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Das Böse neu denken |
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Die Frage nach gut und böse gehört zu den grundlegenden Fragen des Menschen. Das Nachdenken über das Böse geht der Natur des Menschen und seiner persönlichen Freiheit auf den Grund. Hierbei kommen sowohl moralische als auch anthropologische, politische, ästhetische, historische und theologische Aspekte zur Sprache. Auch im zwischenmenschlichen Alltag begegnen uns immer wieder Facetten des Bösen. Wie viel Böses steckt in uns? Seit ein paar Semestern biete
ich ein universitäres Seminar mit dem Titel »Das Böse« an. Neben philosophischen
Texten von Immanuel Kant bis Hannah Arendt stehen Fallstudien wie die des
Kindermörders Jürgen Bartsch, Texte zur »Schwarzen Pädagogik« oder
wissenschaftliche Experimente wie das Milgram-Experiment im Fokus. Das studentische Interesse an dem Seminar ist groß, nicht zuletzt, weil »das Böse« seit jeher gleichermaßen Angst und Faszination auslöst. Es zieht uns in seinen Bann, schockiert und verstört. Das Böse scheint Teil des Menschen und seiner Handlungen zu sein. Aber was genau ist eigentlich »das Böse«? Und wer entscheidet darüber, was böse ist und was nicht? Von biblischen Mythen bis in
die Gegenwart internationaler Politik, von Hesiod bis George Bataille, vom
Klientelkönig Herodes bis zum Diktator Hitler, von der Inquisition bis in die
Konzentrationslager, von Lissabon über Auschwitz bis Ground Zero, vom Belzebub
bis Mephisto, von Hiob bis Darth Vader und Lord Voldemort reichen – um nur ein
paar Beispiele zu geben – die Auseinandersetzungen mit der Frage, was das Böse
ist und warum es so anziehend auf uns wirkt. Vielleicht existiert das Böse nur in unseren Ängsten ... Diesen Fragen geht auch Julia Shaw, bekannt durch ihr Buch »Das trügerische Gedächtnis«, nach, und entwickelt eine »Psychologie unserer Abgründe«, die spannender als jeder Kriminalroman geschrieben ist, und aus der man unendlich viel lernen kann – auch nach der Lektüre ganzer Bibliotheken über das Böse. Julia Shaw geht es insbesondere darum, dass wir über die Lektüre ihres Buches unsere eigenen Gedanken und Schwächen besser verstehen. Deshalb geht sie vor allem auf das alltägliche Böse ein, etwa auf Gewalt- und Mordphantasien, die wir alle kennen. Einen Schwerpunkt bilden sexuelle Devianzen wie Pädophilie, Zoophilie und Koprophagie, aber auch psychische Erkrankungen und Machtmissbrauch, Psychopathologie, Serienmorde und Pornografie, Mobbing, Aggressionen, Sexismus und moralische Blindheit. Schließlich erklärt sie sehr anschaulich psychologische Fachtermini wie kognitive Dissonanz, Deindividuation und Dehumanisierung anhand vieler Beispiele. Darunter findet sich auch ein
so wundersames Moment wie das Sammeln von so genannten »Murderabilia«, also
Devotionalien von Mördern, die über das Internet gekauft bzw. ersteigert werden
können. Eines der Gedankenexperimente lautet: »Wenn Sie in der Zeit zurückgehen könnten, würden Sie Hitler als Baby töten?« Und angenommen, Sie könnten das Leben einer Person beenden, indem Sie lediglich an diesen Mord denken, ohne dass jemals herauskäme, dass Sie die Person durch bloßen Wunsch getötet hätten: Würden Sie diese Gabe nutzen? Was sagt die Antwort über uns selbst aus? Plädoyer für Menschlichkeit Die Kriminalpsychologin Shaw endet mit einem Plädoyer für (mehr) Menschlichkeit, für die Übernahme von Verantwortung und den Willen zu verstehen. Nicht zuletzt betrifft dieses Verstehenwollen das Böse selbst: »Ich möchte Sie dazu herausfordern, durchs Leben zu gehen, ohne Taten oder Menschen als böse zu bezeichnen. Versuchen Sie stattdessen, Gräueltaten und Menschen, die sie begehen, genauer unter die Lupe zu nehmen. Untersuchen Sie alles sorgfältig, wie ein Detektiv ... Wir erschaffen das Böse, wenn wir etwas als solches etikettieren: Das Böse existiert als Wort, als subjektives Konzept. Doch ich bin fest davon überzeugt, dass es keinen Menschen, keine Gruppe, kein Verhalten, keine Sache gibt, die objektiv böse ist. Vielleicht existiert das Böse wirklich nur in unseren Ängsten ... Es ist an der Zeit, das Böse neu zu denken.« Shaws Buch ist nicht minder faszinierend wie ihr Thema: Ein psychologischer Thriller, der die ein oder andere Therapiestunde ersetzt, ein Blick in unsere Abgründe, der so weit reicht, dass einem schwindelig werden kann. Ein großartig geschriebenes, exzellent lektoriertes, gleichwohl verstörendes und neue Horizonte eröffnendes Buch. Ich bin absolut begeistert. Diese Begeisterung war nicht zuletzt daran abzulesen, dass ich für zwei Tage meine hochspannende Netflix-Serie völlig vergessen hatte und nach der Lektüre eine Viertelstunde rastlos durchs Zimmer gelaufen bin ... In ein paar Tagen beginnt
übrigens das neue Semester. Die »Psychologie unserer Abgründe« wird dann ganz
sicher im Zentrum meines Seminars über das Böse stehen. |
Julia Shaw
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