Home

Termine     Autoren     Literatur     Krimi     Quellen     Politik     Geschichte     Philosophie     Zeitkritik     Sachbuch     Bilderbuch     Filme





Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


Anzeige

Glanz&Elend
Ein großformatiger Broschurband
in einer limitierten Auflage von 1.000 Ex.
mit 176 Seiten, die es in sich haben.

Ohne Versandkosten bestellen!
 



The Making of Didier Eribon

Didier Eribon setzt seine autobiografische Gesellschaftsanalyse fort.

Von Jürgen Nielsen-Sikora

Von Geburt an hält die Gesellschaft Plätze für uns bereit, Schicksale, vorgezeichnete Bahnen, in denen wir uns fortan bewegen und Positionen in der sozialen Welt einnehmen, die uns in unseren individuellen Möglichkeiten beschränken. Das soziale Umfeld fällt Urteile, denen wir uns nicht entziehen können, und es zieht Grenzen, die den Einzelnen zu dem machen, was er ist. Bereits der Name des Einzelnen und seine Abstammung sind solche Vorurteile.

Die hierarchische Ordnung der Gesellschaft erschwert es, sich diesem Urteil zu entziehen, denn es geht dem Individuum voran und begleitet es – wie in den Romanen Kafkas – sein Leben lang. Die Verurteilung geschieht ohne Kommentar: Die Urteile sind über Generationen hinweg stabil und werden selten hinterfragt. Die Gesellschaft fordert vielmehr die Akzeptanz dieses Urteils – Anzweiflungen sind nicht erwünscht.

Aufgabe einer kritischen Soziologie sei es, diese Herrschaftsmechanismen ans Licht zu bringen und Widerspruch gegen das Urteil einzulegen.

Das sind die zentralen Gedanken in Didier Eribons neuem Buch »Gesellschaft als Urteil«, das an die »Rückkehr nach Reims« unmittelbar anknüpft, indem es nicht zuletzt danach fragt, wie es möglich war, eine solch schonungslose autobiografische Analyse zu verfassen. Die Fortsetzung dieser Analyse ist eine Theorie des Individuums auf sozialer Ebene, eine philosophisch-soziologische Reflexion, die erneut durchsetzt ist mit autobiografischen Erzählsträngen, in denen es insbesondere um das soziale Erbe der Familie geht und die in dem erschütternden Satz münden: »In Arbeiterfamilien gibt es kein Familiengedächtnis.« Der britische Kultursoziologe Richard Hoggart buchstabiert diese These wie folgt aus: »Für Arbeiter sind die drei oder vielleicht vier Generationen, die noch am Leben sind, das gelegentlich heraufbeschworene Gesicht eines Verwandten ..., die wenigen kleinen Gegenstände und Anekdoten, die man besitzt, meistens schon alles.« In Arbeiterfamilien existieren keine über Jahrhunderte zurückreichenden Aufzeichnungen über Familienmitglieder; es gibt kein Langzeitgedächtnis in Bezug auf die Vorfahren, keine Archive, in denen etwas über die Herkunft zu erfahren wäre, keine Erinnerung an das, was die Ahnen prägte, nicht einmal, wer diese Ahnen überhaupt waren.

Auch ein sozialer Überläufer, ein »Klassenflüchtling« wie Eribon, bleibt in seiner Abstammung verwurzelt und kann sie nie ganz abstreifen.
In seinem neuen sozialen Milieu (als französischer Intellektueller) entwickelt sich daraus eine Scham über die eigene Herkunft, die er mit seinen Büchern bekämpfen will, indem er über sie schreibt.

Eribon ist die Ausnahme von der Regel, jemand, der dem gesellschaftlichen Urteil entkommen ist. Seine Flucht ermöglicht es, die Normen aufzuzeigen, die diese Urteile gleichsam festlegen. Sein Essay ist nicht weniger als ein Plädoyer wider eine Politik der sozialen Gewalt, ein Buch, das vielleicht nicht ganz die literarische Kraft der »Rückkehr« besitzt, als Making of dieses Buches aber einen verstörenden Einblick in die Mechanismen gibt, mit denen gesellschaftliche Vorurteile Menschen stigmatisieren.

Artikel online seit 03.02.17
 

Didier Eribon
Gesellschaft als Urteil - Klassen, Identitäten, Wege
Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn
Suhrkamp
Klappenbroschur, 320 Seiten
18,00 €
978-3-518-07330-8
Leseprobe



Didier Eribon
Rückkehr nach Reims
Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn
edition suhrkamp
Broschur, 240 Seiten
18,00 €
978-3-518-07252-3
Leseprobe

 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik    Filme   Impressum - Mediadaten