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Phantomschmerzen

Eine Dekade wird besichtigt: Wolfgang Kraushaars illustrierte Chronik der 68er-Bewegung
ist ein monumentales Denkmal & oppulent ausgestattetes Archiv
des geistigen, moralischen,
und kulturellen Erbes einer ganzen Generation, die, mit Herbert Marcuse gesprochen,
den Versuch ihrer Befreiung unternommen hat.


Ein Statement von Kurt Otterbacher

 

Die 4 (beinahe 12 kg) schweren Bände behandeln den Zeitraum von 1960 - 1980. Zentrale Jahre sind 1967 und 1968. Zahlreiche handverlesene Fotos illustrieren Zeit, Stimmung, Orte und Personen. Das alles wird von kenntnisreichen Texten begleitet.
Man kann mit Recht sagen, daß dies DAS Standardwerk der Geschichte der 68-er ist, daß ihm eine jahrzehntelange akribische Recherche- und Archivarbeit zugrundeliegt (vor allem ein Verdienst von Kraushaar und der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur). Bemerkenswert auch, daß Kraushaar sein gesamtes Berufsleben der Erforschung eines Abschnitts der Geschichte, an der er selbst beteiligt war (mit all ihren Höhen und Tiefen), gewidmet hat. Alles in allem eine einzigartige und erstaunliche Leistung.
 
Wenn aber jemand ein Geschichtswerk verfaßt, herausgibt oder editiert, der am Zustandekommen der Ereignisse, über die zu berichten ist, selbst beteiligt war, muß man vernünftigerweise von einer nicht ganz zu vermeidenden Parteilichkeit ausgehen. Das betrifft gleichermaßen den an den Ereignissen beteiligten Rezensenten des Werks. Beide werden nolens volens besagte Ereignisse nach ihrer eigenen Skala bewerten, die das Ergebnis ihrer persönlichen Erfahrungen mit Personen und Ereignissen sein muß. Es ist demnach für uns beide weder eine völlig unvoreingenommene Geschichtsschreibung noch eine ebensolche Rezension möglich. Es läuft unvermeidlich auf subjektive Bewertungen hinaus.
 
Im Ergebnis bewertet Kraushaar m. E. die 68-er Bewegung (bei aller vorgebrachten und deutlichen Kritik - siehe seine Bücher zu »Die blinden Flecken der 68-er Bewegung« - und »Die blinden Flecken der RAF«) positiver als der Rezensent, wobei letzterer womöglich unbefangener urteilt, eben weil die 68er-Bewegung nicht Gegenstand seines Berufslebens war, seine Erinnerungen sich zudem durch den mittlerweile erheblichen zeitlichen Abstand anders verändert haben mögen als bei jemandem, der sich ein Leben lang mit dem Thema beschäftigt hat.

Kraushaar weiß sich zudem in guter Gesellschaft, denn es gilt ja als ausgemacht, daß unser Land sich durch das einigermaßen segensreiche Tun der 68-er zur heutigen vorbildlichen liberalen Demokratie gemausert habe. Nur würde ich dem glatt widersprechen und hilfsweise (da wo tatsächlich Verbesserungen feststellbar sind) unsere Autorenschaft bestreiten, denn wir waren - bei allem Lärm - nur ein kleiner Bestandteil der Gesellschaft, die sich auch ohne unser Zutun verändert hätte - und die ja mit Sicherheit auch uns selbst verändert hat. Ebenso sinnlos ist es natürlich, die 68-er für alles haftbar machen zu wollen, was seither schiefgelaufen ist.
 
Das Stöbern durch die 4 Bände ruft mir nun nicht unmittelbar eigene Erlebnisse ins Gedächtnis. Viees davon ist mir mittlerweile fremd geworden. Dafür weht mich beim Blättern eine Ahnung an von der Vergeblichkeit menschlichen Tuns im Allgemeinen - und dem meiner Generation im Besonderen, die vor allem eins, nämlich nie alt werden wollte. »Hope to die before I get old«, wollten The Who 1965, und Bob Dylan wünschte sich und uns 1973 »May you stay forever young«. Das Beste an uns ist sicher unsere Musik, und die ist mir nicht fremd geworden.
 
Der Startschuß fiel gewissermaßen am 2. Juni 1967 in Berlin. Er traf den Studenten Benno Ohnesorg. Abgegeben hatte ihn ein Polizist, hinterrücks und heimtückisch, weil Ohnesorg an einer Demonstration gegen den Schah von Persien teilgenommen hatte. Der Schah war mir egal, ich hätte kaum gegen ihn demonstriert (er war schließlich geladener Gast), aber daß deutsche Polizisten einen Studenten erschießen würden, der lediglich von seinen demokratischen Rechten Gebrauch gemacht hatte, das war auf keinen Fall hinzunehmen. Ohne diesen Mord wäre die 68er Bewegung in Deutschland sicher anders verlaufen.

Kraushaars Werk beginnt aber weit früher und behandelt viel mehr: nämlich die Aktivitäten der Studenten-, der Jugend-, der Bürgerrechts- und Befreiungsbewegungen auf der ganzen Welt. Es wirkt auf mich heute, als hätten die Leute damals überall echte Probleme gehabt: in der DDR, in den USA, in Vietnam, Afrika, Griechenland, China, im Nahen Osten, in Lateinamerika und anderswo. Wir hingegen waren hauptsächlich solidarisch, hatten bestenfalls Phantomschmerzen (wie den bereits verlorenen Kampf gegen Hitler, den »tausendjährigen Muff« unter den Talaren oder den Nato-Doppelbeschluß).
Das Anziehendste an uns war zweifellos unser grandioses Zusammengehörigkeitsgefühl, unsere Version von »Einer für Alle und Alle für Einen«, das sich teilweise bis heute gehalten hat.

Darüberhinaus hatten wir nicht wirklich was zu bieten. Wir propagierten mit »Aussteigen« und »Leben in Alternativwelten« zwar sympathische Konzepte, die sich für die meisten jedoch nicht als lebbar erwiesen, fetischisierten gleichzeitig Begriffe wie Gerechtigkeit, Gleichheit und Kollektiv, womit wir nebenher ein halbwegs funktionierendes Schulsystem ruinieren halfen. Wir haben sinnlos Autorität als solche vernichtet, heute könnten wir dringend welche brauchen. Wir wollten im Zweifel alles - am liebsten etwas Surreales wie den freien Blick aufs Mittelmeer. Irgendwann lief das Ganze gewaltig und gewalttätig aus dem Ruder.

Schlimmeres haben vermutlich die Grünen (sie wollten immer sehr Reales) verhindert, was übrig blieb, ist (nicht nur) dank der Grünen, zwar blöd genug - aber kein deutsches Alleinstellungsmerkmal. Wir leben heute, mit Verlaub, in einer vollkommen durchbürokratisierten, moralinsauren, humor- und ironiefreien, uneleganten und uncharmanten Welt, die seltsamerweise einigermaßen gut funktioniert, den tonangebenden Klugscheißern und Bedenkenträgern zum Trotz, in der aber grundsätzlich jedem vorab immer das Schlechteste unterstellt werden muß (vor allem Promis, Politikern, Bankern und Managern) und diese üble Vorrede sich auch noch als Bürgersinn ausgibt.

In dieser Welt haben wir, die Guten, immer recht, wollen, daß die Leute gefälligst nach unserer Facon leben, ob sie dabei selig werden, ist uns wurscht - wir handeln schließlich in höherem Auftrag. Die Leute, die wir derart ignorieren, wählen zu unserer Verblüffung in Massen die AfD, führen in asozialen Netzwerken einen gemeinsam-einsamen Kampf gegen das »verhaßte System« - oder sie rotten sich wie in Frankreich zusammen und schlagen alles kurz und klein - es ist eine schlechte Kopie des Mai 68, die sich da und anderswo manifestiert, weil ohne jede Vorstellung von Utopie. Unterm Pflaster liegt nicht mehr der Strand, sondern die Kanalisation - und sie stinkt.

Wir nehmen nicht mal zur Kenntnis, daß es hier vor allem um Respekt geht, weswegen der Versuch, die Leute mit Almosen ruhig zu stellen, fehlschlagen muß. Wobei besagte Leute, die Fetische unserer Jugend, das hohe Lied von Gleichheit und Gerechtigkeit skandierend, noch weniger als wir damals wissen, was sie eigentlich wollen, aber gleichwohl sicher sind, daß es so nicht weitergeht. Da ist ein Gefühl von drohendem Unheil, das zumindest mich beim Blättern durch Kraushaars Werk beschleicht.

Viele jedoch, die damals dabei waren (und denen ihre Vergangenheit nicht peinlich ist - da gibt es nicht wenige) werden in der riesigen Materialsammlung von Kraushaar vor allem nach Vergewisserung, Bekannten und Bekanntem suchen.
Alle anderen wären (wie ich sehr oft höre) gern dabeigewesen. Für sie ist Kraushaars Chronik unserer verlorenen Zeit ein süffiger Abenteuerroman, an den man gehen sollte wie Burt Lancaster einst an den »Roten Korsaren«: Glaubt nur, was ihr seht – nein, glaubt nicht einmal die Hälfte davon!


Artikel online seit 17.01.19
 

Wolfgang Kraushaar
Die 68er–Bewegung

Eine illustrierte Chronik
1960 – 1969
Klett-Cotta
2000 Seiten, 199,00 €
Leseprobe



Foto: Wolfgang Kraushaar, 2012
bei den Roemerberggesprächen in Ffm.

Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported


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