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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 



Wissenschaftler, Schriftsteller, Melancholiker, Ästhet

Ein biografisches Meisterwerk über Claude Lévi-Strauss

Von Jürgen Nielsen-Sikora

Der Ethnologe und Anthropologe Claude Lévi-Strauss (1908-2009) gilt als Mitbegründer des Strukturalismus, einer interdisziplinären Methode, die das Beziehungsgeflecht in kulturellen Symbolsystemen wie der Sprache, der Familie oder den Mythen untersucht. Lévi-Strauss hat die intellektuellen Diskurse in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in Frankreich wie kaum ein anderer geprägt und die Anthropologie ins Pantheon der Sozialwissenschaften geholt.

Seine Familie entstammt dem säkularisierten Judentum aus dem hinterwäldlerischen Elsass. Lévi-Strauss selbst wächst in Paris in der Nähe des Bois de Bologne auf. Er ist ein verwöhntes und eigenbrötlerisches Wunderkind mit einem genauen Blick für Kuriositäten. Sich selbst betrachtet er als eine Art jungen Don Quijote, der hinter der Gegenwart der Vergangenheit wiederbegegnen möchte. Viele Jahre ist er ein glühender Spinoza-Anhänger und hätte, so glaubt er, im 19. Jahrhundert angenehmer gelebt.

Der Ethnologe

Prägend ist für ihn die Freundschaft mit dem russischen Linguisten Roman Jakobson, der die allgemeinen Gesetze, nach denen Sprache funktioniert, erforscht. Insbesondere widmet sich Jakobson der Kindersprache und Sprachstörungen. Seine semiotischen und kommunikationstheoretischen Arbeiten befassen sich darüber hinaus mit Folklore, Film, Malerei und Poetik und inspirieren Lévi-Strauss, der zunächst Jura und Philosophie studiert und sich zwischen 1931 und 1932 als Soldat in Straßburg aufhält.

1934 ergeht an den jungen Franzosen das Angebot, einen universitären Posten in Sao Paulo zu übernehmen und sich verstärkt der Ethnologie zu widmen, dessen Gründungsvater Marcel Mauss, der Neffe Emil Durkheims, sein Lehrer wird: Feldforschungen, etwa über Tauschbeziehungen in archaischen Gesellschaften, stehen im Mittelpunkt von Mauss' Arbeiten wie dem „Essai sur le don“ (Die Gabe) aus den frühen 1920er Jahren.

Die Ethnologie verbindet Theorie und Empirie und möchte den ganzen Menschen zum Gegenstand ihrer Forschungen machen. Kennzeichnend ist die Suche nach dem Elementaren und dem Wesen des sozialen Lebens, die sich stets zahlreichen Gefahren, Krankheiten oder auch der Langeweile ausgesetzt sieht.

Lévi-Strauss nimmt das Angebot an und geht von 1935 bis 1939 nach Brasilien. Dort unternimmt er Expeditionen in das dünn besiedelte Mato Grosso, geprägt vom Nieselregen, langen Felsspalten, zahlreichen Bergkämmen und tiefen Schluchten. Der Ethnologe erforscht die Bororo-Indianer und betrachtet die bis dato nahezu unbekannten Nambikwara als Modell des elementaren Lebens.

Von 1941 bis 1947 wählt Lévi-Strauss New York als Ort seines Exils und unterrichtet vor allem an der New School for Social Research, die 1933 auf Initiative des Wirtschaftswissenschaftlers Alvin Johnson als University in Exile unter dem Dach der New School gegründet wurde. Die New School existierte im Grunde bereits seit 1919 als Einrichtung der Erwachsenenbildung nach dem Vorbild deutscher Volkshochschulen. Thorstein Veblen und John Dewey, die damals zu den einflussreichsten Erziehungsphilosophen in den USA gehörten, hatten sie mit ins Leben gerufen.
Ab 1933, nach der Machtübernahme Hitlers, suchte Johnson auch gezielt nach deutschen Kollegen aus den Fächern der Sozialwissenschaften, die als Professoren an der New School infrage kamen.

Auch der deutsche Künstler Max Ernst weilt in den 1940er Jahren in New York und schließt enge Freundschaft mit Lévi-Strauss. Gemeinsam flanieren sie durch die Stadt, und Lévi-Strauss integriert, während in Europa der Zweite Weltkrieg tobt, Max Ernsts Idee der Collage in seine strukturalistischen Arbeiten: Man „muss den Strukturalismus als geistigen Kriegstribut betrachten, im Koffer eines gelehrten Exilanten mitgebracht, der begierig ist, sein Land nach der Wüste des Kriegs auf das Niveau des bibliographischen, dokumentarischen und kognitiven Wissens zu heben. Doch der militante Szientismus, der den ersten Strukturalismus kennzeichnet ... mit seiner mathematischen Formalisierung, seinen graphischen Schemata und seiner logischen Strenge, ist auch ein Bemühen um wissenschaftliche Legitimierung einer Disziplin, die früher von kolonialen Imperialismen und einem auf die physische Anthropologie versessenen Faschismus instrumentalisiert wurde.“

Nach dem Krieg

Nach dem Krieg folgt 1948/49 die Verteidigung der Doktorthese „Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft“. 1950 wird Lévi-Strauss eine Professur für Vergleichende Religionswissenschaft an der EPHE in Paris zuteil. 1955 erscheint sein wichtigstes Werk „Traurige Tropen“, ein melancholisch-autobiografischer Bericht über die Brasilienexpedition in den 1930er Jahren, bei der er aus den Bruchstücken primitiver Kulturen den ursprünglich vollkommenen Zustand rekonstruieren wollte.

Nur drei Jahre später widmet sich die „Strukturale Anthropologie“ Grundfragen der Ethnologie wie der Sprache, der Verwandtschaft, sozialen Organisationen, der Magie, der Religion und der Mythologie. Lévi-Strauss geht davon aus, dass Wissenserwerb nur in einem Netz von Beziehungen möglich, und die Gesellschaft als Gesamtheit von Strukturen zu verstehen sei.

1959, im dritten Anlauf, erhält er endlich einen Lehrstuhl für Sozialanthropologie am Collège de France, dem Zentrum des intellektuellen Milieus in Frankreich. Ab den 1960er Jahren werden seine Schriften in zahlreiche Sprachen übersetzt, und Lévi-Strauss erhält eine Reihe von Ehrendoktorwürden, ehe er 1973 in die Académie française gewählt wird.
Zwischen 1977 und 1988 unternimmt der Anthropologe insgesamt fünf Japanreisen, deren literarischer Ertrag allerdings sehr bescheiden ist.

Seine Biografin Emmanuelle Loyer portraitiert den Forschungsreisenden als detailverliebten Mann, dessen ausgezeichnete Beobachtungsgabe und erbarmungslose Urteile für den Aufstieg der Ethnologie/Anthropologie im 20. Jahrhundert maßgeblich mitverantwortlich sind. Lévi-Strauss' teils provokative Thesen stellten sich gegen einen selbstzufriedenen Humanismus sowie gegen die Prophetie der Intellektuellen: Er fühle sich für das Wohl seiner Zeitgenossen nicht verantwortlich, sagt Lévi-Strauss, der sich immer wieder auch Kritik an der Ethnologie gefallen lassen muss – etwa dann, wenn es heißt, die Ethnologie sei eine Hilfswissenschaft der kolonialen Herrschaft und letztlich eine Agentin der Zerstörung der wilden Völker.

Die Öffnung des persönlichen Archivs von Lévi-Strauss hat es ermöglicht, dass Loyer eine sehr umfassende, spannend geschriebene Lebensgeschichte von Lévi-Strauss vorlegen kann, die sich nicht zuletzt mit der Kindheits- und Familiengeschichte des insgesamt drei Mal verheirateten Forschers befasst. Was Loyer in diesem Zusammenhang alles zutage fördert, ist ebenso faszinierend wie ihre Fähigkeit, Biografie, Darstellung des Werks und Zeitgeschehen so ineinander fließen zu lassen, dass man nach fast 1100 Seiten geradezu enttäuscht die Buchdeckel zuschlägt, weil dieses biografische Meisterwerk schon an sein Ende gelangt ist.

Artikel online seit 09.01.18
 

Emmanuelle Loyer
Lévi-Strauss - Eine Biographie

Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer
Suhrkamp
1088 Seiten
58,00 €
978-3-518-42770-5

Leseprobe

 


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