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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 



Mexikanische Familienzerstäubung

Antonio Ruiz-Camachos  Erzählzyklus »Denn sie sterben jung«

Von Wolfram Schütte

 

Mexico, der südliche Nachbar der USA mit seinen einstmals grauenhaften todeswütigen indigenen Hochkulturen, denen die »Weißen Götter« aus Spanien mit Lug & Trug, Gewalt & List den Garaus machten, ist heute noch oder wieder ein Land & eine Gesellschaft, in der ein Menschenleben nichts zählt. Ein Menschenleben? Nein: Hekatomben!

Die selbst für lateinamerikanische Verhältnisse außergewöhnliche Existenz, Häufigkeit & Kontinuität von Massenmorden in Mexico spiegelt sich auch in der Literatur, die in diesem großen Land entstanden ist. Der Exilchilene Roberto Bolano hat in einem Teil seines monumentalen Romans »2666«(dt. 2009) den mehrere Hundert gequälten & ermordeten anonymen Frauen in der Grenzstadt Ciudad Juarez ein erschütterndes literarisches Memorial errichtet. In Antonio Ortunios Debütroman »Die Verbrannten« (dt.2015) sind es Migranten z.B. aus Guatemala auf dem illegalen Weg in die USA, die in Mexico gewaltsam auf die grauenhafteste Art umgebracht & buchstäblich ausgelöscht wurden.

Diese Literatur des Landes ist nicht Phantastik oder Übertreibung geschuldet, sondern Fortschreibung & Reflexion der mexikanischen Realität. Das trifft wohl auch besonders auf Antonio Ruiz-Camachos »Denn sie sterben jung« zu: ein mexikanischer Novellenkranz.

Der Beck-Verlag orientiert sich im Cover des Schutzumschlags, in dessen Zentrum ein stilisierter Totenkopf prangt, am Cover von Ortunios »Die Verbrannten« (& dessen Cover wiederum an Jean-Claude Carrieres Roman »Bunuels Erwachen«, der letztes Jahr im Alexander-Verlag erschien). Da haben die deutschen Designer gewissermaßen ein gemeinsames Erkennungssignet für »mexikanisches Grauen« kreiert (- ein Pendant zur bekannten Charakteristik von »German Angst«) .

Der deutsche Verlag teilt über Ruiz-Camacho mit, dass der 1973 nahe Mexico-City geborene Autor in seiner Heimat als Journalist gearbeitet hat & jetzt mit seiner Familie in Austin, der Texanischen Hauptstadt lebt. Nimmt man die 5(!)seitigen Danksagungen am Ende von »Denn sie sterben jung« in den Blick, könnte man mutmaßen, dass das literarische Debüt sich sowohl den Berufserfahrungen des ehemaligen mexikanischen Journalisten als auch einer universitären Schreibschule verdankt, auf der Ruiz-Camacho sein »zweites berufliches Leben« (als Schriftsteller) mit seinem ersten englisch geschriebenen Buch begonnen hat. Johann Christoph Maas hat es aus dem Englischen übersetzt, obwohl manche der 8 Teile einem eher spanisch-sprachlich als englisch-sprachlich vorkommen.

Da Mexico speziell für Reporter-Journalisten schon seit geraumer Zeit ein heißes Pflaster ist, auf dem man sein Leben oft nur durch Flucht retten kann, liegt der Emigration des Autors nach Austin & ins Englische womöglich eben ein solches Berufs-Schicksal zugrunde.

Als Leser wird man zuerst mit den Stammbaum der fiktiven Familie Arteaga (samt ihren Bediensteten) konfrontiert. An manche der Namen sind Ziffern geheftet. Sie verweisen auf die folgenden acht Erzählungen & die in ihnen zentralen Personen. Die (grafisch) fixierte Zuordnung ist auch deshalb hilfreich, weil dem Buch ein (auktorialer) Erzähler fehlt, der eine narrative Verbindung zwischen den einzelnen Stories herstellen würde.  

Als wolle er mit literarischem Alleskönnen auftrumpfen, öffnet der Debütant mit seinem Buch gewissermaßen seinen Musterkoffer & legt uns eine Vielzahl literarischer Möglichkeiten vor Augen: zumeist Erzählmonologe einzelner Familienmitglieder oder Bediensteter. Einmal besteht die Geschichte nur aus dem Dialog von Bruder & Schwester vorm Einschlafen, ein andermal beobachtet eine tote Bedienstete geisterhaft ihren sterbenden »Liebling«; zweimal symbolisieren Tiere (ein in den US-Supermarkt eingebrochener Bär oder ein totkranker Hund mit blutenden Füßen im Exil in Madrid), wie es die Novellentheorie Paul Heises verlangt, das Thema dieser Klassischen Novellen, sprich: die Faszination vom Einbruch der wilden Natur in den Fastfood Tempel & das tödliche Elend des Exils.

Die »unerhörte Begebenheit«  dieses raffiniert vielperspektivisch erzählten »mobilen« Romans ist das plötzliche Verschwinden des superreichen 60jährigen Familienpatriarchen José Victoriano Arteaga. Eines Tages wird er entführt. Von wem & warum gerade er: das bleibt im Dunkel. Ebenso jeder Hinweis darauf, womit & wie er den Reichtum akkumuliert hat, mit dem seine Kinder & Enkel ihr Luxusleben führen.

Etwas penibel, gewissermaßen à la mode de Bret Easton Ellis, winkt Ruiz-Camacho in der ersten, einer Jeunesse-dorée-Story dabei mit Luxus-Marken  & exquisiten europäischen Orten, an denen sich der internationale Jet-Set trifft. Rhetorisch geschickt akkumuliert der Autor mit einem wiederholten »Es ist das Jahr, indem« zwar ursprüngliche »alle den Sommer in Italien verbringen wollten«, aber statt dessen die Familie Arteaga gewissermaßen explodierte & in alle Himmelrichtungen flüchtete.

Obwohl an keiner Stelle davon die Rede ist, müsste der Verschwundene einer der mafiösen Drogenbarone gewesen sein, die mörderisch Krieg gegeneinander führen - wie es im realen Mexico in den letzten Jahrzehnten sozusagen an der Tagesordnung gewesen ist.

Zumindest muss man dergleichen Geschäfte des Patriarchen annehmen, um einerseits zu verstehen, warum er nicht zur Erpressung eines Lösegeldes entführt wurde, sondern seine Leiche nach einiger Zeit nur teil- & paketweise nachhause zurückkehrt. Und andererseits begreift man, warum seine hinterlassene Familie fluchtartig Mexico City verlässt & mit ihrem Dienstpersonal nach Palo Alto, Austin & Madrid emigriert. Selbst das uneheliche Kleinkind, das der Patriarch mit seiner jungen Geliebten hat, scheint wegen seines Namens in Gefahr.

Was die Stories über ihre jeweilige Zuordnung zu einzelnen Personen der Arteaga-Familie hinaushebt, ist die Aufmerksamkeit des Autors für scheinbar nebensächliche Details des alltäglichen Lebens sowohl in Mexico City als auch an den unterschiedlichen Exilorten in den USA oder Spanien. Dadurch weitet sich der sozial präzise & phänomenologisch detaillierte Erzähler-Blick & es entsteht im Laufe der 8 Geschichten nicht nur eine je eigene Erzählspannung & -perspektive, sondern auch ein Mosaik von farbig evozierten Lebensweisen der mexikanischen Gesellschaft in der Heimat & der Fremde.

Soweit der ehemalige Journalist als Erzähler gewissermaßen bei der Stange bleibt, also dem Realismus, ist das Buch erzählerisch gelungen; jedoch meint Antonio Ruiz-Camacho offenbar in die Fußstapfen des »Magischen Realismus« (Juan Rulfos u.a.) treten zu müssen, verliert er sich im Spektakulären: z. B. wenn die Rede davon ist, dass »an den Bäumen (…) Dutzende menschliche Gliedmaßen hingen, so als seien abgetrennte Arme und Beine (…)die neuesten Früchte der Stadt« (Oder wollte der Autor mit seinen Goya-Kenntnisse zitieren, um die Desastres della Guerra in Mexico prunkvoll zu benennen?)

Der deutsche Titel ist deshalb irreführend, weil der einzige, der in dem Buch stirbt, gerade nicht jung ist (wie die realiter ermordeten Studenten, die hier assoziiert werden, die jedoch nichts mit diesen Stories zu tun haben). Der englische Originaltitel »Barefootdogs«, Titel der letzten Geschichte, hat wenigstens etwas Attraktiv-Rätselhaftes, das neugierig macht.

Artikel online seit 13.09.18
 

Antonio Ruiz-Camacho
Denn sie sterben jung
Stories
Aus dem Englischen von Johann Christoph Maas
C.H. Beck, München 2018
204 Seiten
19.95 €

 


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