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Identitätspolitik gefährdet die Demokratie

Francis Fukuyama untersucht in seinem neuen Buch »Identität«
wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet

Von Phillip D. Th. Knobloch
 

Die liberale Demokratie ist in Gefahr. Und das liegt laut Francis Fukuyama an spezifischen Formen der Identitätspolitik, die mittlerweile in den liberalen Demokratien dominant geworden sind. Vor allem die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten und das Votum für den Brexit in Großbritannien hätten ihn motiviert, über die gegenwärtige Bedeutung von Identität und Identitätspolitik nachzudenken. Denn beide Wahlen hätten gezeigt, dass der internationale Trend in Richtung eines populistischen Nationalismus nun sogar die »beiden führenden Demokratien« (S. 12) erfasst habe. Um die Krise der liberalen Demokratien besser zu verstehen und Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen, setzt sich Fukuyama daher in seinem neuen Buch mit dem Thema »Identität« auseinander.

Bekannt ist Fukuyama vor allem für seine Thesen zum »Ende der Geschichte«, die er in der Zeit um 1990, also am Ende des Kalten Krieges, veröffentlichte. Da der Mensch nach Anerkennung seiner Würde strebe, und sich nur in liberalen marktwirtschaftlichen Staaten alle Bürger gegenseitig als grundsätzlich gleich- und vollwertige Personen anerkennen, müssten sich derartige Staatsformen früher oder später weltweit ausbreiten. An diesen Thesen hält Fukuyama auch immer noch fest, stellt sie daher auch in »Identität« nicht zur Diskussion. Nicht bedacht hatte er jedoch damals, wie er selbst im Vorwort des neuen Werks bemerkt, dass liberale Demokratien auch verfallen oder sich rückwärts entwickeln können. Daher widmet er sich nun verstärkt diesen Tendenzen.

Fukuyama entwickelt sein Verständnis von Identität im Ausgang von Platon. Von diesem übernimmt er die bereits erwähnte Idee, dass die Seele nicht nur einen begehrenden und einen vernünftigen, sondern auch einen dritten Teil habe: Thymos. Damit sei gemeint, dass sich Menschen nach positiven Urteilen über ihren Wert und ihre Würde sehnen, und von anderen entsprechend anerkannt werden wollen. Anerkennung könne zu Stolz, fehlende Anerkennung jedoch zu Zorn oder Scham führen. Für moderne Menschen sei darüber hinaus kennzeichnend, dass sie zwischen einem inneren und einem äußeren Selbst unterscheiden, sozusagen zwischen gesellschaftlichen Rollen und Zuschreibungen einerseits, und einer – meist unterdrückten – wahren, authentischen Identität andererseits. Entscheidend sei dabei, dass das innere Selbst höher bewertet werde als das äußere. Dieser Gedanke stamme ursprünglich von Luther, und sei dann von Rousseau säkularisiert worden. Darüber hinaus beruhe der moderne Identitätsbegriff auf der Idee, dass allen Menschen Würde zukomme, und diese entsprechend anerkannt werden solle. »Durch die Erweiterung und Universalisierung der Würde wird die private Suche nach dem Selbst zu einem politischen Projekt« (S. 56). An dieser Stelle kommt Fukuyama dann wieder kurz auf Hegels Idee zu sprechen, dass mit der Konsolidierung von liberal-demokratischen Staaten und der konstitutionellen Verankerung der Menschenrechte auch die Menschheitsgeschichte, verstanden als eine Geschichte der Anerkennungskämpfe, an ihr Ende gekommen sei.

Liberale Gesellschaften schützen die Autonomie der einzelnen Menschen und bieten damit viel Raum zum Ausdruck ihrer Individualität. Verschwindet nun aber »ein stabiler gemeinsamer moralischer Horizont« (S. 76) und damit die Möglichkeit, sich an gesellschaftliche Vorgaben anzupassen, so könne diese Freiheit auch zu Identitätskrisen, und zu einer neuen Suche nach einer gemeinsamen Identität führen. Historisch habe dies in Teilen Europas zu einem bedrohlichen Nationalismus geführt, der, ähnlich wie derzeit der Islamismus in der muslimischen Welt, neue Möglichkeiten kollektiver Identifikation eröffne. Daher können für Fukuyama »Nationalismus und Islamismus […] als zwei Seiten derselben Medaille betrachtet werden« (S. 79).

Eigentlich ist es verwunderlich, so Fukuyama, dass trotz weltweit wachsender Ungleichheit innerhalb der Staaten die linken Parteien mittlerweile so schwach sind, während nationalistische rechte Parteien zunehmend erfolgreich seien. Dies erklärt sich für ihn jedoch dadurch, dass sich die linken Parteien zunehmend für die Rechte und Würde von Minderheiten und marginalisierten Gruppen einsetzten, und immer weniger für soziale Gleichheit und die Interessen der Arbeiter. Dabei habe sich die Idee durchgesetzt, dass jede dieser Gruppen aufgrund der spezifischen Lebensbedingungen und -erfahrungen eine eigene Identität bzw. Kultur besitze, die anderen nicht zugänglich sei. Interessant ist nun für Fukuyama die Beobachtung, dass diese Identitätspolitik mittlerweile von rechter Seite weitgehend übernommen wurde – natürlich mit dem Unterschied, dass sich linke Identitätspolitik für die Würde von (vormals) ausgegrenzten und benachteiligten Gruppen einsetze, während die rechte Identitätspolitik die Würde jener Gruppen wiederherstellen möchte, die, so zumindest die interne Logik, nun durch die linke Identitätspolitik benachteiligt und gekränkt würden. »Identitätspolitik ist die Linse, durch die man gesellschaftliche Probleme heute über das gesamte ideologische Spektrum hinweg betrachtet« (S. 149).

Für die liberalen Demokratien ist diese Entwicklung laut Fukuyama insofern gefährlich, als durch die zunehmende Identifikation der Menschen mit spezifischen Gruppen der Sinn für die Gesamtgesellschaft und für gemeinsame Ziele verloren gehe. »Eine so geartete Entwicklung führt unweigerlich zum Kollaps und zum Scheitern des Staates« (S. 194). Das Problem seien daher nicht nationale Identitäten an sich, sondern vor allem solche, die auf exklusiven Merkmalen wie etwa Rasse, Ethnizität oder Religion aufbauen würden.

Um die liberalen Demokratien zu stärken und den populistischen, nationalistischen und religiös fundamentalistischen Bewegungen entgegenzuwirken spricht sich Fukuyama daher im Hinblick auf die USA und Europa für die Ausbildung inklusiver nationaler Identitäten im Sinne nationaler Bekenntnisidentitäten aus. Konkret empfiehlt er für die EU die Stärkung einer europäischen Identität, die Einführung einer EU-Staatsbürgerschaft sowie einen besseren Schutz der EU-Außengrenzen. Einwanderung sei in vielerlei Hinsicht vorteilhaft, sollte jedoch auf ein sinnvolles Maß begrenzt, die »Assimilation von Ausländern« (S. 207) gefördert werden. Um das nationale Gemeinschaftsgefühl zu stärken spricht er sich darüber hinaus gegen die doppelte Staatsbürgerschaft und für einen allgemeinen nationalen Pflichtdienst aus. Ansetzen sollten politische Maßnahmen jedoch schon an den Ursachen (linker) Identitätspolitik, wobei Fukuyama hier etwa an unberechtigte Polizeigewalt gegen Minderheiten oder an sexuelle Angriffe und Belästigungen denkt.

Angesichts der diagnostizierten Zersplitterung der Gesellschaft und der sich daraus ergebenden Gefährdung der Demokratie ruft Fukuyama also zur nationalen Einheit auf. Dazu will er Elemente rechter und linker Identitätspolitik aufgreifen und in gemäßigter Form kombinieren, um so wieder zu einem demokratischen Konsens zu gelangen. Ob das so einfach geht, ist natürlich die Frage. Jedoch dürfte die Diagnose durchaus richtig sein, dass die gegenwärtigen Formen rechter und linker Identitätspolitik zwar für viel Empörung sorgen, dabei aber die Grundlage demokratischer Ordnungen bedrohen: eine an der Menschenwürde orientierte Politik. Auch wenn Fukuyama insgesamt in seinem neuen Buch wenig Neues präsentiert, kann die Lektüre dennoch denjenigen nachdrücklich empfohlen werden, die sich grundsätzliche Gedanken über die Zukunft der Demokratie machen wollen. Dies erscheint angesichts der aktuellen politischen Weltlage auch durchaus notwendig, wenn die Geschichte nicht ohne Demokratie weitergehen soll.


Artikel online seit 13.03.19
 

Francis Fukuyama
Identität
Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet
Übersetzt von Bernd Rullkötter
Hoffmann und Campe
240 Seiten
22,00 €
978-3-455-00528-8


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