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Jäger, Sammler und Chirurg

Über Walter Benjamin und seine Quellen

Von Jürgen Nielsen-Sikora
 

I
Walter Benjamin hat die eigene Arbeit am Text mit der eines Jägers verglichen, der Spuren Anderer liest, sie verfolgt und in den Dienst der eigenen Sache stellt:
»Der Text ist ein Wald, in dem der Leser der Jäger ist. Knistern im Unterholz – der Gedanke, das scheue Wild, das Zitat – ein Stück aus dem tableau.« (m2a, 21).

Trophäen einer solchen Jagd sind jedoch nicht bloß Zitate, die den Text schmücken – die Lektüren des Jägers dringen wesentlich tiefer ein in die schriftstellerische und philosophische Arbeit: Die eigenen Gedanken werden erst durch die Lektüre Anderer angeregt und entfaltet.

Inanspruchnahme und Einverleibung anderer Texte lassen sich als »Entwendung« charakterisieren, in denen der fremde Text zum Vehikel des eigenen wird.

II
Benjamin ist jedoch nicht nur Jäger, er ist zugleich auch (Text-)Sammler: Jemand, der die Dinge festhalten möchte in schnelllebiger Zeit, sie dem Vergessen entreißen und das Chaos überwinden will; jemand, der eine untergegangene Welt in der Gegenwart jenseits der Museen, Archive, Bibliotheken und Flohmärkte wiederzuerwecken sucht.

Der französische Schriftsteller Honoré de Balzac bezeichnete die Sammler einst als die leidenschaftlichsten Menschen auf der Welt. In seiner La recherche de l`absolu von 1834 schuf er mit Balthazar Claës allerdings eine Figur, deren zerstörerischer Wahnsinn und destruktiver Charakter scheinbar das antinomische Moment des Sammlers darstellt. Claës wird skizziert als positivistischer, besessener Alchimist, der alles dem Experiment unterordnet, der die Tränen seiner Frau unter das Mikroskop legt und sie in den Tod treibt. Er, ruhelos auf der Suche nach dem Absoluten, ist der Inbegriff einer gescheiterten Existenz.

Walter Benjamin wiederum bemerkt zu dieser Figur überraschend: »Die Vorfahren von Balthazar Claës waren Sammler.« (H3a, 8) Gibt es mithin eine Verwandtschaft zwischen Sammlung und Zerstörung?

Der Sammler löst zumindest seine Fundstücke aus den Kontexten heraus. Der fremde Text wird anverwandelt oder abgestoßen und letztlich entstellt. Der Sammler operiert wie ein Chirurg, dessen Eingriff die Distanz aufbricht, der Verletzungen riskiert, und das, was er untersucht aus dem Grunde zerstört, tiefer eindringen und letztlich heilen zu können.

III
»Entwendungen« will diese facettenreiche Lektürestrategien Benjamins offenlegen.

Die insgesamt 18 Zugriffe handeln unter anderem von Baudelaire, dessen Figur der Passante, der vorübergehenden Frau, für Benjamin eine wichtige Rolle bei den Beschreibungen des Flaneurs spielt. Auf Baudelaire gehen aber auch Ideen wie die der blitzhaften Erkenntnis (N1,1) und der Vergängnis zurück. Benjamin hat nicht zuletzt zahlreiche Motive Baudelaires bereits seiner Sprach- und Kunsttheorie einverleibt.

Auf die Rolle Freuds, vermittelt durch Benjamins Lehrer Häberlin, hatte die Herausgeberin Nadine Werner bereits in ihrer »Archäologie des Erinnerns. Sigmund Freud in Walter Benjamins Berliner Kindheit« hingewiesen. Freuds Reflexionen auf den Traum und dessen Bedeutung (das Unbewusste, das weiterwirkt) sind für Benjamins Denkkosmos nicht zu unterschätzen. Er nimmt explizit Bezug auf die Psychoanalyse und die Traumdeutung und vergleicht auch die (Pariser) Passagen mit dem Traum (L1a; 1), in dem der Flaneur »unstet in der sozialen Wildnis« umherschweift wie ein Werwolf (M1,6).

Bei Proust ist es demgegenüber das Erwachen, das er aufgreift: »Das kommende Erwachen steht wie das Holzpferd der Griechen im Troja des Traums« (K2,4; vgl. N1,9) Und weiter: »Wie Proust seine Lebensgeschichte mit dem Erwachen beginnt, so muß jede Geschichtsdarstellung mit dem Erwachen beginnen, ja sie darf eigentlich von nichts anderm handeln.« (N4,3)

Eine deutliche Abgrenzung gibt es zu seinem Antipoden Heidegger. Mit ihm führt Benjamin einen virtuellen Disput, der Einfluss auf sein eigenes Denken hatte. Er unternimmt durch die Auseinandersetzung mit Heidegger Spaziergänge auf fremdem Terrain, um zu schauen, wie man nicht denken sollte.

Kafka wiederum ist überall bei Benjamin zu finden. Sein literarisches Werk hat er gewissermaßen in Philosophie übersetzt. Der »Prozess« wird ihm zum »Krankenengel«, das Angst- und Unsicherheitsgefühl in ein geschichtsphilosophisches Bild transformiert. Und auch eine jüdische Denkfigur, in der einander Fremdes in einem geselligen, geistigen Raum miteinander kommuniziert, ist auf die Kafka-Lektüre zurückzuführen.

Wenn Benjamin (wie im Konvolut Y) auf Fotografien rekurriert, betont er stets die Begegnung mit etwas Neuem, das nicht aufgeht, etwas, das nicht zum Schweigen zu bringen ist. Ähnliches wird später Roland Barthes im Sinn gehabt haben, wenn er vom punctum der Fotografie spricht.

Der Band von Jessica Nitsche und Nadine Werner beleuchtet diese Text-Verstrickungen eindringlich und gut nachvollziehbar. Für das Verständnis von Walter Benjamins Denken sind die Beiträge eine große Hilfe. Dass in dem Band nicht allen Spuren (Blanqui, Hugo etc.) nachgegangen werden kann, versteht sich von selbst.

Artikel online seit 22.06.19
 

Jessica Nitsche, Nadine Werner (Hg.)
Entwendungen
Walter Benjamin und seine Quellen
Wilhelm Fink Verlag
486 Seiten
16 s/w Abb., Festeinband
69,00 €
978-3-7705-6352-4

Leseprobe

 

 


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