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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 



In »Vater Wald« mit Glück dem  Tod entgehen

Edward Debicki erinnert Leben & Sterben der Zigeuner
zwischen den Fronten des  Zweiten Weltkriegs in Osteuropa

Von Wolfram Schütte

 

Der US-Historiker Timothy Snyder wurde mit seinem Buch über die »Bloodlands« weltberühmt. Der Titel bezeichnet den geographischen Raum zwischen Polen, Weißrussland & der Ukraine. Ungeachtet Snyders umstrittenen historischen Thesen, ist sein Hinweis auf die außergewöhnliche Gewalthaltigkeit dieses Grenzgebiets, vor allem zwischen 1939 & 1944/45, unumstritten. Der Boden dürfte dort blutgetränkt sein: nicht nur aufgrund der militärischen Kampfhandlungen während des II. Weltkriegs, sondern auch wegen der gleichzeitigen vielfachen Massenmorde an Juden & Zigeunern.

Genau dort, in Wolhynien, ist der polnische Zigeuner Edward Debicki, der noch heute als Musiker & Komponist mit seinem Ensemble »Terno« seinen Lebensunterhalt verdient, aufgewachsen. Seine »Erinnerungen« sind nun unter dem Titel »Totenvogel« in der Friedenauer Presse auf Deutsch erschienen. Die Übersetzerin Karin Wolf hat erfolgreich versucht, sowohl das Kolloquiale als auch den sprachlichen Eigensinn des polnischen Musikers im Deutschen zu reproduzieren.

»Totenvogel« ist ein ganz eigenartiges Buch, speziell für deutsche Leser. Es besteht aus einer Vielzahl kleiner, in sich geschlossener Anekdoten, die jedoch deshalb den authentischen Charakter des willkürlichen Erinnerns besitzen, weil ihre anekdotische Form nicht literarisch bearbeitet z.B. auf eine Pointe zuläuft, sondern oft nur mit der schlichten Erzählung des erinnerten Faktums sich zufrieden gibt.

Auch als Leser ist man mit dieser einfachen literarischen Form vollauf zufrieden. Denn zum einen hat der 1935 in Ostpolen geborene Musiker unendlich viel er- & vor allem überlebt; zum anderen erlauben einem seine Familien- & Kindheitserinnerungen Einsichten in das alltäglich Leben, die Gesellschaftsstruktur, das Selbstverständnis & Selbstbewusstsein  der osteuropäischen Zigeuner. Der Autor, der sich als »polnischer Roma« bezeichnet, hat darauf bestanden, dass die Übersetzerin »Zigeuner« übersetzt – wie ja auch das Wort in allen europäischen Sprachen nicht problematisiert wurde, außer in Deutschland, wo es von den offiziellen Vertretern der Zigeuner tabuisiert wurde.

Debicki ist stolz auf die Vorfahren seiner Sippe, die »guten Zigeunerfamilien entstammen, (…), den sogenannten Polska Roma«. In seiner Sippe war die von Generation zu Generation weitergegebene Musik dominierend, aber sein Vater arbeitete auch im Pferdehandel & seine Mutter war Wahrsagerin. Sie erklärte ihrem Sohn, erst wenn sie die Karten lege »ist es, als ob die Zunge von sich aus die Worte lenkt und ausspricht, ohne mein Zutun«.

Der Vater hatte sich dem zweijährigen Militärdienst nicht durch Flucht entzogen & dadurch unter den Bauern als schmucker polnischer Soldat Achtung & Respekt für das ganze Zigeunerlager gewonnen. Jedoch ist er zuletzt an einer Verletzung gestorben, die er sich bei einem Unfall während seines Militärdienstes zugezogen hatte.

Aber die Haupterwerbsquelle der Groß-Familie & ihrer Cousins, Onkel & Tanten war die Musik. Das Besondere ihrer Zigeunerorchester bestand darin, dass sie mit mehreren Harfen (!) bestückt waren: eine Spezialität, die sogar schon im 17. Jahrhundert durch ein Dekret des polnischen Königs bezeugt war, dem ihre Ahnen einst so erfolgreich aufgespielt hatten wie sie es danach auf  Hochzeiten & anderen Festen polnischen Militärs & reicher Bauern taten. Rätselhaft blieb allerdings der seltsame, von allen bewunderte Virtuose Romek: »Er spielte so schön wie kein Zigeuner sonst in Polen, doch das befriedigte ihn offenbar nicht. Eines Tages ging er in den Wald und erhängte sich an einem Baum«!

Nicht nur das selbstbezogene Sippenbewusstsein & die selbstverständliche Solidarität untereinander, sondern auch das interne Leben des »fahrenden Volkes« nach« eigenen Gesetzen, die die Vorväter uns als Erbe hinterlassen hatten«, erinnern einen beim Lesen an soziale Strukturen & kulturelle Traditionen, wie sie auch bei den Ostjuden oder heute noch in minoritären Clan-Gesellschaften existieren, die sich gegen die sie umgebende Mehrheitsgesellschaft abdichten.

Obwohl die Zigeuner »nie ein kriegerisches Volk waren« (Debicki), könnte man aber als Leser seiner Memorabilien-Splitter aus dem 20. Jahrhundert öfters an nordamerikanische Indianer denken – z.B. wenn er von ihrem nicht-sesshaften Leben, ihren jahreszeitlichen Wanderungen & immer wieder davon erzählt, dass sie ihre »Zelte aufschlagen«.

Aber solche sich assoziativ einstellende Imago einer romantischen Indianerhaftigkeit wird gekontert durch die einhergehenden realen Demütigungen im ländlichen Alltag der osteuropäischen Zigeuner (Vertreibung, polizeiliche Willkür, Gewalt & Ressentiment). Einerseits beschreibt der Erinnernde, wie oft  die Landbevölkerung mit den zuerst neugierig bestaunten Fremdlingen sich abends einmütig um deren offenes Feuer setzte; andererseits aber, wie schnell man dabei war, ihnen Hexenhaftigkeit zu unterstellen, weil sie z.B. geknickte Äste als »Zigeunerzeichen« zur Orientierung in der Landschaft deponiert hatten. Einmal erzählt Debicki von einer jungen Polin, die aus ihrer erzwungenen Ehe mit einem reichen Mann zum fahrenden Volk geflüchtet war & im Tross, als Zigeunerin verkleidet, versteckt wurde. Später habe sie sich als »weiße Zigeunerin« bei ihnen integriert. Ein andermal beschreibt er, wie sein Vater als Lockvogel diente, damit ein älterer Zigeuner die 26 Jahre jüngere Papusza entführen konnte & damit »auf Zigeunerart« sie zur Heirat zwingen konnte: »Die Hochzeit war üppig und voller Musik, so wie Papusza es sich erträumt hatte, nur dass der Ehemann nicht der erträumte war«.  

Aber im Zentrum von »Totenvogel« steht das Schicksal der einst frei zwischen den Ländern flottierenden Musiker, Pferdehändler & Wahrsagerinnen. Sie mussten erst während des deutschen Überfalls auf Polen & die UdSSR & dann beim sukzessiven Vordringen der Roten Armee ihrem Mord & Totschlag entgehen. Man kann sich das Lebens-Chaos durch das wechselhafte politisch-militärische Geschehen, dessen gefährliche Unübersichtlichkeit für die in Wald & Feld Herumirrenden, die jederzeit von Gewalt, Hunger & Tod bedroht waren, in unserer heutigen Handy-Welt kaum vorstellen.

Denn zu den Lebensbedrohlichkeiten des Zigeunertrosses mit Frauen & Kleinkindern – die ja alle täglich ernährt sein wollten – gehörten nicht nur die deutsche Wehrmacht & die SS, sondern auch die mit ihnen verbündeten Milizen des nationalistischen Ukrainers Stepan Bandera. Gegen die Faschisten operierten nicht nur die sowjetische Rote Armee, russische & polnische Partisanenvrbände, sondern auch die sogenannte »polnische Heimatarmee«, der militärische Arm der Exilregierung in London. Einer der Zigeuner, der in der klandestinen »Heimatarmee« diente, wurde nach dem Krieg von den Kommunisten liquidiert.

Die unübersichtliche Konkurrenz von potentiellen Freunden oder den deutschen Feinden, der buchstäblich Jagden auf Juden & Zigeuner machten, war für alle Verfolgten täglich lebensbedrohend. Oft konnten sie sich nur unter die Fittiche von »Vater Wald« retten, indem sie tief in den überfluteten Wäldern & weiten Schlammlandschaften Wolhyniens einen feuchten Inselunterschlupf tagelang nicht verließen.

Ohnehin gingen nur der Vater des Erzählers & ein versprengter Rotarmist, der ihnen zugelaufen war, auf Beutesuche in den Dörfern – indem sie von den Bauern Brot & Milch mit vorgehaltenen Waffen erpressten (sofern sie nicht zu spät oder »an die falschen« gekommen waren oder nur noch von wem auch immer Hingeschlachtete in den Katen vorfanden.

Jedenfalls entspricht dieser zweite Teil mit allen seinen kürzeren grausamen & auch grotesk-komischen Episoden am meisten dem Titel des unverhofft aufgetauchten Buchs der Erinnerung an eine fürchterliche Hochzeit von Gewalt, Hunger & Tod in den osteuropäischen »Bloodlands«.

Gut, dass die Friedenauer Presse dieses ebenso unprätentiöse wie erstaunliche Buch nun einer deutschsprachigen Leserschaft vermittelt hat.


Artikel online seit 11.10.18
 

Edward Debicki
Totenvogel
Erinnerungen. Mit einem Gedicht von Bronislawa Wajs-Papusza.  
Aus dem Polnischen von Karin Wolff
Friedenauer Presse
271 Seiten mit zahlreichen Fotographien
22 €
978-3-932109-86-7

 


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