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Erzählen ist ein gefährliches Spiel

Anna Baars anarchischer, überbordender Roman »Nil«

Von Lothar Struck
 

Ein Mensch sitzt in einem Raum, verdächtig eines nicht näher definierten Delikts. Eine Verhörsituation; ein Wärter, eine Kamerafrau. Ein Fetzen Papier als Indiz (für was?), ein Überbleibsel eines Autodafés? Die Uhr tickt zwar, aber im Leerlauf; die Zeit ist nicht ablesbar. Was ist geschehen?

Nicht einmal das Geschlecht des Ich-Erzählers ist klar. Als Beruf wird "Erfinder" angegeben, ein Erfinder von Fortsetzungsgeschichten, die in Frauenmagazinen erscheinen. Der Chefredakteur besteht nun auf ein Ende. Egal, welches. Die Frist läuft (im Gegensatz zur Uhr). Die Aufgabe stürzt die Erzählerin (ich nehme die weibliche Form) in eine existentielle Schaffenskrise. Dabei verselbständigen sich die Figuren und beginnen ein nahezu physisch empfundenes Eigenleben zu führen. Die eigene Existenz verschwimmt, die Gegenwart verschwindet in der Kindheit. Der Vater ein Tierpfleger (oder gar Zoobesitzer?), die Mutter streng und dominant; die Rollen sind klar verteilt. Ein verlorener, ums Leben gekommener Bruder? Gar ein Mord? Wer weiß. Es gibt Super-8-Filme von der Familie, tonlos, aber trotzdem im Nachhinein erschreckend. Ein Rückblende auf ein Weihnachten, ein Geschenk, der Wunsch, es möge kein Buch sein und es war doch eines und die Reaktion des "verschrobenen" Kindes. Dabei ist es ein Buch mit leeren Blättern, aber selbst hier bestimmt die Mutter, was von wem hineingeschrieben wird.

Bruchstückhafte Erinnerungen wechseln mit Gegenwartsassoziationen. Die Verwandlung(en). Der Verhörraum. Ein Fotoautomat als "Weltfluchtzelle". Ein Verschwinden darin, idealerweise für immer. Mutter und Vater mit ihren Imperativen. Noch bestimmend.

Wundersam geht es zu. Man schnieft Mauerkalk oder Erde oder Zucker – zur "rauschhaften Wachheit". Wie war das mit den Tieren im Zoo, diesem Krokodil (später wird es ausgestopft)? Da war diese kühle Versachlichung der Tiere durch den Vater. Dann wieder Gegenwart, so etwas wie ein Aufbruch. Eine zweite Figur taucht auf, ein Mann, Sobek. Ein "Gammler, Tunichtgut, Wolkenschieber". Er wird zum Aufschreiber der Einsagerin. Diese erzählt ihm von einem Mann, eine Liebesgeschichte. Damit der Mann sie nicht verlässt, wird sie zur Scheherazade, die ihn mit Geschichten bei sich hält, denn in Wahrheit hatte man sich längst entfremdet, "noch ehe wir uns erkannten". Sobek glaubt ihr nicht. Sie streiten. Ein herrlicher Dialog (kursiv gesetzt), ein Spiel, wachrufend Passagen aus Peter Handkes Beckett-Fortschreibung "Bis daß der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts".

"Nil" gönnt dem Leser kaum eine Atempause. Es ist schier unmöglich, eine einigermaßen konzise Zusammenfassung des Inhalts wiederzugeben, ohne der Einfachheit halber gleich sofort das ganze Buch abzuschreiben. Assoziationssplitter, Allusionen, Surrealitäten in buntem, wüsten (eher wüst erscheinenden) Wechselspiel. Es gibt mächtige Bilder, manchmal witzige Bonmots, waghalsige Sprachspiele. Dinge beginnen kurzzeitig zu sprechen. "Irgendwann macht das Lügen nichts mehr…", bilanziert die Erzählerin fast triumphierend. Keine Figur bleibt statisch. Existiert Sobek überhaupt? Vielleicht ist er auch nur eine Figur aus den Fortsetzungsgeschichten? Oder das Spiegelbild der Erzählerin, ein Alter Ego?

Wer ist dieser ominöse Neal? Ist mit "Nil" der Fluss gemeint, der Wunschort der Kindheit oder die Verballhornung von "Neal" oder das englische Wort für Null? Wo spielt das alles? Einmal werden die Koordinaten von Klagenfurt genannt. Ist es in Wirklichkeit nur das ehemalige Kinderzimmer im Elternhaus?

Natürlich gibt es zahlreiche offene wie verstecke literarische Referenzen. Handke wurde schon erwähnt. Die "Mama", "im Gestern geblieben", hat Züge Jelinek-Müttern. Desweiteren werden literarische Größen wie Goethe, Kafka, Beckett oder Musil paraphrasiert, gebeugt, verfremdet, verschoben. Oder wenigstens glaubt man das, weil man irgendeinen Ankerpunkt in diesem wilden Erzählstrom finden möchte.

Wer Anna Baars vorhergehende Romane Die Farbe des Granatapfels und Als ob sie träumend gingen kennt, reibt sich die Augen. Während zumeist Erstlinge experimentell daherkommen und Autoren dann sanft immer mehr ins behutsame Erzählen wechseln, macht es die Kärntnerin mit jugoslawischen Wurzeln umgekehrt. "Nil" ist ein hochkomplexes, anarchisches, bisweilen überbordendes Buch. Bemerkenswert die Ähnlichkeiten mit einer anderen Neuerscheinung dieses Jahres, Thomas Kunsts "Zandschower Klinken", einem bis an die Schmerzgrenze gehenden, redundanten, dadaistischen Monolog einer scheinbar psychisch gestörten Person. Ein Text, der vom Feuilleton (voreilig) als neuer Joyce gefeiert und dessen Unverständlichkeit als Tugend gepriesen wird, vielleicht weil man ihn mittels Lob loswerden möchte. Während Kunsts Prosa des heiter-magischen Irrealismus redundant-manieriert daherkommt, strömt aus Anna Baars "Nil" ein ernsthafter, literarisch surreal inszenierter Versuch einer Wiedereroberung von Welt.

Immer wieder gibt es Passagen von unfassbarer Schönheit. Etwa die Schilderung am Ende von Sobeks langsamer Ankunft zu einem eigentlich nicht geheueren Ort. Ihm begegnen dort eine Fülle von "alten Bekannten, nahen und fernen Verwandten, Freunden, die ich übersehen oder gemieden habe. Immer genügte es mir, sie am Leben zu wissen, die mir doch eigentlich so gut wie gestorben waren." Oder kurz darauf wie ein Lebens-, ja Überlebensmotto: "Verdammt, wer vergessen hat, wohin seine Sehnsucht geht". Auch zur eigenen Profession weiß die "Chronistin der schönen Ermüdung" etwas zu sagen: "Und nennt mir…die Dichter nicht Profis noch Meister! Selbst der größte von ihnen ist bloß ein Zauberlehrling, ruft sich alles herbei, ohne den Spruch zu kennen, es wieder loszuwerden."

Literatur sei "ein gefährliches Spiel", so die Erzählerin (wer immer dies auch ist). Wenn man seine Figuren von der Klippe stürzen lässt, stürzt man dann selber? Aber Achtung: Auch das Sich-Einlassen des Lesers auf dieses Spiel vom Erzählen (welches zu einem Spiel mit Fragen wird), ist nicht minder gefährlich. Es erfordert Konzentration und Mut. Vielleicht eine zweite, dritte Lektüre. Nichts zum Herunterlesen. Kein Spazierweg. Ein Wagnis. Eine Exkursion. Mit ungewissem Ziel. Ein Abenteuer.

Artikel online seit 06.04.21
 

Anna Baar
Nil
Roman
Wallstein Verlag
148 S., geb.,
20,00 €
978-3-8353-3947-7

 

 


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