Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 

Home  Termine   Literatur   Krimi   Biografien, Briefe & Tagebücher   Politik   Geschichte   Philosophie  Impressum & Datenschutz


 



»Im Namen des Guten«

Anmerkungen zu einem Anti-Phrasenbuch
und ein kleiner Exkurs in die Vergangenheit

Von Gregor Keuschnig
 

Der Titel des neuen Buches von Alexander Kissler (Ressortleiter beim Magazin "Cicero") ist kämpferisch: "Widerworte – Warum mit Phrasen Schluss sein muss". Kissler sieht es als eine Pflicht an, 15 der gängigen Phrasen der letzten Jahre zu widersprechen, denn nicht die Lügen seien die Gefahr für das Denken, sondern die Phrase, so im Vorwort.

"Vielfalt ist unsere Stärke", "Das ist alternativlos", "Gewalt ist keine Lösung", das sich immer rasanter ausbereitende Credo vom allseitig notwendigen Respekt, "Unser Reichtum ist die Armut der Anderen", sowie die Mutter aller Phrasen der letzten Jahre "Wir schaffen das" – um nur einige der analysierten und sezierten Redewendungen zu nennen. Das Buch wendet sich diesen Phrasen in Texten zwischen fünf und zwanzig Seiten zu, wobei die Intensität der Besprechung Rückschlüsse auf die Phrasenhaftigkeit der Phrase, also der Notwendigkeit von deren Dekonstruktion zulässt.

Phrasen sind "Umwertungsversuche", sollen Gedanken lenken, Meinungsströme einhegen, Gewissheiten betonieren. "Die Phrase beginnt, wo das Denken endet", so Kissler an einer Stelle süffisant. Im harmlosen Fall ist es nur ein Werbespruch, der in den Kanon der Redewendungen einfliesst und sich dort zuweilen verselbständigt. "Zur Phrase wird ein Spruch, wenn er einen wahren Teilaspekt ausspricht und diesen zur ganzen Wahrheit erklärt." Kissler meint damit die politisch aufgeladenen Phrasen, deren Aussagen zu Gewissheiten erklärt werden. Bei der Lektüre stellt sich ein erstaunliches Erlebnis ein:  Die Phrasen werden von etlichen Massenmedien häufig gar nicht mehr befragt, sondern in einer bisweilen seltsam anmutenden Eintracht mit Politik und/oder Institutionen (NGOs, Kirchen, Wissenschaften) als Gebote angesehen und weiterverbreitet.

Wer diesen Phrasen nicht uneingeschränkt zustimmt, wer ihren Gebrauch kritisiert oder gar ablehnt, befindet sich sofort in einer von außen oktroyierten, moralischen Zwangslage. Kissler zitiert den linken Sozialphilosophen Ulrich Sonnemann, der sich in den 1960er Jahren "den Konformitätszwang in Adenauers Deutschland" feststellte und – mit einiger Berechtigung - gegen die "Diffamierung des Dagegenseins" eintrat. Fünfzig Jahre später wird das "Dagegensein" oft genug als Sakrileg an einen als absolut gesetzten Konsens angesehen. Der Deutsche als "Stabilitätsnarr im Konsenswahn". Fragend fährt Kissler fort, ob "Kritik, die heute vor allem eine Kritik der Phrase sein muss, noch oder wieder als Unbotmäßigkeit" gilt. (Sicherlich sind Phrase und Konsenswahn nicht unbedingt nur ein deutsches Phänomen.)

Eines der Kernstücke des Buches von Kissler bildet die Auseinandersetzung um den "Wir schaffen das"-Spruch Merkels vom Herbst 2015, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle. In sehr feinen Schnitten wird nicht nur der "Pluralis Majestatis" des Wörtchens "wir", der natürlich das Autoritätsgefälle zwischen Politik und Volk auf subtile Weise aufzeigt, seziert sondern er entwickelt anhand von Transkriptionen der Aussagen der Bundeskanzlerin in der "Anne Will"-Sendung vom 31. August 2015 die These, dass Merkels Handeln "die Welt" veranlassen sollte, "die Deutschen von ihrer Geschichte" freizusprechen. O-Ton Merkel: "Die Welt sieht Deutschland als ein Land der Hoffnung und der Chancen, und das war nun wirklich nicht immer so."

Bei aller Kritik muss man allerdings konstatieren, dass der Versuch einer Historisierung der Ereignisse einem Kontrollverlust der Regierung ob der Ereignisse geschuldet ist. Wenn man Robin Alexanders exakte Chronologie "Die Getriebenen" liest (bis heute gibt es kein Detail aus diesem Buch, welches seriös widerlegt wurde), wird die Hilflosigkeit der Handelnden deutlich. So handelt es sich beim "Wir schaffen das" zwar um einen "autoritären Verzweiflungsruf" (Kissler), aber er ist eben auch den Überforderungen der Protagonisten geschuldet.

Das angesprochene "Wir" in Merkels Phrase kann man womöglich noch als Versuch sehen, an das revolutionäre "Wir sind das Volk" von 1989 anzuknüpfen. Merkel wollte an einen Gemeinsinn appellieren bzw. anknüpfen, der besser aussehend sollte als seinerzeit Helmut Kohls Ausspruch von den "blühenden Landschaften". Die ehrlichen Ansprachen über die Herausforderungen der jeweiligen Ereignisse blieben zu Gunsten paternalistischer Durchhalteparolen, die bestenfalls das Volk narkotisieren, aus. Der Kollateralschaden dieses stümperhaften Agierend war, dass ein im Sommer 2015 politisch am Boden liegender politischer Haufen Gestriger wie weiland zum Frankenstein erweckt wurde.

Unklar bleibt, wer das "Wir" in "Wir schaffen das" sein sollte. Es wird appelliert an eine Gemeinschaft, eine Gesellschaft, die in dieser Form weder existiert besonders gewünscht war. Kissler vernachlässigt diesen Aspekt. Jegliches aufkommendes Gemeinschaftsgefühl war – mit durchaus guten Gründen – jahrzehntelang einer skeptischen Sichtweise unterzogen worden, galt insbesondere nach '68 als reaktionär. Intellektuelle wehrten sich 1989/90 gegen die Vereinigung mit der DDR. Sie begriffen die Spaltung als Urteil der Geschichte. Tatsächlich blühte im Westen längst der Individualismus der Babyboomer. Globalisierung und Digitalisierung potenzieren auf ihre jeweilige Art diese Entwicklung noch und machen aus dem "Ich" ein narzisstisches "Selbst". Ein "Wir", welches plötzlich zu einer gemeinsamen Reaktion ermutigt werden sollte, war außerhalb von Multikulti-Adepten mit ihren "Welcome"-Schildern nicht zur Hand. Daher erstaunen die Ausführungen des Ehepaars Münkler nebst deren "Vision" eines "neuem Wir", auf die Kissler zu recht kritisch rekurriert.

Die Mehrzahl der untersuchten Phrasen und Parolen, die zu Handlungsimperativen mutieren, hatten sich im Rahmen des Flüchtlingsdiskurses gebildet. Die Konzentration hierauf ist schade für das Buch, weil man sich auch die Dekonstruktion anderer Phrasen – von "Tragödie" über "Vision", "Nachhaltigkeit" bis hin zum "gesunden Essen" – gewünscht hätte. (Aber das Wünschen hat noch nie geholfen.)

An seiner Ablehnung von Merkels als Politik getarnten Überforderungsmanagements (mit recht seltsamen Verrenkungen, siehe "Türkei-Deal") der Jahre 2015ff lässt Kissler nicht nur keinen Zweifel aufkommen, er thematisiert dies zuweilen innerhalb seiner Vignetten zu den jeweiligen Phrasen. Das wirkt teilweise etwas überambitioniert und birgt die Gefahr, seine trefflichen syntaktischen Analysen als tendenziös gefärbt abzuwiegeln. Etwa wenn er Katrin Göring-Eckardts Diktum von der Vision eines "neuen Landes" zitiert - ein Ausschnitt aus ihrer Rede im November 2015 in Halle - und dies als eine durch die Migrationspolitik vorangetriebene "Umcodierung der deutschen Gesellschaft" interpretiert. (Ein aktuelles Europawahlplakat der Grünen spricht tatsächlich davon, ein "neues Europa" zu "bauen".) Er entdeckt darin sogar Parallelen zwischen ihr und Alexander Gauland - wenn auch mit diametral entgegen gesetzten Vorzeichen. Oder wenn in Anbetracht der Verweigerung der Grenzschließung im Herbst 2015 die Rechtstreue der Bundesregierung angezweifelt und die Kanzlerin als desintegrierend bezeichnet wird. Mit den Adepten der "offenen Gesellschaft", die sich in dem, was sie "Haltung" nennen suhlen und die Diskurse mit moralinsaurer Aggression führen, kann Kissler wenig anfangen; sie stehen bei ihm – nicht ganz unbegründet – unter Ideologieverdacht. Selbstverständlich ist das diskussionswürdig und interessant, aber ob dies dann im Rahmen einer Phrasenkritik in der gebotenen Tiefe möglich ist, kann man bezweifeln.

Das Buch ist immer dann stark, wenn Kissler sich auf seine stilistisch anspruchsvolle Sprachkritik konzentriert. Etwa wenn er den Fauxpas als den "natürliche[n] Aggregatzustand der Reden Merkels" hervorhebt. Oder in den Erörterungen zur Phrase, jedem sei unterschiedslos mit Respekt zu begegnen. Damit ist heutzutage immer mehr der "Applaus ohne Ansehung der Leistung" gemeint, eine "Achtung ohne achtenswerte Gründe". Kissler konstatiert (mit Hilfe von Kant, Hegel und sogar Max Stirner) die seltsam anmutende Verwechslung zwischen Würde und Respekt. Würde steht jedem Menschen per se ohne Unterschied zu – Respekt will erworben werden und existiert nicht als Wert an sich.

Manches stellt Kissler schlichterweg vom Kopf auf die Füße. Etwa wenn er den Vorwurf, Europas Werte würden im Mittelmeer ertrinken zunächst einmal dahingehend kontert, dass nicht Werte sondern Menschen ertrinken und dann auf die Verantwortung der Regierenden hinweist, vor deren Unfähigkeitsregime die Menschen fliehen. Und ja, es scheint fast anachronistisch zu sein auf den freien Willen und die Selbstverantwortung derer hinzuweisen, die sich auf Nussschalen übers Mittelmeer auf den Weg machen.

Kissler bezeichnet die Gegenwart als ein "Interregnum der entleerten Begriffe". Aber wie setzt sich diese "Zwischenphase" fort? Wer wird am Ende die Deutungsmacht über Begriffe und schließlich über die politische Verfasstheit der Gesellschaft haben? Das phraseninduzierte Unbehagen ist inzwischen längst auch bei den kritischen Geistern im universitären, sozialliberalen Milieu angekommen.

Womit man wieder im Adenauer-Staat angekommen zu sein scheint. Passend hierzu entdeckte ich folgendes Zitat:
"Man könnte […] sagen, daß heute überall, wo Menschen sich in die Brust werfen - dabei denke ich nicht nur an einzelne Menschen, sondern vor allem an das, was geschrieben, was durch die Massenmedien verbreitet, was getönt wird - und sich auf die Idee des Guten berufen, diese Idee des Guten unmittelbar, das heißt, soweit sie nicht der Widerstand gegen das Schlechte ist, immer und ausschließlich gerade das Deckbild des Schlechten ist. […] Auf der einen Seite nämlich ist der Haß auf das Böse heute wirklich im Namen des Guten zu etwas Zerstörendem und Destruktivem geworden, auf der anderen Seite ist das Gute, das sich selbst als Positivität aufwirft, anstatt nur das Böse als Index seiner selbst zu sehen, zu dem Bösen geworden."

Nein, hier schreibt kein Werte-Relativierer, Neu-Rechter oder Alt-Linker. Die obigen Zeilen stammen aus der 17. Vorlesung über "Probleme der Moralphilosophie" von Theodor W. Adorno vom 25.7.1963. Es ist jene Vorlesung über die Differenz von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik, in der er seinen inzwischen selber zur Phrase gewordenen Satz das "im falschen Leben ein richtiges nicht möglich sei" erläutert. Sofern es, so Adorno, überhaupt so etwas wie "eine Unterscheidung zwischen dem richtigen und dem falschen Leben gibt, ist sie wohl am ehesten darin zu suchen, ob man blind nach außen schlägt – und sich selber und die Gruppe, zu der man gehört, als Positives setzt und das, was anders ist, negiert -, oder ob man statt dessen in der Reflexion auf die eigene Bedingtheit lernt, auch dem sein Recht zu geben, was anders ist, und zu fühlen, daß das wahre Unrecht eigentlich immer genau an der Stelle sitzt, an der man sich selber blind ins Rechte und das andere ins Unrechte setzt."

Ob Alexander Kisslers "Widerworte" die "Reflexion auf die eigene Bedingtheit" im Jahr 2019 befördern wird? Oder ob einem in Anbetracht der sich "in die Brust" werfenden Moralisierer (nebst den mehrheitlichen Claqueuren in den Medien) nur das Hissen der weißen Fahne mit dem Wunsch, wenigstens in Ruhe gelassen zu werden, bleibt?

Sie können den Text hier kommentieren: Begleitschreiben.


Artikel online seit 16.04.19
 

Alexander Kissler
Widerworte
Warum mit Phrasen Schluß sein muß
Gütersloher Verlagshaus
208 Seiten
18,00 €
978-3-579-01474-6

 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik    Impressum - Mediadaten