihr eigenes Denken sei eine Einladung, »im Nachdenken über Politik eine andere Haltung einzunehmen.« Für eine Reflexion über die Politik der Gegenwart seien Arendts »Denkübungen« insofern äußerst hilfreich.

Für Arendt ist das Denken jedoch zunächst durch den Rückzug von der Welt der Erscheinungen gekennzeichnet. Der menschliche Geist vergegenwärtige, was die Sinne auf Grund mangelnder Synthesisleistung nicht vergegenwärtigen könnten: Der Geist stellt (sich) die Dinge vor. Diese Vor-Stellung nennt Arendt mit Kant auch »Einbildungskraft«. Es ist das Vermögen der Anschauungen auch ohne die Anwesenheit des Reflexionsobjektes. Damit wird Denken durch Vor-Stellen vorrangig ein Nach-Denken, ein kritisch-reflexiver Akt. Die Vergegenwärtigung des nicht sinnlich Gegebenen kann sich nun entweder auf das Nicht-mehr oder aber auf das Noch-nicht des Seienden beziehen. Im ersten Fall sprechen wir von Erinnerung (des Vergangenen), im zweiten von Antizipation. Alle geistigen Tätigkeiten sind selbstständig, autark und unbedingt, da die geistige Tätigkeit Ermöglichungsgrund alles Seienden ist in dem Sinne, dass nur durch die Vor-Stellung »etwas« ist. Die Haupteigenschaft des Geistes ist seine Unsichtbarkeit; er erscheint nicht in Welt, sondern zeigt sich allenthalben dem denkenden, wollenden und urteilenden Ich selbst, und zwar durch einen Akt der bewussten Reflexion auf die Welt der Erscheinungen.

Zu den Quellen von Arendts eigenem Denken zählt Weißpflug neben den Klassikern der politischen Theorie auch die Literaten: Homer, Proust, Conrad, Melville, Brecht, Kafka und Dostojewski. Broch und Benjamin gehören ebenso in diese Reihe. Die literarischen Lektüren seien für Arendts Denkhaltung konstitutiv und nicht bloß Randbemerkungen in ihren Texten. Arendts politisches Denken öffne mit Hilfe dieser Lektüren den Blick »für die Pluralität im politischen Raum«, die getragen wird von einer »Rebellion gegen alles Große« (Arendt).

Weißpflug widmet sich in insgesamt drei Kapiteln der Denkerin. Im ersten Teil, »Unabhängiges Denken« genannt, geht es insbesondere um den Begriff des »Traditionsbruchs«, der einerseits untrennbar mit dem Völkermord an den europäischen Juden verbunden ist. Ideengeschichtlich geht der Bruch der Tradition andererseits auf Marx, Nietzsche und Kierkegaard zurück, die die alte Ordnung der Metaphysik mit ihren Philosophien erschütterten.

Der zweite Teil behandelt auf sehr eindrucksvolle Weise »Literatur und Politik« und erschließt wesentliche Bezüge Arendts auf die Literatur, darunter Melvilles »Billy Budd, Matrose«. Ihr Freund Hans Jonas hatte mit Bezug auf Hannah Arendts Revolutionsbuch dem Magazin der Frankfurter Allgemeinen 1989 die Quintessenz von Melvilles letztem Roman erläutert: »Dass das Gute in dieser Welt bestraft wird« sei das Thema dieses Romans: Billy Budd, der den hinterlistigen Bootsmann John Claggart erschlägt, wird am Ende gehängt, nachdem er allein des Gesetzes wegen vor ein Militärgericht gestellt worden war. Arendt nutze solche Erzählungen »als Quelle politischer Erkenntnis« und reflektiere »literarische Formen des Schreibens und Sprechens auch theoretisch«, schreibt Weißpflug. Sie verfolge hiermit eine Strategie der Öffnung, die ungewohnte Perspektiven erschließen wolle – so, wie in Romanen auch Perspektivwechsel üblich sind.

Im dritten Teil interpretiert Weißpflug Arendts Denken des Politischen als »welterschließende Kritik« und rekurriert auf aktuelle Problemhorizonte des Sozialen im Zeitalter des »Anthropozän«, in dem der Mensch zum entscheidenden Einflussfaktor auf biologische, geologische und atmosphärische Prozesse wird. Mit dieser Sicht bringt sie Arendt wiederum in die Nähe von Hans Jonas, ohne dies explizit zu erwähnen, auch wenn Teilüberschriften Titel tragen wie »Politik als Sorge um die Erde« oder »Verantwortung und Responsivität«.

Das Buch endet in der Frage nach der Normativität des Politischen, die sich vor allem in der menschlichen Freiheit und der Fähigkeit der Kritik zeige. Resümierend: »Arendts Haltung zieht ihre Kraft aus den Geschichten und der Literatur, die die Vielfalt der Perspektiven aufnimmt und bewahrt. Hannah Arendt macht uns Mut, die Welt sinnlich zu betrachten, als ein Refugium, eine Schatzkammer für das Selbstbewusstsein des Menschen und für die Möglichkeit der Freiheit.«




Artikel online seit 25.02.20
 

Maike Weißpflug
Hannah Arendt
Die Kunst, politisch zu denken

Matthes & Seitz, Berlin
320 Seiten
25,00 €
978-3-95757-721-4

Leseprobe

 

 


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