Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 

Home  Termine   Literatur   Krimi   Biografien, Briefe & Tagebücher   Politik   Geschichte   Philosophie  Impressum & Datenschutz


 



Jürgen Habermas 2019 – 90 Jahre jung

Eine Bestandsaufnahme

Von Peter V. Brinkemper

Jürgen Habermas’ Jubiläums-Vortrag am Mittwochabend, dem 19. Juni 2019, ein Tag nach seinem 90. Geburtstag, wurde durch einen Feuerwehr-Fehlalarm an der Goethe- Universität Frankfurt unterbrochen. Der Redner, dessen Vortragstitel »Noch einmal: Zum Verhältnis von Moralität und Sittlichkeit« lautete und der auf bekannten Wegen zwischen Kant und Hegel, Ethik und Sozialphilosophie, zwischen seiner eigenen Positionen der skeptischen Diskurstheorie und der transzendentalen Letztbegründung von Ethik durch seinen alten Mitstreiter Karl Otto Apel (1922-2017) wandelte, kommentierte die zwischenzeitliche Räumung der auditiv zueinander geschalteten Säle mit 3.000 Besuchern als Zeichen für »zusätzliche Publizität«.

Ein Mentekel: Habermas, unverdrossen wirksam im akademischen Raum, der immer mehr durch die elektronische Brandung und Entropie der digitalen Effekte einer entfesselten und mikroskopisch zersplitterten Öffentlichkeit angegriffen und perforiert wird? Ein spätmoderner Nachkriegs-Denker, der mit einer damals unerhörten und unerlesenen Militanz philosophische Versenkung und journalistische Polemik derartig überkreuzte und zuspitzte, dass er ab den 1960ern, 70ern und 80er Jahren, vor allem im Perspektiven aufreißenden Historikerstreit über die faktisch und normativ angemessene Bewältigung statt Entsorgung der nationalsozialistischen Vergangenheit und der falschen Vergleichbarkeit von Hitlers Holocaust und Stalins Massenmorden, zu einem der Chefintellektuellen im deutschen und europäischen Raum aufsteigen konnte.

Explosive Überkreuzung von Philosophie und Journalismus - damals und heute

Man darf sich diese Überkreuzung von Philosophie und Journalismus keineswegs gering vorstellen. Schon gar nicht aus der damaligen Nachkriegsperspektive der traditionellen bis reaktionären Meisterdenker und rehabilitierten Professoren, die ihre braune Vergangenheit abstreiften oder wie Heidegger geschickt maskierten und sardonisch in testamentarische Sonderpublikationen eines Dr. Mabuse wie Atommüll ablagerten. Aus dieser Perspektive eines angeblich intakten und vorgeblich apolitischen Elfenbein-Turmes war das Denken und Schreiben der Eigentlichkeit und Ewigkeit gewidmet und das journalistische Wort dem Alltagsgerede und dem Parteiengezänk einer mehr oder minder verachteten Nachkriegsrepublik überlassen (während Heidegger doch selbst die Hoffnung der Bewegung des Dritten Reiches prophetisch geteilt hatte), in einem Land, das sich nun um seine eigenen Voraussetzungen einer vorgetäuschten Normalität zwischen Wiederaufbau, Westintegration und Verdrängung des NS-Erbes drehte.

Philosophie und Journalismus sind scharfe Klingen - auch aus heutiger Sicht der Fehlentwicklung des digitalen Diskurses, in dem durch ein ehemals utopisches Internet und seine kommerzielle Kolonialisierung durch Google, Facebook und Instagram das Potential einer diskursiven Individualkommunikation (in der stabilen und reflexiven Situation eines Schreibtisches mit PC)  zu einem standardisierten, nonverbalen, multimedialen Massenphänomen von überall spontan handelnden Smartphone-Besitzern herabgesunken ist, wenn die hochmobilen und von alltäglichen Kontexten entgrenzten Beteiligten ungefragt als Datenlieferanten und Stoffproduzenten benutzt und missbraucht werden und sie sich, bei offizieller Erklärung der digitalen Konzernauguren über soeben festgestellte Sicherheits-Risiken, auch weiterhin benutzen und missbrauchen lassen.

Im Lichte der Habermasschen Subjekt- und Öffentlichkeitsphilosophie mit ihrer Mehrstufigkeit an Reflexions- und Sachniveaus hätte es außerhalb abnormer technisch-ökonomischer Zwänge und Entwicklungen, durch den Druck des materiell-wirtschaftlichen Systems auf die Interessen der Lebenswelt und die darin eingelegte Öffentlichkeit und rational mögliche Kommunikation, bei ausreichend Widerstand niemals eine solche rasante Nivellierung gegeben: durch die Entwicklung von 2,23 Milliarden Facebook-Nutzern oder 330 Millionen monatlich aktiven Twitter-Kurznachrichtenverfassern mit individuell bis zu über 100 Millionen Followern. Unfassbar und undenkbar, nach Habermas, was hier passiert ist: Ein Phänomen der Schnellausbreitung von vorgeblichen Nachrichten und Botschaften bei Facebook, zwischen eitler Zurschaustellung, verdeckter Werbung, Missbrauch, Real-Horror und Spam, Fake und Realität in miteinander befreundeten Gruppen, unter maximalem Risiko von Fremd-Manipulation und begieriger imaginärer Selbstbestätigung; und der ebenfalls durch die Sucht nach maximal vielen Followern ausgelösten Subjektivierung, Selbstentblößung und Verschmelzung von Kommentar und Fakten bis hin zur massiven Irreführung oder alarmistisch-katastrophalen Anstachelung der Print- und TV-Medien durch Facebook und Twitter (allen voran durch den US-amerikanischen Präsidenten Trump im Wahlkampf und im Amt seit Januar 2017).

Die faktische elektronische Fehlentwicklung hochindividueller und vor allem schrankenlos unzensierter Kommunikation und herausposaunender Verbreitung von ehemals Privatem und Vertraulichem mit ihren Schreckgespensten von Aufmerksamkeits-Fixierung, kommerziell ausbeutbarer Meinungsführerschaft, Vorratsdatenspeicherung, Big Data, Smart Data, Gesichtserkennung, GPS-Verortung, fahrlässiger Selbstpreisgabe von wichtigen Daten, »Bitcoin« und konzernimmanenten Währungen wie Facebooks »Libra«, Umschichtung und Auflösung ganzer Lebensbereiche, Handels- und Industriezweige (wie durch den Konzernkraken Amazon) – all dies läuft auf die transhumane und spätneoliberale Schaffung eines »entfesselten« digitalen Menschen hinaus, der sich den elektronischen Medien in nie gekanntem Maße unterjocht und im Augenblick des Konsums seine letzten Entscheidungen als Zuckungen unter dem Imperativ des Jetzt und der ihm untergeschobenen aktuellen Kaufvorhersagen und biographischen Prognosen trifft.

In Habermasscher Terminologie: Die Interessen einer durch Autonomie und Mündigkeit geleiteten Lebenswelt werden massiv perforiert und transformiert durch die Kolonisation des elektronifizierten Spätkapitalismus, der nach der Weltfinanzkrise 2007/8 keineswegs gezähnt ist, sondern immer weitere Breschen in das politische, soziale und lebensweltliche Terrain der Menschen nicht nur in den ehemaligen Wohlstandsländern, sondern in den globalen Lebensbedingungen schlägt.    

Eine vakante Stelle: der kritische philosophische Gegenwartsintellektuelle

Dieser digitalen Bestandaufnahme steht aber nun ein reziproker Befund entgegen: Die Rolle der kritischen philosophischen Gegenwartsintellektuellen und risikobereiten Journalisten ist immer dünner besetzt, um nicht gleich zu sagen: vakant.

Der Printbereich von Buch und Journalismus ist derzeit selbst von Finanzproblemen, Absatzschwäche, Fusion von Analog- und Digitalredaktion sowie Verkäufen und Konzentrationsprozessen erfasst. Der Streit um die im März 2019 verabschiedeten Urheberrechtsreform der EU, insbesondere Artikel 11 und 13, wirft ein Licht darauf, wie digitale Öffentlichkeit und Produzenten-und-Verwerter-Gruppen, und das heißt auch: junge versus ältere Medien-Generation bewusstseinsmäßig noch weit auseinanderliegen: zwischen der Seite des Alles-Gratis-Bewusstsein und der damit gekoppelten voraussetzungslosen Informations- und Meinungs-Freiheits-Credo und der Seite der Autoren und Künstler, die für ihre weitergehenden und oft leichtfertig unterschätzten Leistungen der Recherche, Formulierung und kreativen Gestaltung ein Entgelt beanspruchen.

Zurück zur Vakanz des Intellektuellen an der vielleicht nicht mehr aktuellen Spitze der Pyramide: Habermas teilte sein Schreiben ein in philosophisch-hermeneutische Studien, in soziologisch-forschungstrategische Theoriebildung und parteikonforme Programmatik, und in jeweils aktuelle journalistische Polemiken, Eingriffe und Rezensionen. Diese verschiedenen Schreibstile überlagern und durchdringen sein Werk auf überaus fruchtbare Weise. Auch dort, wo es in weniger überzeugender Aussage und Gestalt dem Leser entgegentritt.

So stellt sich die Frage, ob die klassischen Begriffe, Leitbilder und Ideale von Selbst-Aufklärung, Selbstbefreiung, Vernunft, Wahrheit und Emanzipation, wie noch bei Kant oder Rousseau, heute jene aktuelle und unbestechliche Geltung und revolutionäre Energie für die Begründung einer diskursiven Moral und einer diskursiven Politik besitzen, in der alle Bürger als unabhängige Subjekte ernstgenommen werden und sich durch sich selbst, durch Anstrengung und Arbeit, durch errungene Besonnenheit, Unabhängigkeit, Bildung und Reflexion auf das Niveau einer professionellen Anerkennung auf der Basis von Ethik und Politik erheben, die jedem banalen, bequemen und wütend-denkfeindlichem Populismus in kühler Sachlichkeit trotzt.

Theoretischer Idealismus, soziologische Programmatik und parteipolitisch kompatible Vision sowie von daher souveräne theoriegeleitete Intervention, diese Faktoren gehen im derzeitigen Markt der philosophischen und gesellschaftlichen Publikationen und in der konvergenten Mitte der profillos gewordenen Politik verloren: Die aktuellen Autoren erweisen sich in ihrer intellektuellen Kraft und ihren hermeneutischen Eigensinn als recht schwach. Auf ihren Produkten liegt der Makel einer permanent ungeklärten Nebentätigkeit, die keine Hauptsache mehr kennt, aber eine solche per Seminar-Hypnose verkauft. Wohl oder übel übernehmen sie ältere und neuere Begriffsraster, beugen sie sich aber dem tagespolitischen Ereignisdruck, schließen sie sich der rein Technologie-geleiteten Debatte an oder verfassen konforme verhaltenspsychologische Traktate zu einem erfolgreichen Umgang mit dem derzeitigen Internet. Im Mittelpunkt steht eine ratlose, mal tröstende, mal dystopisch drohende Rezeptologie, die selbst nur Content und Kundenappell im reißenden Fluss digitaler Entwicklung ist.

Žižeks einfühlsame Anbetung des Status-Quo

Sogar der Star-Denker Slavoj Žižek (Jahrgang 1949) resigniert in neuer Unerbittlichkeit im Status-Quo: In »The Courage of Hopelessness« – zu Deutsch: »Der Mut der Hoffnungslosigkeit« (2017/18) kritisiert er zwischen Hegel-und-Lacan die noch frische und noch unverstandene Trauer und Verzweifelung der US-amerikanischen Demokraten und Liberalen angesichts des knappen Wahlsiegs von Trump als extreme Form elitärer Dummheit im Angesicht des spürbar heraufgezogenen Populismus. Dabei wechselt Žižek die Seite, indem er mit seinen psychoanalytisch-dialektischem Instrumentarium schon fast in übertriebener Einfühlsamkeit der in Gestalt Trumps an der Spitze der gesellschaftlichen Pyramide ausbrechenden großen Dreistheit von Lüge und Fake-News als Korrelat der düster-politikfeindlichen Stimmungslage an der Basis in der massenweise ressentimenthaft, auch mit Schauermärchen, hochgezüchteten Anti-Hillary-Clinton-und-Anti-»Establishment«-Wählerschaft auf die Spur kommt. Zu Recht macht er die Verblendung der Bill-und-Hillary-Clinton-Fraktion im Rahmen des Vorwahlkampfs der Demokraten für den Totentanz ums Weiße Haus mitverantwortlich, sich geradezu royal die Kandidatur nach dem Obama-»Interim« zuzuschanzen, unter Unterdrückung junger sozialistischer, feministischer und linksliberaler Stimmen, zunächst unter der Führung des dann ausgebooteten Bernie Sanders.

Aus Habermas’ Sicht begeht Žižek hier drei Verneinungen der Philosophie:

- Erstens die Leugnung der genuinen akademischen Position, die unverrückbar so etwas wie Vernunft, Reflexion und Widerstand gegen den missbrauchten »Populismus« allererst im Interesse aller Bürgerinnen und Bürger begründet, als Basis einer streng-symmetrischen und niveauvollen Kommunikation, auch wenn die Ressentiment- und Wutwähler aus dem »naturalistisch determinierten« Underdogmilieu eines Bible-, Corn- und Rust-Belt kommen und angeblich so und nicht anders denken und wählen konnten.

- Zweitens die theoretische Modellbildung und ihre kommerzielle Instrumentalisierung, die bei Žižek zwar nicht die Geflissenheit eines rezeptologischen Technokraten des Internet annimmt, sondern eines larmoyanten Katastrophen-Dialektikers, der in einer Nussschale auf der fluiden Dynamik der kruden »Realität« selbst fast-philosophie-frei-und-scheinbar-pur-journalistisch im Meer der Lügen und Fakes der Jetztzeit surft.

- Drittens die Geste der Fast-oder-So-gut-wie-Kapitulation vor dem Gau, als letztes Purgatorium durch die Hölle der populistischen Katastrophe wie in den USA oder in ähnlichen Strömungen in Europa, durch die Orgie der resignativen und oft selbstgeißelnden Beschreibung des slowenischen Philosophen.

Dem widerspricht als erster realer Hoffnungsschimmer der anschließende selbstreinigende Midterm-Wahlkampf 2018 und Wahlsieg im US-Kongress der sich nach Links und in Richtung MeToo und Politikerinnen-Aktivierung ausdifferenzierenden und verjüngenden Demokraten als Basis für eine weitere kritische Konfrontation mit dem Trump-System und seiner Überwindung bei der nächsten Präsidentschaftswahl 2020.

Habermas’ Sollbruchstelle zwischen Relevanz und Utopie – Stärken und Schwächen

In Habermas’ Sollbruchstelle zwischen politisch-sozialstrategischer Relevanz und seinem poetisch-philosophischem Utopismus, in der behutsamen, bisweilen überschwänglichen Modernisierung traditioneller und klassischer Ideen und Begriffe liegt seine genuine Risikobereitschaft, Ausdrucksstärke und intensive Botschaft, die manchen heutigen Denkern schlichtweg abhanden gekommen ist und zu Positionsmangel, Traditionsverlust, Terminologieschwäche und Gedankenarmut führt.

Man vergleiche hier ohne Reue die Schärfe der Argumentation in »Eine Art Schadensabwicklung« als Auftakt zum Historikerstreit (1986) und als Kommentar zum schamlos provinziellen Verständnis der kriminellen Politik des Dritten Reiches zwischen Antisemitismus, Endlösung und Demokratieunterdrückung wie als Einschätzung zu den heutigen ruchlosen provokativen Rückwendungen zur normalgeredeten NS-Zeit am rechten politischen Rand.

Man halte dagegen und Habermas’ idealistisch-überschwängliche Art in »Ach, Europa« (2008) und »Zur Verfassung Europas« (2011), wo er jenseits des pragmatischen Zwists zwischen Kommission, Rat und Parlament auf europäischer Ebene für die Abstimmungen und Wahlen auf der Bürgerebene und für die Stärkung des Parlaments votiert und ein geradezu utopisches Verständnis der Rolle der Europäer entwickelt, die zwischen Nationalstaat, Transnationalität und Weltbürgerrolle zu unterscheiden lernen und dem weiteren Aufbau einer fiskalischen Union mit politischen und sozialen Handlungsinstrumenten bedenkenlos zustimmen könnten. Die Diskurstheorie auf den Spuren eines übernationalen Wählerverhaltens hinein in einem Finanz- und Sozialraum, der nun seinerseits von Europa her krisenfest gegen widrige Kriseneinflüsse, aber auch ungehorsame Mitgliedsstaaten vermachtet werden sollte. Aber wie weit könnte diese Gerechtigkeitsvision von den taktierenden Kräften ernsthaft und bürgernah realisiert werden? 2011 kritisierte ein ungeduldiger Habermas Angela Merkels Politik der inhaltsleer gewordenen Mitte und der verpassten Chancen und in Europa als »ziellos, machtorientiert und opportunistisch«, ein Agieren, letztlich versteckt hinter den Kulissen. Im europäischen Führungsanspruch der Bundesrepublik, die ihr eigenes ungeklärtes nationales Anliegen als primär wirtschaftliches Interesse und Selbstbedienung gegenüber den anderen Mitgliedsstaaten durchzusetzen drohe, werde der höhere Anspruch, auf europäischer Ebene gemeinsam politisch wirksam zu handeln, in bloßes Taktieren verwandelt, auch um die logische Abfolge der Finanz-, Schulden- und Europa-Krise politisch zu entschärfen und auszubeuten, statt sie definitiv zu lösen. 2015 nahm Habermas Merkel angesichts ihres »Wir schaffen das« zur Flüchtlingswelle wiederum in Schutz.

Selbstprüfung statt Fingerzeig auf andere

Kants berühmter und durch seine Vielzitierung abgenutzter Text »Was ist Aufklärung?« ist ein mühevoll errungener Text aus der Feder eines Klassiker, der seine eigene akademische Gelehrtheit noch abwerfen musste, um die fast journalistische Eleganz und Popularität bestimmter wohldurchdachter Formulierungen im Text zu verdeutlichen.

Der »Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit« meint genau nicht die Schuldzuweisungen, die aktuell im Netz von wechselseitigen Spaltungen, Gruppenbildungen, Missverständnisse, Echokammern, Neidereien, Beleidigungen und Herabsetzungen sowie dem großen Zeigerfinger der einseitigen Verdammung bestehen. Im Gegenteil, die rigorose Bereitschaft in einem inneren und kollektiven Theater der radikalen Selbstprüfung und des geduldigen Ertastens und Voranschreitens über die Hürden, Klippen und Untiefen eines noch nicht in Gänze sondierten Problemhorizontes.

Und die klassische, freie oder kritisch befreiende Sprache, die hier gesprochen und geschrieben wird, ist die Goethes und Heines, und Herders, gerade derjenigen aus der Abhandlung »Über den Ursprung der Sprache«, die den nicht-metaphysischen »Ursprung« der Sprache und Kommunikation zwischen kreatürlicher Expression und verstandesmäßiger Besonnenheit in einer Doppelfunktion feststellt, in der sich das profane »Mängelwesen Mensch« eben ohne göttliche Inspiration, ohne tierische Instinktleitung und in allzumenschlicher Schutzlosigkeit und Hilfs- und Lern-Bedürftigkeit verlautbare (Züge, die heute völlig entfremdet als genetisch-neuronale Argumentation der vorlauten elektronischen Maschinerie unterschoben werden).

Der Mensch als Mängel-, aber auch als emanzipatorisches Vernunftwesen, - nicht umsonst war es einer der frühen Einträge von Jürgen Habermas in der Verlagswelt, als sein Artikel zur Philosophischen Anthropologie 1958 im Fischer-Lexikon Philosophie erschien. Hier brach sich zwischen dem kritisierten Gehlen (und seiner späten mechanischen Institutionenlehre als sozialer Instinkt- und Reflexionsersatz) und dem gewürdigten liberalerem Plessner wiederum Habermas’ typische Kopplung von Engagement und Objektivität, reflexiver Bewertung und Distanz des wissenschaftlichen Denkens Bahn.

Man darf voller Erwartung sein, wie Habermas in seinem angekündigten 1700-Seiten Philosophie-und-Religion miteinander verknüpfenden Werk »Auch eine Geschichte der Philosophie« (Band I: »Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen«; Band II: Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen«) den Rekurs auch zu Herders nichtlinearer und nichtteleologischer »Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit« (1774) zustandebringen wird. Oder wird sie nur von parabolischem Einfluss für den Titel bleiben? Habermas als der bisher nicht erkannte stringente Paraboliker und Zitatenkünstler der Klassik und der Nachkriegsmoderne, dechiffriert an der Schwelle zum entfesselten digitalen Jahrhundert?


Artikel online seit 21.06.19
 

Foto by Wolfram Huke
creative commons 3.0

 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik    Impressum - Mediadaten