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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 



Nichts wie weg?

Politik zwischen Regression, Migration und Progression.
Eine lesenswerte internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit

Von Peter V. Brinkemper

 

Der Titel »Die große Regression« (2017) ist eine suggestive Formel, die vieles anklingen lässt: Stillstand und Rückentwicklung, Neoliberalismus und  Populismus, äußere und innere Migration, Individuum und Kollektiv, alte Parteienlandschaft und neue Bewegung, begleitet von einem medialen Monsterschatten, aufgeladen mit Befürchtung oder Schadenfreude. Expandierende Politikfeindlichkeit, Dialogverweigerung, asymmetrische Kommunikation, Rückzug in die digitale Filterblase, Misstrauen gegenüber einer zu Recht oder Unrecht defizitär empfundenen Demokratie mit deutlichem Personalmangel. Insgesamt 16 Autoren (inklusive Herausgeber Heinrich Geiselberger) schreiben in dieser Textsammlung. Ihr Untertitel erinnert suggestiv an Karl Jaspers’ Denkschrift »Die geistige Situation der Zeit« (1931). Es geht um das Panorama der Auseinandersetzung darüber, was Politik für Politiker und Bürger heute zwischen Wahl, Protest, Partizipation, Positionswechsel und Mobilisierung bedeuten kann. Dazu unterbreitet der lesenswerte Band wichtige Ansätze und Diagnosen. Die Autoren (in den Generationen 1925 bis 1975) thematisieren aus ihrer jeweiligen amerikanischen oder europäischen Position die Erklärung und Einschätzung von Progression und Regression recht nuanciert.

Zygmunt Baumans Vermächtnis oder Kafkas »Aufbruch«

Eine literarisch-spekulative Form, über die »große Regression« als Metapher für das Missverständnis der eigenen nationalen und globalen Lage zu reden, demonstriert Zygmunt Bauman (Jg. 1925, geboren in Posen, verstorben im Januar 2017 in Leeds). Er vertritt eine klassische modernitätskritische Position, aufgrund seiner eigenen ost-west-europäischen Biographie.  Bauman wählt Franz Kafkas bekannte Parabel »Der Aufbruch« (geschrieben 1922, posthum publiziert 1936). Er setzt sie ein als Modell für seine Reflexion in »Ursachen und Ziele der Migration im Zeitalter der Krisen« (2017), erstveröffentlicht in »Die Angst vor den anderen« (Suhrkamp 2016).

Ich befahl mein Pferd aus dem Stall zu holen. Der Diener verstand mich nicht. Ich ging selbst in den Stall, sattelte mein Pferd und bestieg es. In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen, ich fragte ihn, was das bedeutete. Er wusste nichts und hatte nichts gehört. Beim Tore hielt er mich auf und fragte: »Wohin reitet der Herr?« »Ich weiß es nicht«, sagte ich, »nur weg von hier, nur weg von hier. Immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen.« »Du kennst also dein Ziel«, fragte er. »Ja«, antwortete ich, »ich sagte es doch: ›Weg-von-hier‹ – das ist mein Ziel.« »Du hast keinen Eßvorrat mit«, sagte er. »Ich brauche keinen«, sagte ich, »die Reise ist so lang, daß ich verhungern muß, wenn ich auf dem Weg nichts bekomme. Kein Eßvorrat kann mich retten. Es ist ja zum Glück eine wahrhaft ungeheure Reise.«

Kafkas »Der Aufbruch« ist durchaus verstehbar als ein stenogrammartiger Nachwort zum Erstem Weltkrieg und zugleich eine Vision von gesellschaftlicher Mobilisierung, kommendem Faschismus, Wiederaufrüstung und bevorstehendem Zweitem Weltkrieg. Die Kurzerzählung  hat modellhaften Charakter: Parabel oder Gleichnis. Der Ich-Erzähler (mit dem Tempus Präteritum) ist zugleich herrschaftlich Handelnder, Hauptfigur und Gegenfigur zum Diener. Ist das Verhältnis von Herr und Diener real oder imaginär? Der Dialog löst die Beziehung immer stärker auf, ebenso die anfängliche Normalität des Aufbruchs. Die appellative Situation der Aktion, der Aufbruch, mit allen typischen Maßnahmen, wird überführt in die Situation des Gesprächs und der Infragestellung. Die scheinbar einfach gesetzte Figur des Aufbruchs, der Mobilmachung und des Losreitens wird durch die, für Kafka typische, Logik der Widersprüchlichkeit, Verzögerung und Paradoxie aufgebrochen: Autoritärer Befehl zur Vorbereitung (wird aber nicht durchgeführt), Unverständnis des Dieners aus Sicht des Erzählers, Preparation des Ritts durch den Erzähler selbst (ist er dann wirklich noch der Herr?), Mahlersches Trompetensignal in der Ferne (nur vom Erzähler, nur subjektiv, aber nicht vom Diener vernommen), Dialog über das ferne, sich als unbestimmt herausstellende Ziel: Der Erzähler, die Hauptfigur, weiß nichts über ein positives Ziel, er will nur abstrakt fort, er propagiert die Politik der Mobilmachung, der Eroberung, der Entdeckung, als zentrale Paradoxie und als reinen Selbstzweck seiner propagandistischen Parole: »’Weg-von-hier’ – das ist mein Ziel.« Die Reise selbst wird als unmöglich, lebensgefährlich und »ungeheuer« dargestellt. Dies wird aber als »zum Glück« positives Erlebnis und Abenteuer – vielleicht mit einem Rest von Aristokratie – dargestellt.

Kafkas »Aufbruch« lässt sich mit »Die Verwandlung«  (1912) oder »Eine kaiserliche Botschaft« (1917) vergleichen, inhaltlich und formal, in Parallelen und in Differenzen der verhinderten oder befohlenen, immer weiter entleerten Mobilität transformierter und degradierter Subjekte. Das Modell der Parabel lässt sich als Mischung aus Alltagssituation und zunehmend irrealer, surrealer, absurder Verzögerung und Verunmöglichung kennzeichnen. Es geht um angebliche Progression und Regression, um Fortschritt und Rückschritt, Gelingen und Scheitern, schon im Anfang eines großen Vorhabens. Die Logik von Handlung, Erzählen und Dialog wird zur Unlogik und Paradoxie des absurden »Helden«. (Parallele zu Gregor Samsa, der als Käfer aufwacht, zunächst unentdeckt bleibt und nicht zur Arbeit als Handlungsreisender aufsteht, und zum »Kaiserlichen Boten«, der, einmal vom sterbenden Herrscher losgeschickt, nie ankommen wird.)

Bauman geht es um die skeptische Einschätzung der Ursachen und Ziele von Migration als Reaktionsschema auf gleichfalls recht unterschiedlich beurteilbare Krisen im Zeitalter der (zweiten) Moderne und der immer radikaleren Mobilisierung. Er warnt vor der falschen Eindeutigkeit von Erklärungen. Die einstmals akzeptierten inhaltlichen Definitionen von Krise und Katastrophe sowie die Maßnahmen für die Bewältigung ihrer Folgen haben ihre Gültigkeit verloren (inklusive ziviler, wirtschaftlicher, ideologischer, kriegerischer Mobilisierung, Entwurzelung, Wanderung, Flucht und Migration). Die Faktoren und Prozesse seien von der frühen Moderne an bis zur heutigen postmodernen Einschätzung zunehmend kritischer, negativer, post-humaner betrachtet worden. Bauman übernimmt die logischen und absurden Elemente von Kafkas »Aufbruchs«-Parabel in real-verallgemeinerter Form. Kafkas individueller Text wird soziologisiert. Das Trompeten-Signal wird sogleich in seiner Semantik als plural deutbare Botschaft interpretiert und der Aufbruch als, wie auch immer, riskantes Unternehmen zwischen Aggression, Abenteuer, Standortwechsel und Flucht. Diener und Herren werden gesellschaftlich deutbar und zugleich privatisiert. Grund und Ziel, Wovor und Wohin von Emigration oder Flucht seien im realen globalen Leben heute immer noch, so Bauman, mit Kafka zu denken. Für den Nullpunkt und Start der Flucht gebe es viele Gründe. Dagegen sei das Ziel (der raumzeitliche oder utopische Ort des vorgeblich Besseren oder gar Perfekten) als Hoffnung auf erträglichere Verhältnisse durch Krisenabwendung bzw. –bewältigung völlig unklar und werde gleichsam »mit dem Rücken« voraus, also relativ irrational und imaginär angestrebt.

Was bedeutet diese Denkfigur der klassischen und der zweiten Moderne für das selbstkritische Bewusstsein des modernen Krisenmanagements heute? Es gehe, so Bauman, nicht mehr darum, wie früher, Krisen ungefähr ins Auge zu fassen und als Migrant oder als politischer Krisenmanager mutig oder tollkühn in die unbestimmte Zukunft zu fliehen. Aber auch nicht darum, eine genaue rationale Erfassung und Lösung der Krise im Planspiel zu realisieren. Nach Jahrzehnten der global mehr oder minder praktizierten Krisenbewältigung und des deutlichen Anstiegs an Krisen- und Risikofaktoren greife die Erkenntnis um sich, dass früher erfolgreiche Methoden zur Lösung immer mehr an Wirkung verlören. Die menschliche Geschichte erweise sich als immer weniger beherrschbar, sowohl im Hinblick auf die Ausbeutung der Natur wie die Kontrolle der Zivilisation. Der Zustand früherer Panik und Flucht (frühe Moderne 1900-1914), im Vorfeld der doppelten Weltkriegs-Katastrophe (1914-18; 1939-45) trete nun, nach einer Phase von wirtschaftlicher Expansion und Wohlstand im Westen (1945-1989) wieder ein: der oberflächlichen, wichtige Krisen ausblendenden Konsolidierung 1990-2000 folgten die Regression durch den die USA heimsuchenden Terrorismus, den ideologisch geführten Krieg gegen Terror und die Digitalisierung der sozial geschwächten Wohlstandsgesellschaften und der ausgebeuteten Schwellenländer und einer wie nie zuvor global  angewachsenen Zahl von Migranten (2001-2017).

Dieser Befund wird ergänzt um die pessimistische Sicht: Fortschritt sei als Kategorie der alten Moderne ausgehöhlt und verwandle sich bei unreflektierter Anwendung immer mehr in Fluch statt Segen. Dem Individuum würde allerdings das gesamte Ausmaß der zerstörten Lebensgestaltung in immer neuen Spiralen aufgenötigt. Bauman stellt als Überlebender des Zweiten Weltkrieges Kafkas Parabel des riskanten Aufbruchs ins Ungewisse und Unkontrollierbare als Modell für das moderne und postmoderne Krisenbewusstsein, das immer stärker zu Skeptizismus und Pessimismus neigt und auch beträchtliche Erfolge und Fortschritte in Wissenschaft, Technik, Gesellschaft, Politik kaum noch anerkennt. Der äußeren entspricht eine innere Emigration, die immer tiefere Seelenschichten durchstößt.

Realpolitische Analysen und Dialektik: Lernen von der Peripherie her

Slavoj  Žižek (Jg. 1949, Ljubljana, ebenda und in London lehrend)  formuliert die bemerkenswerte dialektische Warnung: »Die liberalen Kritiker des neuen Populismus erkennen nicht, dass der Volkszorn kein Zeichen der Primitivität der einfachen Leute ist, sondern ein Indiz für die Schwäche der hegemonialen liberalen Ideologie selbst, die es nicht mehr schafft, ‚Konsens zu fabrizieren’, so dass man Zuflucht zu einer ‚primitiveren’ Funktionsweise von Ideologie nehmen muss. Und die linken Befürworter des Populismus erkennen nicht, dass ‚Populismus’ keine neutrale Form ist, die sich wahlweise mit rechtsfaschistischen oder linken Inhalten füllen lässt...«                            

Nancy Fraser (Jg. 1947, Baltimore, lehrend in New York) betont: Der reaktionäre Populismus wähne sich im Recht, weil der politische Liberalismus des (sozial-) demokratischen Lagers sich längst als staatlich deregulierender Neoliberalismus im Kontext der Globalisierung (miss-) versteht. Der Neoliberalismus rutschte von Rechts über die Mitte nach Links und treibe auch mit freundlichem Politikerantlitz weiter seine drakonischen Blüten. Bill Clinton sei mit Carvilles Slogan »It’s the economy, stupid« im Sinne der »New Democrats« ein Vorläufer von Tony Blairs »New Labour«, der als weichgespülte Links-Liberalität unter Aushöhlung der Gewerkschaften, die 1980er Politik von Reagan und Thatcher überholen wollte, in einer wackeligen Synthese der Vereinigung partizipatorischer Bürgerbewegungen und der weitergehenden Deregulierung der Kapital- und Finanzmärkte zum Schaden der Arbeitnehmer und Industriearbeiter.  Fraser nähert sich damit einer exakteren Einschätzung der gefühlten »Verlogenheit« der Kandidatin Hillary Clinton, die den Kompromiss zwischen Finanzkapitalismus, politisch positiv eingestellter Bürgermoral und Einkommensschwund noch als Erfolgsmuster für ihre »feministische« Wahl propagierte und die Verabscheuung Trumps selbstverständlich voraussetzte.

Für Donatella della Porta (Jg. 1965 Catania, lehrend in Florenz) ist die Unterscheidung von Gewinnern und Verlierern in der Globalisierung nicht nur eine ökonomische, sondern politische Kategorie. Sie daher auch auf linke und rechte Protestbewegungen gegen die spürbar negativen Effekte des anhaltenden Neoliberalismus anzuwenden. Die Autorin versteht Politik insgesamt normativ-wertend und unterscheidet daher real progressive und regressive Strategien, letztere für passive, nur selektiv von oben mobilisierte Anhänger, die unter einem autoritär-paternalistischen Führer starr applaudieren und akklamieren. Gewinn und Verlust sind kurz- oder langfristig angelegt, je nachdem, ob man unbequemen Verzicht auf faule Kompromisse leistet und an der Kritik am politischen System weiter festhält oder sich umgekehrt allzu rasch einreden lässt, man werde vom alten oder neuen Führungspersonal bestens bedient. Linke Kritik an Konzernentscheidungen und -strategien und an postdemokratischen Hinterzimmer-Absprachen (ohne breitere politische Diskussion von Verantwortung und Folgen) stellt für della Porta progressive Aufklärung durch Basis-Bewegungen oder Whistleblower dar. Sie monierten in aktiv kommunizierender Form Versagen oder Verfall demokratischer Institutionen und träten für Korrektur und Modifikation ein, um der Idee partizipatorischer Demokratie Nachdruck gegen die ansonsten auf allen Etagen drohende Gleichschaltung unter selbstgenügsamen Führungsfiguren zu verleihen. Hier werden auch die Zeltlager auf der Puerta del Sol in Madrid und vielen spanischen Städten angeführt, die mit der Bewegung 15. Mai 2011 eine »neue Demokratie jetzt« forderten.

Arjun Appadurai (Jg. 1949, Mumbai, lehrend in New York und Berlin) stellt in »Demokratiemüdigkeit« heraus, dass viele der aktuell bekannten Führer »großer Nationen« eher national und global geschwächte Staaten vertreten und nach autoritären chauvinistischen und ethnozentrischen Ersatzinszenierungen suchen, die aktive demokratische Diskussion und Partizipation außerhalb von Parteikadern und kreativ-mobile Lebensperspektiven jenseits der strikt vordefinierten Verhaltensformen und Staatsgrenzen blockieren. Trump, der Eindringling in die politische Berufswelt, verbinde Frauenfeindlichkeit, Rassismus, Xenophobie, fürsorglich kaschierten Größenwahn und Angst vor Veränderung zur Verteidigungsstrategie des nicht länger dominanten weißen Lagers, aufgeteilt in wenige Privilegierte und viele subjektiv im Stich gelassene Vertreter der Mittel- und Unterschicht, deren Macht in einer festungsartigen Situation zu restituieren sei. 

Interessanterweise bezieht sich Appadurai auf Albert O. Hirschmans Ansatz aus »Exit, Voice and Loyality«, »Abwanderung, Widerspruch und Loyalität« (Harvard 1970) ein Modell der internen und externen Mobilität und Migration, weit über die üblichen Kontexte hinaus. Danach erweisen sich modern denkende Individuen und Gruppen in verschiedenen Dimensionen, mobile Pendler oder Wechselwähler, als Anhänger und Klienten auf Zeit, und zwar in verschiedenen Rollen, als politische Aktivisten oder Arbeitnehmer und Führungskräfte von Gruppen, Parteien und Unternehmen. Ökonomisches und politisches Leben ist immer schon flexibel und mobil in Bezug auf situativ opportune Werte, Produkte und Dienstleistungen, mit dem Ziel, die aktuelle Lebenssituation zu verbessern. Arbeitnehmer und Bürger sind alles andere als passive und stabile Faktoren, sondern dynamisch in ihrem »Konsumentenverhalten, Organisationsverhalten und politischen Verhalten«. Von Natur aus avisiert der moderne Akteur Optionen und Alternativen, um im entscheidenden Moment zu wechseln. Ist dies nicht möglich, so wird immerhin Kritik und Protest geäußert. Wird auch unterdrückt, nehmen auch bestimmte Formen der Verbundenheit und Loyalität immer weiter ab, schließlich wird sie in innerer Vernachlässigung, Kündigung und Reserve aufgegeben. Hirschmann wendet dieses Modell auf Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und grenzüberschreitende Emigration im Extremfall der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Unzufriedenheit oder Verfolgung an. Dies gilt auch für die Ereignisse an der deutsch-deutschen Grenze, an der Mexican-American-Border oder für die Korridore Nordafrika-Italien, Türkei-Osteuropa-Deutschland. Das interne Mobilitäts- und externe Emigrationsmodell nuanciert nicht nur die festgefahrenen Annahmen des alt-neuen Lagers der Trump-Fans, sondern auch die selbstzufriedene Wahlkampf-Erwartung der dann doch knapp ihre Macht verlierenden Demokraten.

Das Wahlverhalten im Trump-Lager sei nicht mehr im Rahmen eines moderaten Regierungswechsels durch die übliche Dualität zweier etablierter Parteien gekennzeichnet, sondern durch die symbolische Abwahl des Establishments und die Bevorzugung einer anscheinend radikalen und möglichst destruktiv operierenden Gegenfigur, mit der eine neue Epoche beginne. Weniger plausibel ist Appadurais Argumentation, dass die Aktivierung durch die sozialen Medien, die negativen Folgen der wirtschaftlichen Globalisierung und die selbstverständliche Gewöhnung an den Komfort von Menschen- und Bürgerrechten zu einer demokratiemüden Haltung auf dem Weg in die Transnationalität geführt haben. Hier bleiben Ist-, Weg- und Zielbeschreibung zwischen faktischer Genauigkeit und normativem Desiderat unzureichend.

Mittlerweile hat sich das politische System der USA als stark in der Abwehr und Einbettung der Figur Trump erwiesen: trotz des Einbruchs der Republikaner und des Austauschs von wichtigen Funktionsträgern durch den neugewählten Präsidenten, speisen sich Widerstand und Gegenwind aus der Gewaltenteilung und der föderalen Kompetenzverteilung, aus der präzise investigativ und dokumentierend arbeitenden Presse, und der in der Öffentlichkeit und im Internet demonstrierenden Bevölkerung. Dem absurd oberflächlichen Neo-Absolutismus Trumps, im Kreis der mitberatenden Familie, seines dunklen Verschwörer-Ideologen Bannon, auf dem Golfplatz und im Flugzeughangar vor kritiklosen Anhängern, wurden Hürden und Grenzen gezogen, durch eigenes Rollenversagen und externe juridische Verhinderung. Verstrickungen in mögliche Korruption und Wahlbetrug werden im offiziellen Verfahren Schritt für Schritt ordentlich thematisiert. Trump hat das Gegenteil von Politikmüdigkeit und Ausblendung von Wandel provoziert. Er ist nicht die Ablösung, sondern der Katalysator eines nach wie vor bestehenden Problems.

Bei aller Betroffenheit über populistische Wut, neoliberale Ausbeutung und postfaktische Ersatzdemokratie (unter offen autoritärer oder fadenscheinig liberaler Führerschaft) sind sachliche Anmerkungen und Anfragen erhellend, wie die von César Rendueles (Jg. 1975, aus dem katalanischen Girona, in Madrid lehrend) der die Korruption des spanischen Zweiparteiensystems und das Ende von Bau- und Tourismusboom eingehend als Ausgangsbasis einer landesweiten Politikunzufriedenheit der jüngeren Generation beschreibt, die auch die Großstädte Madrid, Barcelona und Valencia in alternativen Parteienkonstellationen erfasste und mit Podemos eine neue Bewegung und starke Partei ins nationale Parlament brachte: Die genannten Städte würden »heute von Initiativen regiert, die einen kritischen und klar antineoliberalen Charakter besitzen.« »Wie ist es möglich, dass sieben Mio. Spanier weiterhin eine konservative Regierung wählen, die die krassesten Sozialkürzungen seit dem Ende der Diktatur und unzählige Korruptionsfälle zu verantworten hat? Zum Teil liegt das mit Sicherheit daran, dass die Massenmedien eine brutale und erfolgreiche Kampagne zur Dämonisierung des neuen politischen Bewegungen organisiert haben.« Das klingt wie ein kritischer Kommentar zu dem Kampf zwischen der Zentralregierung in Madrid und dem um mehr Autonomie oder gar Separierung ringenden Katalonien. Doch sei die Linke oft nicht imstande, »für die Lebensrealität der Menschen« »jenseits des ideologischen Diskurses politische Alternativen« zu entwickeln, die von einer Mehrheit als realistisch und annehmbar akzeptiert werden könnten. Die Entwicklung in Spanien sei freilich ein Modell, für alle sei es an der Zeit, »von der europäischen Peripherie (zu) lernen«.  


Artikel online seit 04.11.17
 

Arjun Appadurai, Zygmunt Bauman, Donatella della Porta, Nancy Fraser, Eva Illouz, Ivan Krastev, Bruno Latour, Paul Mason, Pankaj Mishra, Robert Misik, Oliver Nachtwey, César Rendueles, Wolfgang Streeck, David Van Reybrouck, Slavoj Zizek
Hrsg. von Heinrich Geiselberger
Die große Regression
Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit.
Edition Suhrkamp, Berlin 2017
319 Seiten
18,00 €
978-3-518-07291-2

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