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Meister(&)Schüler

Die kurze, glückliche Beziehung von Hans Wollschläger & Arno Schmidt /
1 Längerer Bericht von Büchern & Menschen

Von Wolfram Schütte

 

Die Aficionados Arno Schmidts haben lange warten müssen, bis sein Briefwechsel mit dem einzigen literarischen Schüler, den der Solipsist in der Heide je hatte, erschienen ist. Keiner unter seinen ihm näher bekannten Zeitgenossen ist Arno Schmidt wohl je näher gekommen als der 21 Jahre jüngere, hochgebildete, mehrsprachlich versierte Mitarbeiter des Bamberger Karl-May-Verlags (KMV). Keiner teilte aber auch Schmidts wunderliche Leidenschaft für die umstürzlerische Revision der geläufigen Anschauung des ebenso beliebten wie verhassten „Volksschriftstellers“ Karl May. Der hatte mit Winnetou & Old Shatterhand unzähligen Jungens-Generationen das Glück erster Evasionen in eine abenteuerlich-heroische, erschmökerte Phantasiewelt erlaubt  & die Imagination einer (homoerotisch unterfütterten) „Hohen Freundschaft“ über Rassen hinweg erzähl-pathetisch aufgefüttert, sowie eine Ethik moralischer Großzügigkeit ihnen vor staunende Augen gestellt.

Schmidt & Wollschläger aber interessierten sich für das mehrere Tausend Seiten starke erzählerische Vorgelände der anonym erschienenen frühen Kolportage-Romane sowie für die biografischen Grundlagen & die Urfassungen des allegorisch verschlüsselten Spätwerks Karl Mays, dem Schmidt höchsten literarischen Rang zusprach.

Nachdem sie sich 1958 erstmals persönlich in Darmstadt im Zeichen Karl Mays getroffen hatten – Wollschläger war damals 23 & Schmidt 44 Jahre alt -, kam es im Laufe der folgenden Jahre zu mehreren Besuchen Wollschlägers (& seiner Ehefrau Monika) in Bargfeld.

Der freundschaftliche Umgang miteinander währte rund ein Jahrzehnt. Während dieser Zeit wechselten die beiden ca. 375 Briefe, bis Schmidts Repliken immer kürzer wurden & weitere Besuche Wollschlägers in seiner Bargfelder Hieronymus-Klause  nicht mehr erwünscht waren, weil er sich immer entschiedener vor der Welt verschloss & sich in die Typoskryptik seines Spätwerks einsponn. Wollschläger versuchte über Alice Schmidt noch das Ohr ihres Mannes zu erreichen & korrespondierte mit ihr auch noch (mit einigen der schönsten Briefe der Sammlung) während der vier Jahre, die sie den 1979 gestorbenen Arno Schmidt überlebte.

Was nun als der umfänglichste Band aller bisherigen Brief-Editionen der Arno-Schmidt-Stiftung vorliegt, ist ein staunenswertes Stück klassischer Philologie & kritischer Editionspraxis. Der Herausgeber Giesbert Damaschke hat nicht nur den Briefwechsel der beiden Autoren & den Wollschlägers mit Alice Schmidt hinlänglich annotierend entschlüsselt, sondern auch Schmidts Briefwechsel mit dem Karl-May-Verlag & seine vielfältigen werbenden Briefschaften zugunsten des Übersetzers & Romanciers Wollschläger hinzugefügt. Als weitere Ergänzungen des Gesamtkomplexes Wollschläger/Schmidt/Karl-May-Verlag wurden die wechselseitigen privaten Protokolle aller beteiligten Personen über ihre Treffen,   (Telefon-) Gespräche & deren Themen aufgenommen, ganz zu schweigen u.a. von einem umfänglichen Register. Kurzum es liegt uns hiermit ein grandioses Stück jenes „Ahnen-& Enkeldienstes“ vor, von dem Schmidt in anderem Zusammenhang in der „Schule der Atheisten“ gesprochen hatte.

Gewiss gibt es diese zeit-& finanzaufwendig erstellte Edition nur, weil der Mäzen Jan Philipp Reemtsma & Alice Schmidt die Arno-Schmidt- Stiftung gegründet haben. Ganz im Sinne des Namensgebers (wie man diesen Briefen jetzt entnimmt) hält die Stiftung auch durch die kontinuierliche postume Edition von Tagebüchern Alices & Briefwechseln Arnos den vor rund 40 (!) Jahren gestorbenen Schmidt (vornehmlich gewiss für seine nachgewachsenen Kenner & Liebhaber) im literarischen Gespräch – wie prekär die derzeitige Situation für die Buch- & Literaturkritik-Branche auch sein mag.

„Was wird er damit machen?“- nicht Bulwer oder Schmidt, der dessen gleichnamigen Großroman ja übersetzt hat, sondern der heutige Leser: mit diesem befremdlich-fremdartigen Zeugnis eines literarischen Briefwechsels aus der Mitte des 20.Jahrhunderts – als Arno Schmidt hochgesinnt mutmaßte: „Es ist doch tatsächlich so, daß die große Literatur allmählich den Platz der Religion in der Welt einzunehmen anfängt“! („Was für ein Illtum“, kann man dazu heute nur mit Ernst Jandl sagen!)

Der verbriefte Lebens-Roman zweier Karl May-Liebhaber

Man könnte, denke ich mir, alle diese Dokumente lesen wie einen historischen Briefroman aus einer fernen Vergangenheit, die mit dem romantischen 19.Jahrhundert in vielerlei Hinsicht mehr zu tun hat, als mit unserer „nachgutenbergischen“ Gegenwart. Einer bundesdeutschen Vergangenheit, in der zwei „arme Kirchenmäuse“ wie Schmidt & Wollschläger mit Übersetzungen einerseits & Abendstudiosendungen andererseits sich müh-, streb- & arbeitsam finanziell über Wasser hielten; einer Zeit, in der die Kommunikation nur über den Brief- & den Telefonverkehr (zum verbilligten „Mondscheintarif“ nach 22 Uhr) & gelegentlichen vielstündigen Treffen für beide möglich war; einer Zeit, in der man Tipps für billige Antiquariatspreise selten angebotener Karl-May-Erstausgaben oder Lexika wie z.B. der „Encyclopedia Britannica“ (Schmidt: „Das Buch der Bücher“) lebhaft austauschte; einer Zeit, in der man die Fernleihe westdeutscher Bibliotheken weidlich nutzte, um  vergriffene Primärliteratur sich lesend zu erschließen bzw. „durchzuarbeiten“ & in der (wie im Mittelalter!) „Kopieren“ schlichtweg noch Abschreiben bedeutete. Erste Fotokopien waren, wenn überhaupt möglich, teuer.

Dieser (Real-)Roman – dessen Helden von Ferne an Flauberts „Bouvard et Pécuchet“ erinnern -, handelt von zwei eigentümlichen Männern, die durch ihre Altersdifferenz wie Vater & Sohn erscheinen. Es verbindet sie die gemeinsame Leidenschaft nicht nur für so etwas heute Ephemeres wie die Literatur & deren adäquate Übersetzbarkeit (z.B. E.A.Poe, Joyce: Finnegans Wake), sondern speziell die Inklination zu einem älteren deutschen Bestsellerautor namens Karl May. Sein umfangreiches literarisches Oeuvre, das hauptsächlich der  „Trivialliteratur“ zugerechnet wird, ist in die raffgierigen Hände eines ebenso ignoranten wie skrupellosen Verlegers gefallen, dessen Vorgänger schon früher das Werk freihändig gekürzt & zeitgemäß umfrisiert hatten, damit es massenhafter konsumierbar bliebe. Dabei hat die literarische Welt, speziell die dumme deutsche Kritik, noch nicht mitbekommen, dass Mays weniger gelesenes Spätwerk zwar allegorisch & autobiographisch verschlüsselt, aber von höchster literarischer Dignität ist.

Das hat bisher nur der am Rande des Existenzminimums lebende, selbst noch kaum öffentlich wahrgenommene, gar anerkannte Dichter Arno Schmidt als einziger erkannt & lauthals (einmal in der FAZ) bekannt gemacht. Schmidt hatte ja schon einen anderen literarturhistorisch Vergessenen, dem wegen seiner bizarren „Ritterromane“ seinerzeit bekannten deutschen Romantiker Friedrich de la Motte-Fouqué – von dem einzig die schmale Erzählung „Undine“ noch bekannt ist -, eine höchst detaillierte Biographie gewidmet. Aufgrund jahrelanger archivarischer & lokaler Recherchen (in Kirchenbüchern) hatte Schmidt die wechselnde Lebensörtlichkeiten & menschlich-kollegialen Beziehungen des Romantikers positivistisch auf mehrhundert Seiten versammelt – ohne dass er damit auch nur das geringste Aufsehen erregt hätte. Noch nicht einmal als Exzentrizität war diese kuriose Verbindung zweier literarischer Nobodys registriert worden.

Das sollte sich mit Arno Schmidts mehrfachen Zugriff auf Karl May ändern. Zwar feierte er ihn als unentdeckten „Großmystiker“, aber wertete dessen beliebteste literarische Wildwest-Kreationen ab. Der von Radebeul mit DDR-Billigung nach Bamberg gezogene Karl-May-Verlag, der einzig mit dessen Werken einen kontinuierlich sprudelnden großen Gewinn im deutschsprachigen Westen machte, glaubte in Mays „verschrobenen“ Liebhaber Schmidt einen veritablen Geschäfts-Schädling am Werk erkannt zu haben.

Die unverhoffte Briefbekanntschaft mit dem „intelligenten, voll unfertiger Gedanken und begreiflicherweise derb aufschneidenden“ Angestellten des Karl-May-Verlags – Hans Wollschläger, wie ihn Schmidt wahrnahm -, der aber seine häretischen Ansichten zu May offensichtlich teilte & den Älteren bewunderte, eröffnete Arno Schmidt ungeahnte Zugangsmöglichkeiten zum verschlossenen ungehobenen Schatz seiner literaturhistorischen Begierden.

Nach Strich & Faden

Denn der gegenüber seinem zweifelhaften Arbeitgeber höchst skeptische Wollschläger saß an der Quelle, kannte im Detail  die historischen „Verunreinigungen“ des Verlags an Mays Werken & hatte Zugang zu bislang ungedrucktem autobiographischem & literarischem Material. Und wo er keinen Zugriff hatte, verschaffte er ihn sich auf kleinkriminelle Art & Weise: z.B. durch einen Schlüssel-Diebstahl, der beinahe aufgeflogen wäre (eine Hitchcock-spannend von ihm erzählte Episode), durch unerlaubtes Kopieren, Manuskript-Entwendung & immer wieder meineidiges Leugnen gegenüber seinem gleichwohl immer misstrauischer werdenden & agierenden Arbeitgeber. Im Auftrag & auf Wunsch seines neidlos anerkannten Meisters & Mentors („Es war das Glück meines Lebens, daß er mich als Schüler angenommen hat“) log & betrog Wollschläger den Verlag, der von seiner sympathetischen Beziehung zu dem gefürchteten, gehassten & unverstandenen hochsinnigen May-Liebhaber Schmidt wusste, gewissermaßen nach Strich & Faden.

Jedoch nie zu seinem oder Schmidts (materiellem) Gewinn, sondern nur „ad majorem mays gloriam“. Die beiden fühlten sich bei der jahrelangen Anzapferei & Abschöpfung des Verlags & seiner verborgenen „Schätze“, die Wollschläger zu ebenso riskanten wie virtuosen Täuschungsmanövern zwangen (& seine dort als Sekretärin tätige Ehefrau involvierten), als selbstlose Retter verheimlichten, hochwichtigen Literaturguts, das vom KMVerlag zurückgehalten & womöglich spurlos vernichtet werden konnte, bzw. würde. Einmal versichert & beruhigte sich der jungen Spion damit, dass beide „einsame Kreuzritter auf undankbarem Posten“ seien, was schon recht kolportagehaft abenteuerlich klingt. Später, räsoniert der Alte zur „Kaff“-Zeit in dessen Phonetismus: „Wir gans=WENIGEN treiben, unter fingerschnipsender Opferung unseres bißchens Fusis, Mikro=Schächte ins CENTRE DE LA TERREUR; gehandicapt von jedem Arsch=Loch, das reich genug ist, sich ein BERTELSMANN=Lexikon zu leisten“: - what ever mit dieser Invektive gemeint sein mag.

Diese konspirative Tätigkeit des Literatur-Kundschafters Wollschläger im feindlichen Ausland des Karl-May-Verlags (& seinen Geheimkammern & -Verliesen)& die brieflichen Berichte, Diskussionen & Absprachen mit seinem Führungsoffizier Schmidt erinnern einen beim heutigen Lesen sowohl an die komischen Seiten der Stasiaktivitäten samt den moralistischen Selbstrechtfertigungen ihrer „Kundschafter“ in der BRD, als auch an ein juveniles Indianerspiel der beiden „Rächer“ des unter die räuberischen Kiowas (KM-Verleger) gefallenen & gefesselten Old Shatterhand-May. Während Wollschläger sich buchstäblich im Schutze der Nacht anschleicht & die Fesseln löst, glaubt Schmidt die Existenz der ihm zugetragenen Dokumente auf jeden Fall allein schon dadurch zu retten, indem er Wortteile daraus unerkennbar im „Kaff“ deponiert, sprich versteckt: als gerettete Beweisstücke eines womöglich vernichteten Dokuments durch die befürchteten Machenschaften der Bamberger Bösewichter, die Schmidts appellativen Wunsch nach einer Kritischen Werk-Ausgabe wie nach einer Briefedition Mays verweigern (- die der Biographie süchtige Schmidt auf Sehnsüchtigste wünscht)

Die Recherchen- & Rettungs-Groteske, welche die beiden Karl-May-Fans über mehrere Jahre hin brieflich spintisierend sich zum Vergnügen & dem KMV zum Ärger entwickelt haben, wird erst recht tragikomisch, weil sie gewissermaßen zu (gar) nichts geführt hat.

Allerdings hat Karl May in beider Werk breite Spuren hinterlassen: Wollschläger hat durch Schmidts selbstloses Werben in den Rororomonografien als erstes eigenes Werk eine May-Biografie publiziert & Schmidt in  „Sitara“ seine umfangreiche Aufsehen erregende „Studie über Wesen, Werk und Wirkung Karl Mays“ vorgelegt, mit dem er endlich öffentlich über die schmale Zahl der Kenner & Liebhaber seines erzählerischen Oeuvres hinaus bekannt wurde.

Keinen Erfolg hatte er aber mit seinem unermüdlichen brieflichen Antichambrieren bei bundesdeutschen Verlagen für Wollschlägers komplexen Roman „Herzgewächse“, zu dem er den jungen Mann angeregt & (wie ein guter Lektor) auch immer wieder angetrieben hat – nicht zuletzt einschüchternd Beispiel gebend durch seine eigene rastlose schriftstellerische Tätigkeit.

Das gewachsene Vertrauensverhältnis

Währenddessen machte sich Wollschläger im Schatten & dank der Förderung des unter Kennern in Funkhäusern & Verlagen geschätzten Englisch-Übersetzers Schmidt einen Namen – nicht ohne immer wieder sich von dem Alleswisser Schmidt in heiklen Übersetzerfragen Rat & Hilfe zu erbitten. Schmidt offenbart sich seinem „Schüler“ gegenüber als „großer und guter Vater“(Wollschläger), der selbstlos in jeder Hinsicht sich um ihn sorgt. Der multitalentierte junge Mann hat Musik studiert, ist Sekretär der Gustav-Mahler-Gesellschaft & arbeitet mit Theodor W. Adorno an dessen öffentlicher Durchsetzung; als Organist (!) spielter er in Hilversum und andernorts & dient dem unmusikalischen Schmidt den Klavierauszug einer Undinen-Oper vergeblich zur Lektüre an. Durch die mehrfachen Bargfelder Treffen der beiden Paare werden sie so vertraut miteinander, dass Wollschläger den Schmidts das Malheur einer unerwünschten Schwangerschaft gesteht & sogar nach der Verzweiflung angesichts erfolgloser „Hausrezepte“ von der professionellen Abtreibung in Dänemark berichtet. Der illegale strafbare Eingriff hat so gut wie alle Einkünfte des Paares gekostet. Jahre später erzählt Wollschläger sowohl von der Geburt eines behinderten Kindes als auch vom „Scheitern“ seiner Ehe – was seine Witwe heute in den Anmerkungen souverän kommentiert.

Wenn sie sich nicht mit diffizilen Fragen der niederen oder höheren, jedenfalls esoterischen Karl-May-Philologie austauschen, erleben wir, wie Wollschläger langsam gewissermaßen nestflügge wird. Der alte erfahrene Autor kann ihm beibringen, wie der Nobody am besten ins Übersetzergeschäft gelangt, wie er mit Verlagen, Verlegern oder Lektoren (auftrumpfend) verhandelt & pokert – also wie er lernt, als Selbstunternehmer sich auf dem deutschen Übersetzungs-Markt zu etablieren & immer besser zu behaupten. Der Höhepunkt ist die Übersetzung des Joyceschen „Ulysses“, die er Unseld erst zusagt, nachdem Schmidt abgesagt hatte.

Ein besonders subtiles Kapitel dieses Briefwechsels ist das Verhältnis der beiden Männer zueinander. Von  Anfang an wählt der junge Wollschläger einen Ton, der zwar dem Älteren seine Überlegenheit attestiert, aber nicht zu devot ist. Wenn er Widerspruch, Abweichung formuliert -  & das tut er immer häufiger -, dann sieht er darauf, sie so zu formulieren, dass der zweifellos „Autoritäre Charakter“ des „Kriegsteilnehmers“ sich nicht davon angegriffen oder in Frage gestellt fühlen kann. So werden immer drohende „Verstimmungen“ Arno oder auch Alice (!) Schmidts vermieden.

Mit Amüsement sieht man den ja durchaus selbstbewussten, kenntnisreichen, neugierigen, aber auch lernwilligen Musterschüler bei der semantischen Kür in seinen rhetorisch raffinierten Briefen. Des Öfteren greift er Schmidtsche Überlegungen auf, spielt sie an selbstgewählten Beispielen durch oder präzisiert, bzw. systematisiert sie, so dass für einen Moment es erscheint, als beginne damit ein kollegialer Austausch – bis man sieht, dass Schmidt darauf gar nicht reagiert, geschweige denn eingeht..

Das ist schon der Fall, als ihm Schmidt seine psychoanalytischen Spekulationen über semantische Kreuzungen bei der Fiktions-Bildung von Karl Mays Einbildungskraft mitteilt. Wollschläger ergreift & hantiert sofort mit der methodischen Fallenstellerei, geht auf Pirsch & apportiert seine Beutestücke dem Meister brieflich, ja: bietet sie ihm zur Verwendung an.

Besonders elektrisiert ist er von der phonetischen Schreibweise im „Kaff“. Er schwärmt Schmidt vor, wie man das gleiche Wort doch je nach seinem Umfeld phonetisch unterschiedlich schreiben könne, um es assoziativ different aufzuladen - was ästhetisch  über die von Schmidt favorisierte sexuelle Konnotation hinausgeht.

Die Bamberger Anekdote

Eine merkwürdige zeitliche Koinzidenz kommt durch den Briefwechsel jetzt auch ans Licht: die allusionsreichsten Virtuosenstücke  „Caliban über Setebos“ & „Herzgewächse“, die sich vielstimmig am Orpheus-, bzw. Faustmythos entlanghangeln, sind offenbar zur gleichen Zeit, gewissermaßen auf Augenhöhe, entstanden. Ob auch in Blickkontakt? Jedenfalls ist Schmidts entschiedenes, vielfaches Eintreten für Wollschlägers Roman(fragment) auch unter diesem Gesichtspunkt besonders verständlich.

Unter den zahlreichen zeithistorischen Entdeckungen, die  jüngere Leser diesem romanhaften Briefwechsel (kopfschüttelnd?) ablesen könnten, gehört eine besonders schöne Anekdote, die Wollschläger nach Bargfeld, wo man schon im Besitz eines Fernsehapparates ist, berichtet: Wie da nachts im kalten Bamberg die Mitglieder des KMVs sich vor den Schaufensterscheiben eines Elektroladen unabgesprochen, aber neugierig versammeln, um auf dem Bildschirm eines dort platzierten TV-Geräts zu sehen & zu hören, was der verhasst-gefürchtete Arno Schmidt in ttt über Karl May wieder zu sagen hat.

Von einer anderen Koinzidenz berichtet Schmidt dem amüsierten Wollschläger: In der pfälzischen Druckerei, in der sein „Sitara“ gesetzt wurde, bemerkte man im letzten Augenblick, worum es sich bei dem Buch des Karlsruher Stahlberg-Verlages handelte & dass es mit dem dort gelegentlich druckenden Bamberger KMV womöglich “Ärger“ über das erkennbar „skandalöse“ Buch geben könnte. So wurde der komplette Satz von „Sitara“ zu einer anderen Druckerei geschafft. Auch eine Kuriosität zu Wesen, Werk & Nachwirkung Karl Mays.

Eine besonders witzige Fehldeutung Schmidts ist die Annahme,  hinter dem Rezensenten Henning Rischbieter in einer Jazzzeitschrift verberge sich sein Famulus Wollschläger, weil der junge Rischbieter über die „Delikatesse“ von Schmidts Stanislaus-Joyce-Übersetzung sein Entzücken geäußert hatte.

Aber primär erzählen die Briefschaften der beiden von ihren parallelen oder sogar gemeinsamen Übersetzungstätigkeiten. Wobei Schmidt lakonisch-stolz, bzw. einschüchternd immer wieder nur den Vollzug dem Jünger(en) meldet & ihm seine Opera zuschickt, während Wollschläger sich eigentlich nur mit dem allerdings folgenreich-nützlichen Geschenk einer japanischen Spiegelreflexkamera revanchieren kann, die den sehr davon animierten Heidewanderer im Lauf der Zeit zu über 2000 Dias motiviert hat.

Einmal mosert Schmidt über die Minderqualität der von ihm übertragenen, zumeist frühen Erzählungen Faulkners, die ungefähr so typisch für dessen Oeuvre sind wie die „Stürenburg Geschichten“ für das Werk Schmidts Man hat bei seinem abfälligen Urteil über den Nobelpreisträger den Eindruck, dass er offenbar nichts sonst von dem Autor des „The Sound and the Fury“ oder „As I lay dying" gelesen hatte – wie überhaupt er wohl detaillierter nur die deutsche & englische Literatur des 19. Jahrhunderts kannte & von der Weltliteratur seiner Zeitgenossen des 20. Jahrhunderts außer Döblin, Jahnn & Joyce wohl kaum etwas sonst. Zumindest findet sich außer den Autoren, die er übersetzt hat, keine Andeutung solcher Wahrnehmung. Zum Beispiel zu Flaubert, Tolstoi oder Hamsun, Conrad, Woolf: kein Wort. Dagegen solche  Erkund(ig)ungen zur May-Biographie: „Frau Emma ist doch(…)im Irrenhaus gestorben? Existiert da evtl. der ärztliche Befund noch?“ Und ernstliche Nachfragen & Themenempfehlungen an Wollschläger, sich mit trivialen deutschen Vielschreibern wie Retcliff oder Robert Kraft zu beschäftigen

Der Mentor pfeift den radikalisierten Transformator zurück

Wollschläger aber schimpft über den Baldwin, den er für Rowohlt übersetzt, gleich mehrfach, wie ein Rohrspatz („schlichter Kitsch von geradezu nobelpreiswürdigem Format“), wohingegen Schmidt das übersetzte Buch dann milder betrachtet. Während ihm Schmidt beim schwierigen Übersetzen des Gossen-& Nuttenjargons Robert Coovers wertvolle Hilfen & Hinweise gibt, muß der Mentor eine „Große Grundsatzerklärung“ verfassen & zirkulieren lassen, um das ganze Projekt einer vollständigen E.A.Poe Übertragung nicht zu gefährden, weil der dazu gezogene Wollschläger die beiden anderen Beteiligten durch seine Übersetzungen empört hatte.

Offenbar angeregt durch Schmidts erste Cooper-Übertragung hatte er dessen vorsichtigen deutschsprachlichen Historismus für Poe radikalisiert & den Amerikaner in ein ihm zeitadäquates Deutsch übertragen. Als Schmidt den Streit durch einen salomonischen Mittelweg der Schlichtung zuführte, ahnte keiner von den von ihm zur ordentlichen Arbeit gerufenen Streithähnen, dass dem ungeduldigen Meister-Übersetzer bereits das Projekt „Zettels Traum“ vorschwebte, in dem vor allem Poes Oeuvre in einer der drei Kolumnen zitatreich spuken würde & vor allem als Referenz-Beleg fungieren sollte, um Arno Schmidts späte „Entdeckung“ -  die Etym-Theorie samt alle anderen psychopathologisch-humoristischen Karnevalismen der literarischen Einbildungskraft - zu stützen.

Wollschläger, der über den ihm zugefallenen Teil des Poe-Oeuvres klagte, dekretierte noch strenger als Schmidt, dass von dem „sprachlichen Quatsch“ & der „Pfuscherei“ des Amerikaners höchstens 4% große Literatur, 20 % zweitrangige und der Rest von 76 % schlichtweg „Mist“ sei. Obwohl er dieser Quantifizierung nicht generell widersprochen haben dürfte, zeigte der erfahrene literarische Kleinunternehmer Schmidt mitfühlendes Verständnis für den hohen Anteil an minderwertiger Ware. Sie falle bei jedem Künstler an, der sich mit solchen schnell & unaufwendig produzierten „Brotarbeiten“ seinen existenziellen Lebensunterhalt zu sichern suche.

Er sprach aus eigener Erfahrung & hatte dem Newcomer schon früh geraten, die Qualität solcher „Brotarbeiten“ von deren Bezahlung abhängig zu machen. So sehr er sich hier mit der bürgerlichen Ökonomie im Einklang befand, so sehr wich Schmidt von ihr ab, wenn es um die „Künstlerische  Qualität“ ging. Je besser etwas künstlerisch sei, desto geringer seine Nachfrage, vulgo: Verständnis & „Anerkennung“. Damit sich junge Autor mit seinen „Herzgewächsen“ nur nichts einbilde!

Auch widersprach Schmidt dem harschen Negativ-Urteil Wollschlägers über Jacques Offenbach, den Schmidt in einer Rundfrage als seinen Lieblingskomponisten benannt & damit das höhnische Gelächter des „Musikfachmanns“ geerntet hatte. Dieses eine Mal war der Ältere während der ganzen Beziehung der beiden in die Defensive geraten. Abwiegelnd (oder gar lügend?) behauptete er nun gegenüber dem Musik-„Fachmann“, Offenbach nur während der Arbeit zu goutieren; außerdem belehrte er den musikalischen „Adorniten“, man dürfe Offenbachse Operetten nicht von ihrem  „Text & Inhalt abtrennen“, denn es handele sich bei ihnen „um eine der geschicktesten & perfidesten Arten >Opposition zu machen<“. Das sei ihm „besonders sympathisch“.

Aber das Beste, worauf sich Meister & Schüler einigten, besteht wohl darin, dass Schmidt kategorisch sich kritische Reflexionen seiner Werke von dem jungen Briefpartner verbat & Wollschläger, der es einmal, ungnädig aufgenommen, sich erlaubt hatte & ein andermal über die grundsätzlich prekäre Situation solcher Äußerungen brieflich nachgedacht hatte, sich künftig daran hielt. Das tat dem Verhältnis & seiner Dauer gut. Wobei das Argument Schmidts, wonach das Gemachte, wie auch immer es gelungen sei, ihn nicht mehr interessiere, für jedem schöpferisch tätigen Menschen nachempfindbar sein dürfte, mithin sein Schweigegebot halbwegs verständlich erscheinen lassen könnte.

Die nachdenkliche Lektüre dieses real gelebten Brief-Romans, aus dem der Solipsist in der Heide am  Ende derart in seiner selbstverfertigten Literatur verschwand, wie in der schönen chinesischen Legende der Maler in seinem Bild, hinterlässt bei einem doch manche Ambivalenzen im Hinblick auf  die Motivationen & Intentionen Schmidts bei den biographistischen Belustigungen unter seiner Hirnschale (Fouqué, May.Joyce,Poe).

Was wird zum Verständnis, speziell zur Erkenntnis der Ästhetik in literarischen Werken wirklich gewonnen, bzw. „entdeckt“, wenn man postum möglichst exakt über die Lebensumstände ihrer Autoren recherchiert hat oder informiert ist? Ist das künstlerische Werk qualitativ bestimmbar: als Emanation der Biographie, mehr noch (wie im Fall May oder Poe nach Arno Schmidt) ihrer jeweiligen, spekulativ eruierten psychischen Verfassung/biologischen Veranlagung?

Und hat die erträumte Ersetzung der Religion durch die Literatur (s.o.) nicht doch auch einige prekäre Folgen? Zum einen den „bonzenhaften“ unbedingten Dauerdienst eines Adepten am „Heiligen Text“, dem fraglos zu verrichtenden Großen Werk? Was Schmidts „fanatisches“ Arbeitsethos, seine spätere Weltabwendung & seine quasi mönchische Lebensweise bis zu den symbolischen letzten Worten des Julia“-Fragments gewissermaßen verständlich erscheinen ließe: gewissermaßen nach der Bargfelder Klosterregel „ora per labora litterae?

Zum anderen einerseits (aufklärerisch) die denunziatorische Hinterfragung des literarischen Objekts durch verschwörungstheoretische Mutmaßungen über seinen Schöpfer & dessen unbewussten Produktionsprozess, oder andererseits (mythologisch) durch die Entwicklung einer quasitheologischen Scholastik als Modus der Interpretation?

Artikel online seit 25.02.19
 

Arno Schmidt/Hans Wollschläger
Briefwechsel
Herausgegeben von Giesbert Damaschke
Suhrkamp-Verlag, Berlin 2018,
1034 Seiten
68,00 €

Leseprobe

 


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