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Eine Art Abschiedstournee

Michel Houellebecqs neuer Roman
»Serotonin«

Von Gregor Keuschnig

Es war gar nicht so schwer, all die Urteile und Kritiken zum neuen Houellebecq zu ignorieren. Zumal ich immer weniger dieses Perlentaucher-Efeu-Feuilleton aus FAZ, Zeit, SZ, taz, undsoweiter rezipiere, es interessiert mich fast gar nicht mehr. Sicherlich, ich bekam einige Schlagzeilen mit und dann jene üblichen Verdächtigen, die sich stolz bekannten, das Buch nicht gelesen zu haben, oder jene, die erklärten, warum man dieses Buch nicht lesen braucht, es sei von einem "alten, weißen Typen", so eine Literaturaktivistin, und man solle besser andere Autorinnen lesen, z. B. Siri Hustvedt, die aber, wenn man genau nachschaut, älter ist als Houellebecq und ebenfalls weiß und ich frage mich nun, ob man Siri Hustvedt als "alte, weiße Typin" oder "alte, weiße Frau" bezeichnen darf, ohne von der Sprachpolizei verurteilt zu werden.

Schließlich gab es noch einen Text, den ich auf  Facebook verlinkt fand, der im Teaser vorschlug, das Aufkommen an Houellebecq-Besprechungen und damit die Aufmerksamkeit für diesen Autor bewusst klein zu halten, aber dafür musste auch dieser Text erst einmal Aufmerksamkeit auf Houellebecq lenken, um zu sagen, dass man auf keinen Fall Houellebecq Aufmerksamkeit schenken darf. Und dann, wie mir ein Freund sagte, war da dieser Zeit-Feuilletonist zu der Erkenntnis gekommen, dass Houellebecq ein "neurechter Denker" sei (vermutlich wegen seiner dürren Spenglerrede) und ich dachte an diesen dampfplaudernden ehemaligen Spiegel-Kolumnisten, der seinerzeit Christian Kracht als "Neurechten" diffamierte und danach seufzte ich ob der Lebenszeit, die man mit der Beschäftigung solcher Seins-Nichtse wie Diez oder Soboczynski verschwendet.

Die Erkenntnis, dass die meisten Feuilletonbesprechungen insbesondere was Houellebecq angeht, nicht das Papier wert sind, auf dem sie gedruckt wurden, keimte bei mir spätestens nach Unterwerfung auf. Viele Rezensenten wollten sich mit der in der Geschichte angelegten politisch-gesellschaftlichen Frage, ab wann sich die Demokratie sozusagen selber zum Schafott führt, nicht beschäftigen, sondern deklarierten das Buch einfach zur "Satire". Andere beschäftigten sich mit der unplanbaren Parallele zwischen Erstveröffentlichung des Buches und den Anschlägen auf die Macher des Satiremagazins "Charlie Hebdo". Beides hatte wenig bis nichts mit dem Buch zu tun. Dass für derartige Arbeitsverweigerungen die Zustimmungsraten immer mehr sinken, darf niemanden mehr verwundern.

Nun also "Serotonin". Dem deutschen Leser fällt auf: wieder einmal Stephan Kleiner als Übersetzer. Ich glaube, es gibt inzwischen vier oder fünf Übersetzer von Houellebecq ins Deutsche und ich frage mich, warum es immer wieder ein anderer sein muss. Gibt es dafür Gründe? Wird die Position ausgeschrieben und der günstigste genommen? Aber vielleicht ist das nur ein Nebengleis. Wie üblich wird einem sofort der "Held" des Buches vorgestellt: er heisst Florent-Claude und hasst diesen Vornamen (ich nenne ihn daher nur noch Florent), aber, und das ist durchaus neu, er hasst seine Eltern nicht, im weiteren Verlauf des Buches spielen die Eltern eine wichtige Nebenrolle, aber dazu später.

Florent, der Ich-Erzähler, 46 Jahre alt, lässt den Leser nicht eine Sekunde darüber im Zweifel dass er ein Gescheiterter ist, ein "substanzloses Weichei", in "unerträgliche Leere" und "friedvoll, gefestigter Traurigkeit" lebend, mit übermässigem Nikotin- und Alkoholkonsum, aber eben inzwischen auch eine Tablette mit dem Namen "Captorix" konsumierend, ein neues Produkt, welches Stimmungen aufhellen soll, ein Anti-Depressiva ohne die gängigen Nebenwirkungen dieser Präparate. Hier kommt Serotonin ins Spiel, jenes Hormon, dass vor allem für die Gelassenheit, den psychischen Ausgleich zuständig ist, und so fühlt sich denn auch Florent, obwohl er eigentlich depressiv ist und sich anfangs beispielsweise nur mühsam zur Körperpflege aufraffen kann.

Zunächst hat man den Eindruck da erzähle jemand aus der Zukunft, denn die Präsidentschaft Macrons wird einmal als in der Vergangenheit liegend gemutmaßt, aber die Rechnereien, die Houellebecq dem Leser anbietet legen den Schluss nahe, dass da jemand aus der Perspektive des Jahres 2018, vielleicht 2019, erzählt und Florent ist damit 1972/73 geboren, in guten Verhältnissen (der Vater war Notar), behütet aufgewachsen. Er studierte auf einer privaten Landwirtschaftsschule, arbeitete in gut dotierten Anstellungen (bei Monsanto und dann im französischen Landwirtschaftsministerium). Obere Mittelschicht also. Zu Beginn der Erzählung lebt er von einem üppigen Gehalt, welches jedoch für Miete einer großen Wohnung in Paris und das Aushalten seiner japanischen Geliebten namens Yuzu zu 90% aufgebraucht wird. Daneben besitzt er ein Erbe, welches einen Kontostand von rund 700.000 Euro ausweist.

Nach kurzem Vorspiel beginnt es mit der Schilderung der Loslösung von Yuzu. Interessant, dass ausgerechnet sie die einzige Protagonistin im Buch ist, die man als Profiteurin der Globalisierung bezeichnen könnte, denn solange sie in Frankreich lebt, leben kann (ihr Gehalt ist bei weitem nicht ausreichend für ihr Luxusleben), muss sie nicht zurück nach Japan, wo wohl schon eine arrangierter Ehe auf sie wartet. Beide haben sich jedoch entfremdet, er schläft schon länger nicht mehr mit ihr, aber als er auf ihrem PC pornografische Videos entdeckt (vom Gangbang in seiner Wohnung bis zur Sodomie ist alles dabei), beschliesst er, sie zu verlassen und sozusagen rückstandslos zu verschwinden. Er gibt seinen Job auf, kündigt die Wohnung und besorgt sich bei einer anderen Bank ein neues Konto. Das geht binnen eines Tages. Schwieriger – drei Tage! -  ist es, ein neues Domizil zu finden. Der chronische Nikotinsüchtige benötigt ein Raucherzimmer, was, wie sich herausstellt, kompliziert ist, zumal auch noch der Pariser Bezirk der neuen Wohnstatt nicht ganz unwichtig ist. Als er sein Hotel gefunden hat, verschwindet er aus seiner Wohnung und lässt Yuzu gruß- und mitteilungslos zurück.

Die individuelle Zerstreuung Sex, die in Houellebecqs Romanen immer eine wichtige Rolle spielte, verflüchtigt sich für den Protagonisten des neuen Romans. Der "Kern seines Seins" schimmert nur noch zu Beginn hervor, wenn er an einer Tankstelle in Spanien zwei jungen Frauen hilft, den Reifendruck ihres Fahrzeugs zu überprüfen und dabei von einer Erektion "befallen" wird. Dies geschah vor der "Captorix"-Therapie, die zwar die latent drohende Selbsttötungsneigung bei Anti-Depressiva verhindert, dafür aber die Libido fast vollständig zum Erliegen bringt. Das hindert Florent zwar nicht von den sexuellen Vorzügen seiner ehemaligen Geliebten zu erzählen, aber der Held, so hat man das Gefühl, erzählt von einer sehr fernen Zeit, ähnlich einem Bergsteiger, der seit Jahren nicht mehr das Haus verlassen hat. Da helfen auch die wuchtig eingestreuten Vulgarismen wie "Schlampe", "Möse" oder ähnliches nicht mehr – es bleibt maulheldenhaft und vielleicht, so denkt man als Leser, möchte der Autor nur ein bisschen provozieren und das dürfte bei den blankliegenden Nerven der Sprachkorrekten ganz gut funktionieren.

Geblieben ist das letzte Abenteuer der 10er Jahre des 21. Jahrhunderts: Das Rauchen. Es ist für Florent geradezu eine heroische Widerstandsgeste gegen die Gesellschaft, den Rauchmelder in Hotel- oder sonstigen Schlafzimmern unbrauchbar zu machen und wo dies durch die Deckenhöhe von 4 Metern nicht geht bleibt nur die Übernachtung auf dem Balkon. Da ist sie, die Diskrepanz zum deutschen Leser, der in den Diskussionen der letzten Monate als ultimativ letzte Freiheit das Autofahren ohne Tempolimit angedient bekommt.

In einer Mischung aus Sentimentalität, Langeweile und Neugier begibt sich Florent auf eine Art Abschiedstournee und sucht ehemalige Geliebte und Freunde auf. Den Anfang macht eine gewisse Claire, eine immer noch arbeitslose, inzwischen dem Alkohol verfallene Schauspielerin, mit der ihm, wie er feststellen muss, nichts mehr verbindet (wie gesagt: der Sex scheidet aus; Claire scheitert). Dann geht er in die Normandie und besucht Aymeric, einen Studienfreund, der sich gegen einen gut bezahlten Job in der Industrie entschieden hatte und nun Milchwirtschaft nach ökologischen Regeln betreibt. Mehr als ein Jahrzehnt ist seit seinem letzten Besuch vergangen, und Aymeric ist inzwischen "verdrossen, verstockt und verzweifelt", auch er Alkoholiker, die Frau ist mit den beiden Kindern weg. Die Freunde schweigen, trinken und berauschen sich an einer Aufnahme von Child in Time 1970. Aymerics Ideale sind noch da, die Kühe werden von Hand gemolken, bekommen kein Turbofutter, die Einnahmen sind aber bescheiden und auch die Bungalow-Vermietung auf dem großen Grundstück funktioniert nicht (nur ein pädophiler Deutscher bewohnt eines der Häuser). Als die EU die Milchquoten abschafft, stehen die Bauern vor dem Ruin. Es kommt zum Thomas-Müntzer-mässig inszenierten Aufstand, zur Konfrontation mit der Polizei. Zehn Landwirte sterben, Aymeric bringt sich um. Florents Schockzustand ist von kurzer Dauer.

Immerhin: Zwei Frauen waren da, zwei Möglichkeiten, sein Glück zumachen. Beide Male gescheitert. Da war Kate, mit der man "die Welt [hätte] retten können", die er aber in einem entscheidenden Moment einen Augenblick zu spät angerufen hatte. Und dann Camille, die ehemalige Praktikantin, zehn Jahre jünger, mit der er fünf Jahre zusammengelebt hatte, die "schönsten Jahre" seines Lebens. Vorbei. Und das nur, wegen Tam und ihrem "hübschen kleinen schwarzen Hintern".

Camille hat sich als Tierärztin niedergelassen. Er findet und beobachtet sie und ihre Kinder (unter anderem einen vierjährigen Jungen) nun über Wochen, traut sich nicht, sie direkt anzusprechen. Sie lebt alleine; kein Mann, kein Geliebter in Sicht. Irgendwie kommt er auf die Idee den Sohn zu erschießen um dann als emotionaler Retter aufzutauchen und da bekommt das Buch für kurze Zeit eine Wendung, die einem fast das Blut in den Adern gefrieren lässt, denn mit welcher perverser Schein-Logik der Ich-Erzähler den Mord an dem Kind rechtfertigt als er den Kleinen beim Puzzlespielen auf der Terrasse im Visier seines Gewehrs hat, ist wirklich schockierend, viel schockierender als das provokative Herumgerede über "Schwänze" und den Tourismusgiganten Franco.

Der Rezensent ist nun in dem Dilemma die Auflösung mitliefern zu müssen oder den Leser aufzufordern, nicht weiter zu lesen. Denn zum Mord kommt es nicht, was man erahnen kann, da für Florent vorher bereits Schießübungen mit beweglichen Zielen wie Vögeln nicht möglich waren. Er fährt indessen nach Paris, braucht ein neues Rezept für sein Psychopharmaka. Da ist der Roman auch schon fast zu Ende, noch 30 Seiten schleppt er sich dahin, Houellebecq hatte wohl keine Lust mehr, lässt seinen immer mehr verfetteten Protagonisten (noch eine Nebenwirkung des Medikaments) eine Wohnung in einem anonymen Hochhausviertel in Paris beziehen, wo er mit den noch verbliebenen 200.000 Euro (die Hotelaufenthalte!) sich buchstäblich zur letzten Ruhe, in der nur noch der Sport und die Naturdokus im Fernsehen von Interesse sind (später nicht einmal mehr der Sport), niederlässt aber immerhin – eine letzte Aktion - eine Wand mit Ausdrucken der Fotos seiner glücklichsten Augenblicke tapeziert und er imaginiert schon den Makler nach seinem Ableben, wie er für einen kurzen Moment erstaunt über diese Fotowand ist und dann den Auftrag zur Entfernung gibt.

Man kann und muss dieses Buch kritisieren, man kann es womöglich ablehnen, kann diese Sprache furchtbar finden, die Figur erbärmlich, die EU- und Globalisierungskritik, die in Nuancen durchschimmert, banal, die inflationär eingesetzten Markenproduktnamen fragwürdig, die detaillierte Topographie von Paris und der Normandie langweilig (und man kann, mit ein bisschen Geschick, die letzten beiden Stilmittel auch erklären). Und ja, literarisch ist es dürftig. Aber unter diesen Schichten, zwischen diesen Tiraden beispielsweise auf die Holländer, die Deutschen, Thomas Mann und Marcel Proust, das "Rindvieh" Goethe, die "umweltbewußten Kleinbürger", kurz: auf Gott und die Welt, diesem Gemaule, das manchmal an (den späten) Thomas Bernhard erinnert und sich dann doch so groß davon unterscheidet, denn Florent ist wie auch beispielsweise Bruno aus "Elementarteilchen" oder auch die namenlose Hauptfigur aus dem "Kampfzone"-Roman ein verdeckter Romantiker, ein Sehnsüchtiger, der nicht nur verzweifelt ist, sondern auch verzweifelt versucht, nicht in Zynismus abzudriften und das ist der Unterschied zu den Figuren Bernhards, die mit ihrem eingängigen Witzeltum die Feuilletonstuben amüsieren und eine besondere Verachtung für den "Kleinbürger" darstellen, darin sind sie sich einig, Houellebecq und Bernhard, freilich eine fragile Gemeinsamkeit.

Wenn Florent dann erzählt von seinen Eltern, diesem stillen Einverständnis zwischen den beiden, dem, was man trivial oder treffend "Liebe" nennen könnte, und dann dem unheilbaren Gehirntumor des Vaters (er ist 64, die Mutter 59) und deren gemeinschaftlicher Selbstmord in Stefan-Zweig-Manier, händchenhaltend, dann spürt man plötzlich diese Sehnsucht, dieses Verlangen nach dem Einssein mit einer Welt und vor allem die Wehmut über die verpassten Chancen mit Kate und Camille, eine Wehmut, die man fast als Kitsch denunzieren könnte, aber sie ist so gut versteckt, dass sie kaum auffällt. Und dann ist der mit vulgärer Volte vorgebrachter Ratschlag an Aymeric nicht mehr so abwegig, die Milchwirtschaft und all seine hochgesteckten, aber von der Gesellschaft eher gleichgültig betrachteten Ambitionen aufzugeben, sich eine Frau werweisswoher (Moldawien vielleicht) zu suchen und mit ihr und ihren bescheidenen Glücksbedürfnissen in Frieden und Harmonie in Symbiose mit einem eigentlich verhassten Finanzkapitalismus zu leben.

Florent ist, so wie ihn der Dichter schildert, eigentlich eine Spur zu klug für diesen ostentativen Selbsthass, was nichts weniger als das literarische Unvermögen des Dichters Houellebecq aufzeigt, Situationen und Stimmungen zu zeigen, zu evozieren, statt sie dauernd zu erklären, zu behaupten. So macht er aus Florent einen Jammerlappen, der sich in seinen selbsterfüllenden dystopischen Prophezeiungen einrichtet. Es ist ein Innerlichkeitsroman, aber seine Innerlichkeit ist anders langweilig als die der Innerlichkeitsliteratur in den 1970ern – sie ist vorausberechenbar, fatumhaft, ausweg- und trostlos. Es ist natürlich das gute Recht eines Autors, seine Figur derart vorzuführen. Aber es ist schon fatal, dass damit Entfremdungsszenarien der Gegenwart derart fahr- wie nachlässig diffamiert werden.

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Artikel online seit 29.01.19
 

Michel Houellebecq
Serotonin
Roman
Ins Deutsche übersetzt von Stephan Kleiner
DuMont
330 Seiten
24,00 €
978-3-8321-8388-2

 

 


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