Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 

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Gesinnungsästhetik, Klassenliebe und Meinungspfosten

Ungeordnete Bemerkungen zu Anke Stellings »Schäfchen im Trockenen«

Von Gregor Keuschnig

Es gibt sie noch, die Literaturkritik, die es schafft, Lust auf die Lektüre eines Buches zu erzeugen. Überraschend ist vielleicht, dass ein Verriss war, der mich auf Anke Stellings "Schäfchen im Trockenen" neugierig machte. Die lobenden Worte, die ich in den Teasern von den üblichen Verdächtigen las und auch der Preis der Leipziger Buchmesse genügten hierfür nicht. Es bedurfte der furiosen Philippika von Iris Radisch (leider jetzt hinter einer Paywall). Vor allem, weil hier von "Gesinnungsästhetik" die Rede ist, vom "vulgärsoziologischen Grund", der diese Prosa mit dem "wichtigste[n] Literaturpreis des Frühjahrs" bedenkt.

Der Vorwurf der Gesinnungsästhetik fällt immer dann, wenn ein Buch nicht aufgrund seiner literarischen Vorzüge gelobt und ausgezeichnet zu werden scheint, sondern der politische, gesellschaftliche Deutungsrahmen des Inhalts dominiert. Gesinnungsästhetik fungiert dabei vor allem als Urteil über die Rezeption bzw. die Kritik. Es handelt sich also im weitesten Sinn um Medienkritik. Selten, dass einem Autor gesinnungsästhetisches Schreiben dahingehend unterstellt wird, dass er einen politischen und/oder gesellschaftlichen Mainstream bewusst bedient.

Dabei wird übersehen, dass nahezu jedes Urteil über ein literarisches Werk gewissen gesinnungsästhetischen Strömungen unterliegt. So ist der kleine Bruder der Gesinnungsästhetik der Zeitgeist. Der Unterschied zwischen Zeitgeist und Gesinnungsästhetik besteht darin, ob die Auszeichnenden, die Lobenden um die Priorisierung ihrer Urteilskriterien wissen. Zeitgeist geschieht, Gesinnungsästhetik ist bewusst. Ausgezeichnet wird dann etwas gerade wegen seiner außerliterarischen Bezüge, beispielsweise weil in einem Roman eine bestimmte politische Richtung positiv dargestellt wird oder weil es eine Frau geschrieben hat oder ein Mann oder ein Einheimischer oder eine Person mit Migrationsvorder- oder –hintergrund oder was auch immer als relevant herangezogen wird.

Zuletzt kursierte der Vorwurf der Gesinnungsästhetik in großem Stil in den Feuilletons der 1990er Jahre als es um die nachträgliche Bewertung der Dichtungen aus der DDR ging. Der Auslöser war Christa Wolfs Novelle "Was bleibt". In der sich immer mehr vom Text abkoppelnden Diskussion ging es am Ende darum, ob beispielsweise Wolfs Werk aufgrund ihres Status als Autorin der DDR zu positiv rezipiert worden sei. Man hätte hieraus eine interessante Diskussion um Schriftsteller und deren politische Kompetenz führen können – aber wie so häufig entglitt das Thema. Bezeichnend, dass Wolf vor allem von Günter Grass in Schutz genommen wurde. Man hätte durchaus auch Grass, der halb freiwillig halb erzwungen zum "Gewissen der Nation" stilisiert wurde, als gesinnungsästhetisch bewerteten Autor heranziehen können, aber aus irgendwelchen Gründen unterzog man nur die DDR-Autoren der Kritik.

Radisch verwendet die Bezeichnung der "populären Gesinnungsästhetik". Damit kritisiert das, was man grob vereinfachend als gängige Preis- und Stipendiatenprosa bezeichnen könnte. Es ist eine Prosa, die das richtige schreibt und denkt, sich dem Mainstream angepasst hat. Der Vorwurf der Gesinnungsästhetik ist daher auch als Kritik an den literarischen Urteilen generell zu verstehen.

Das Verblüffende nach der Lektüre von Stellings Buch ist, dass man Radisch in fast allen Punkten zustimmen muss. Der Inhalt des Romans ist schnell erzählt. Es ist ein Brief der Mittvierzigerin Resi an die 14jährige Tochter Bea. Und es ist eine gross-inszenierte Wutrede der  sich politisch links nennenden Mutter von vier Kindern, geboren und aufgewachsen in Stuttgart, jetzt lebend in Berlin, Noch-Prenzlauer-Berg. Sie ist Schriftstellerin, der Mann, Sven, ein kiffender Maler, ausgestattet mit dem, was man inzwischen "Haltung" nennt. Die Freunde nennt er denn auch "Arschgeigen". Seine Kompromisslosigkeit schützt zuverlässig vor finanziellen Einnahmen. Sven ist, so Resi, "authetisch". Früher war Prinz Eisenherz das Vorbild, heute Prinz Gleichmut.

Gegen Ende des Buches zeigt sich ein Erfolg für Resi, ihr Buch erhält einen Literaturpreis und sofort fürchtet sie vom Betrieb vereinnahmt zu werden. Als Protest dagegen pinkelt sie mit ihrem Verleger auf die Strasse – sie im Rinnstein, er an der Hauswand. Reminiszenz an eine Frau, die sich einst im Aufzug erleichterte. Heldentum kann so einfach sein.

Dazwischen philosophiert Resi über ihre Herkunft, ihre soziale Schicht, die sie Klasse nennt und die sie nicht überwinden kann und selbst dann, wenn man ihr anbietet, sich einzukaufen in das Projekt K23, einer Art Eigentümergemeinschaft von Freunden, dann sieht es als Übergriff, als Einkauf, ja sogar als Verhöhnung. Das Geld käme von einem Freund, man müsste ihm die Wohnung abzahlen – undenkbar für die stolze Resi.

Das Elend beginnt mit dem PVC-Boden der Kindheit ("Der Fußboden war der Fußboden. Wenn Leute einen anderen hatten, lag es daran, dass sie andere Leute waren."), setzt sich fort mit dem Blockflötenunterricht (andere spielen Geige und Klavier) und, als hätte man nicht schon genug Mitleid mit dieser furchtbaren Kindheit und Jugend, mit dem Eis-am-Stil, welches eben nur die anderen Mitschüler hatten – der elterliche Kühlschrank nicht.

Der Auslöser für diesen Brandbrief an die Tochter ist die Wohnungskündigung, die sie von Frank, einem aus jener Freundesclique in dessen Wohnung sie zur Untermiete wohnt, erhält. Weniger die Kündigung an sich als die Art und Weise schockiert sie: Frank hat ihr lediglich eine Kopie seiner Kündigung an den Eigentümer mit einem Stempel "Zur Kenntnis" geschickt – ohne ein Wort der Erklärung. Immerhin benötigt sie fast 200 Seiten (und einige Tage – oder sind es Wochen?), um ihrem Mann das Schreiben zu zeigen. Die Reaktion ist vorhersehbar: Man solle sich nicht mit diesen "Arschgeigen" abgeben. Sagt jener Sven, der einem für ewig in Erinnerung bleiben wird als exzessiver Holzhacker beim gemeinsamen Ferienhausurlaub in den 00er Jahren im Berner Oberland. Sozialistischer Realismus in Adelboden.

Der Bruch mit den "Freunde[n] mit Festanstellung", die, wie sie von nun an immer wieder neu betont, gar keine sind, gar keine sein können, begann mit einem Artikel, setzte sich dann mit einem Buch fort. In beidem sehen sie sich verhöhnt, ungerecht behandelt. Die Distanzierung bestärkt Resi nun ihrer Erregung. Irgendwann sagt oder schreibt sie an einen ihrer (ehemaligen?) Freunde: "Ich denke, wir haben extrem unterschiedliche Voraussetzungen gehabt und das tunlichst ignoriert, und ich denke, dass das immer noch so ist oder noch mehr und dass es mehr denn je ignoriert wird, schlimmer noch, bemäntelt mit neoliberalem Geschwätz von Aufstiegschancen und weiß man doch, und ich wage kaum, das zu sagen, weil du auch eingestimmt hast in dieses fiese Lied mit dem Vorwurf, ich würde mich zum Opfer stilisieren, und ich glaube durchaus, dass ich Schuld trage und andere unter mir leiden, aber dass ich trotzdem noch das Recht habe, über Ursachen nachzudenken und auch darüber zu reden, weil es nämlich zu einfach ist, mich zum Sündenbock zu machen und für unzurechnungsfähig zu erklären."

Das Zitat ist so lang, weil es den Tenor des Buches ziemlich gut wiederspiegelt. Nichts hat Bestand für sie, alles ist Schimäre, die Familie "ein Hort der Neurosen" mit ihr selber als "Herrscherin". Das Wochenende ist eine einzige "Wochenendlüge", die Herbstferien eine "Herbstferienlüge". Überall falsche Versprechungen. Auch an die "Inszenierung[en] eines bunten, aufgeklärten Miteinanders" glaubt sie nicht. Die Samenspende im Freundeskreis nebst Patchworkidyll verhöhnt sie als "bunte Wahl- und Genverwandtschaft". Dabei entlarvt sie sich durchaus selber, wenn sie aus der Prenzlauer-Berg-Schickeria, die sie ja so hasst, nicht wegziehen möchte; bloß nicht nach Marzahn, zum Unterschichtenviertel. Aber auch die 15.000 Euro Preisgeld helfen da nicht (nebenbei: Antizipation des Buchpreispreises?).

Resi badet mit ihrer stetigen Selbstreflexion im Drachenblut ihrer vermeintlichen Kritikerinnen. Sie klagt sich immer auch ein bisschen selber an. So bleibt Vera, der einstigen besten Freundin, nach 40 Jahren Freundschaft nur die E-Mail, um sich von Resi loszusagen. Die Mail endet mit dem Bekenntnis zur Liebe. Resi nimmt das sofort auf, lehnt es ab. Liebe, Familie, Moral – alles nur Instrumente, um die Klassengegensätze aufrecht zu halten. Resi ist – das ist sehr dezent vorgebracht, aber für jedermann lesbar – tatsachlich eine Linke reinsten Wassers, keine identitäts-grünlinke Aktivistin..

Manches kommt gekonnt satirisch daher, vieles erstickt dann doch in moralinsaurem Dinkelbrei. Dafür geht sogar ins Jahr 1955 zurück, als Resis Mutter von deren Vater mit dem Kleiderbügel verprügelt wird, weil sie nicht auf ihre kleinere Schwester aufgepasst hat. Später lernt die Mutter einen reichen Verehrer kennt, der ihr erster Liebhaber wird. Aber die Klassenverhältnisse und der Vater des Galan sind dagegen. Und wird Raimund Resis Vater. Resis pränatale Belastungsstörungen (vielleicht zum Patent anmelden?). 

Radischs Ablehnungsfuror erklärt sich aus ihrer Lebenserfahrung als dreifache Mutter, die dennoch im Berufsleben reüssierte, die nicht klagte, sondern anpackte (Resi würde Radisch ihren Pragmatismus als Opportunismus, ja, als Verrat, auslegen). Aber die Kritikerin vergisst in ihrem Zorn auf den Gesinnungsästhetizimus, der bestimmt hat, dass dies das Buch der Saison sein soll (obwohl es bereits im Herbst 2018 erschienen war) sich der Literarizität des Objekts zu widmen. Literaturhistorisch kann man Stellings Roman sehr gut einordnen. Er ist nichts anderes als die Weiterentwicklung des Neuen Subjektivismus der 1970er Jahre. Konkret kommt einem da Karin Strucks Roman "Klassenliebe" von 1973 in den Sinn, ein in Tagebuchform gefasster Assoziationsstrom der 25jährigen Studentin Karin, die ihre gesellschaftliche Position in der Bundesrepublik suchte. Es ist eine wild daherkommende, am Ende jedoch sehr präzise-literarisch komponierte Suada, zum Teil in für damalige Verhältnisse schonungslosem Ton. Bei allen Unterschieden sind die Parallelen erstaunlich. In beiden Büchern werden Kindheit und Jugend als Schicksale der ökonomischen Verhältnisse reflektiert, das Verhältnis zu den Eltern kritisch befragt. Beide Frauen sind verheiratet, Karin hat ein Kind. Beide Frauen sind Intellektuelle, hadern mit "der Gesellschaft". Auch Karin fühlt sich gefangen in ihrer Klasse (daher der Titel des Buches). Sie sieht sich unfähig dort alleine auszubrechen – und flüchtet sich in ein Verhältnis mit einem Dichter (zugegeben, ein anderer Verlauf). Mit den Maulhelden-Linken, die auf abstrakten Modellen herumreiten, die nichts mit der Realität zu tun haben, kann sie dann wieder wie Resi nichts anfangen.

Strucks Roman galt damals als indezent, zumal die Protagonistin den gleichen Vornamen wie die Autorin selber hatte. Der Schluss von der Protagonistin auf die Autorin war zu verlockend. Inzwischen sind solche Parallelen nicht nur standardisiert, sondern scheinen nahezu notwendig zum Verständnis des Textes zu sein.

Stellings Buch ist also sehr wohl in einer literarischen Tradition anzusiedeln – von Struck über Jelinek und Streeruwitz. Aber "Schäfchen im Trockenen" ist weniger Selbstsuche und -reflexion denn Anklage und in dem Maße wie Resi bestreitet, sich nicht in die Opferrolle zu stellen, umso mehr geschieht dies. Ihr fehlt – bedauere – die Sprache. Die Wut genügt nicht, denn fast alles mündet in einen posierenden Narzissmus-Tsunami von Resis Selbsthass. Das reicht für das Wohlwollen einer Jury, die sich einerseits prächtig unterhalten fühlt (vermutlich die höchste Beleidigung für die Autorin: ihr Buch als "unterhaltsam" zu bezeichnen), andererseits ihren gesinnungsästhetischen Ansprüchen Genüge tun kann.

Indem nichts Bestand hat und sich die Protagonistin auch selber nicht schont, nimmt diese Prosa dem Leser größtenteils sogar noch die Empörung ab. Man lehnt sich irgendwann zurück und nickt dort heftig, wo es einem am wenigsten selber wehtut (herrlich, diese Stelle, in der Resi von der Journalistin interviewt wird und deren Fragen seziert). Die literarische Subjektivität, die 1973 "neu" genannt wurde, ist in die Jahre gekommen. "Schäfchen im Trockenen" könnte auch in der  "Brigitte" stehen.

Es ist erstaunlich, dass sich eine Kritikerin wie Iris Radisch darüber noch derart echauffieren kann. Man kann natürlich all die Lobeshymnen auf Stellings Buch als exemplarisch für den  virulenten Gesinnungsästhetizismus des Literaturbetriebs auffassen. Und womöglich ist ihr, der ZEIT-Redakteurin, die auf zeitonline erschienenen Kritik von Carolin Ströbele, die als "Würdigung" rubriziert wurde, sauer aufgestossen. Bereits der Titel "Schweigen am Prenzlauer Berg" ist kokett, denn Resi ist alles, nur keine Schweigerin. Und es ist im natürlich interessant wie eine ähnliche "Momentaufnahme der Gegenwart" (Jurybegründung zu Stellings Buch) 2017 zu einem breit angelegten Feuilletonstreit führte. Vielleicht weil es um Simon Strauss' "Sieben Nächte" ging? Hier vermisste der 30jährige Wohlstandsknabe eine "Initiation". Stelling weiss, was das bedeutet: "Bea ist jetzt vierzehn und gehört initiiert." Man staunt.

Aber einmal Hand aufs Herz: War es jemals anders? Waren die Lobeshymnen (seltener die Verrisse) nicht immer mindestens subkutan außerliterarisch begründet? Wer blieb schon beim Text, wenn man auch persönlich werden konnte? Sicher, inzwischen nimmt der Konformitätsdruck zu. Da werden Romane von "umstritten" deklarierten Autoren untersucht, ob sie nicht eventuell abweichende und damit zu verdammende Gedanken oder falsche Wörter enthalten. Die Kritik entlastet sich damit natürlich vom Lesen vielleicht etwas sperriger Lektüre. Wer nicht im Gesinnungsstrom liegen und trotzdem Beachtung will, kann nur noch provozieren. Der Rest ist – vanillefarben (die Anspielung versteht nur der Leser von Stellings Buch).  

"Man kann auch Journalist werden, um Macht zu erreichen, Schreiben muss nicht zwangsläufig Ausdrucksmittel gebeugter Figuren und stotternder Redner sein, es kann auch betrieben werden, um Pflöcke einzuschlagen, Meinungspfosten, Deutungspfeiler." So Resi an einer Stelle. Wie Recht sie hat. All diese Meinungspfosten. Und am Ende wird dann wieder der Bedeutungsverlust des Feuilletons, der Literaturkritik und eben – leider – auch der Literatur beklagt. Dabei wollen doch alle nur das Beste.

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Artikel online seit 16.06.19
 

Anke Stelling
Schäfchen im Trockenen
Roman
Verbrecher Verlag
272 Seiten
22,00 €
9783957323385

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