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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 


Der Mann, der die Frauen liebte

Retif de la Bretonnes »Monsieur Nicolas« als Reader's Digest gut aufgelegt

Von Wolfram Schütte

 

Der Übersetzer Reinhard Kaiser hat im Briefwechsel unserer Weimarer Dioskuren eine Passage gefunden, in der Schiller dem Freund Goethe die Autobiographie des französischen Vielschreibers Retif de la Bretonne zur Lektüre empfiehlt & in einem anderen Brief einem deutschen Verleger vorschlägt, eine Auswahl des vielbändigen Buchs auf Deutsch zu publizieren.

Sie liegt nun seit kurzem vor. Reinhard Kaiser hat ausgewählt, übersetzt und sie herausgegeben unter dem Titel »Monsieur Nicolas oder Das enthüllte Menschenherz«. Letzteres ist der (übersetzte) Originaltitel; unter »Monsieur Nicolas« (wie schon der ganz junge Bauernbursche Retif von seiner Umwelt genannt wurde) war schon einmal anonym eine Auswahl in einem deutschen Privatdruck erschienen, vermutlich konzentriert auf »die Stellen«.

Denn was der Galiani-Verlag in Berlin nun als »eines der schonungslosesten und großartigsten Memoirenwerke der Weltliteratur« anpreist, führte bislang in Gesellschaft mancher anderer »galanter Romane« seiner Zeit eine eher arkane Existenz in den »Giftschränken« von Rechtsanwälten, Medizinern oder anderen bürgerlich gebildeten Liebhabern der literarisch ambitionierten Pornographie. Retif hat sogar ein Buch dieses Titels publiziert, das aber wohl nicht hält, was es verspricht.

Denn in Retifs Buch »Pornografie« (erzählt nun »Monsieur Nicolas«) empfiehlt er allen Ernstes ein Menschenzuchtprogramm. Weil durch die absehbare Entwicklung der Waffentechnik die Soldaten allzuschnell & massenhaft aufgerieben würden, müsste dafür gesorgt werden, dass genügend Kanonenfutter nachwachse -: für das Kriegsspielzeug der europäischen Fürsten, damit die adligen Herrschaften es »nach Belieben gebrauchen oder mißbrauchen könnten«. Bewerkstelligt sollte das werden, indem jeder Mann zwei Frauen zum Besamen erhält. 

Lustvolle Produktion von Kanonenfutter

Der im Burgund 1734 geborene & 1806 in Paris gestorbene Schriftsteller hat sich speziell für die fürstliche Marine ausgedacht, dass die während der oft längeren Abwesenheit ihrer Ehemänner brachliegenden weiblichen biologischen Ackerflächen von »jungen, wackeren Burschen« umgepflügt & besamt werden könnten. Am besten wäre es dabei, wenn der aushäusig-abwesende »Gemahl« seinen für ihn zeugenden Stellvertreter »vorher selbst bestimmt« & die Kinder, sobald sie vorliegen, vom Gemahl »legitimiert« werden. Nach der Revolution, fügt Retif, der von Beruf Drucker war, während der Drucklegung hinzu, sei dieses Ziel eines allgemeinen Lebensbornprogramms nun »leichter erreichbar geworden«. Auch könnte das erwünschte Menschenmaterial durch die »dem Kloster entrissenen Nonnen und die ihrer Pensionen verlustig gegangenen Mönche« nun noch müheloser produziert werden.

Ich habe diese ernst gemeinten Phantastereien des Retif de la Bretonne bewusst etwas polemisch durch Begriffe des 20.Jahrhunderts pointiert, obwohl der französische Aufklärer des 18.Jahrhunderts seine Vorschläge & Ideen für »natürlich« & sich selbst für einen humanen Menschen hält. Dieser Libertin ist kein adliger Zyniker. Er will die »Wollust« beim »faire l´amour«, das seinerzeit oft Folgen hat, die zu vermeiden man erst wirklich im 20.Jahrhundert verstanden hat, als das »Brot der Armen« (Thyde Monnier) betrachtet sehen. Retif geht »von der natürlichen Polygamie des Mannes« aus & hält die christliche Monogamie für widernatürlich. Wer beim Beischlaf den »allmächtigen Gott« mit dem Stoßseufzer anruft: »Mit was für unbeschreibliche Wonnen hast du die Fortpflanzung unsres Daseins umgeben!« – der kann in dem, was der Königsberger Zeitgenosse preußisch korrekt »den wechselseitigen Gebrauch der Zeugungsorgane« genannt hat, nichts grundsätzlich Verwerfliches sehen – umso mehr, als er zugleich sich etwas darauf zu Gute hält, von Kindheit an nicht nur eine Frau sondern das ganze Geschlecht zu lieben.

Nirgendwo sonst in der Literatur stößt man häufiger auf die Behauptung von »hübschen Frauen« im Lebensalltag als in der Autobiographie von Monsieur Nicolas; und zwar von Kind an kommen ihm nur »hübsche Frauen« vor entzückte Augen, die das Begehren wecken. Und wenn der Erzähler einmal nicht durch die Blume von »Siegen« & »Triumphen« spricht, sondern en detail auf die »Sachen« in sexualibus zu sprechen kommt, dann wechselt er ins Lateinische. Weniger deshalb, weil das dafür zuständige Vokabular aus der klinischen Medizin stammt, sondern offenbar, um den Kreis seiner Leser auf die Gebildeten zu reduzieren. Womit er zum einen scheinbar der gesellschaftlichen Sittsamkeit sich unterwirft, zum anderen aber damit seine Leser umso »schärfer« darauf macht, zu erfahren, was man ihnen vorenthält. Natürlich hat der Retif-Übersetzer Kaiser auch davor nicht kapituliert. Vom Latein behauptet Monsieur Nicolas übrigens, schon als Junge es so leicht & perfekt gelernt zu haben, dass er sich zum Vergnügen immer mal wieder Stücke des römischen Dichter Menander übersetzt - &  fließend lateinisch mit seinen beiden älteren geistlichen Brüdern sprechen gekonnt habe. 

Das bürgerliche Pendant Casanovas

Gerne wüsste ich, wer von den großen französischen Autoren – z.B. Stendhal oder Maupassant - & Casanova diesen Lebensroman Retif de la Bretonnes gelesen hat, bevor er selbst als erotischer Erzähler mit ihm in Konkurrenz trat. Sicher sah sich der Autor von rund 200 Büchern (wie Wikipedia behauptet) durch Rousseaus autobiographische »Geständnisse« zu seinen animiert. Als er sich in Paris daran machte, seinen 16bändigen  »Monsieur Nicolas« in den Achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts zu schreiben, begann etwa zur gleichen Zeit auf dem böhmischen Schloss Dux der alte Casanova seine »Memoiren« zu verfassen. Sie sind jedoch erst ein Vierteljahrhundert nach der Publikation von Retifs autobiographischem Unternehmen (1794/97) erschienen..

Retifs »Enthülltes Menschenherz« wird durch seine soziale Herkunft & sein soziales Ambiente (das in der zeitgenössischen Literatur nicht präsent war) zum willkommenen bürgerlichen Pendant Casanovas, der seine literarisch evozierten abenteuerlichen Umtriebe im europäischen Adelsmilieu lokalisierte. Beide aber, die persönlich nichts voneinander wussten, liefern tiefenscharfe Selbstporträts, eine eindrucksvolle Galerie von Frauenporträts & bei Retif vor allem sinnenfreudige, lebenspralle Ansichten & Einblicke in das muntere Sexualtreiben der gewöhnlichen Leute in Stadt & Land der vorrevolutionären Alltagsgesellschaft Frankreichs. Seine »L'éducation sentimental« umfasst seine intime erotische zugleich mit seiner beruflichen Biographie & zeigt ihn auf dem Weg von der burgundischen Provinz in die quirlige Hauptstadt Paris.

Wie bei allen drei Memoirenwerken - die gewissermaßen »fundamentalistisch« zur »ungeschminkten«, moralfreien Selbstdarstellung vorzudringen - prätendierten, mag dahingestellt bleiben, ob & in wieweit ihr Versuch mit der eigenen Aufrichtigkeit & Erinnerung gelungen ist, bzw. überhaupt literarisch-psychologisch gelingen kann.

Würde aber »Monsieur Nicolas« an Interesse verlieren, wenn man das Buch als einen Roman betrachtete, der sich als Autobiografie ausgibt (der er gewiss ja auch teilweise ist)? Kann der literarisch erfahrene Autor sich mit dieser »offenen Form« nicht amoralisch & literarisch mehr »erlauben«, weil er »ja nur die krasse Wahrheit« über seinen eigenen moralischen Verfall der lesenden Welt enthüllt & dies nur mit dem hehren Ziel, den detaillierten Weg vom unschuldigen Knaben zum Wüstling zur Abschreckung nacherzählt zu haben, wie er nicht müde wird, den Lesern seines »enthüllten Menschenherz« zu versichern?

Retif de la Bretonne, Sohn eines reichen liberalen burgundischen Bauern, der die künstlerischen Ambitionen von Monsieur Nicolas fördert & ihn in Auxerre bei einem Drucker in die Lehre schickt, kann einen Teil seiner sinnlichen Erregungen durch die Schönheit, den Liebreiz & die Unschuld der »Meisterwerke Gottes«, wie er die Frauen lobpreist, in »schmutzigen« Gedichten sublimieren, wenn er nicht doch auch mit den hymnischen Zweideutigkeiten & literarischen Schmeicheleien bei der einen oder anderen Angebeteten damit glückhaft »landet«. Vor allem aber macht sich der Jüngling oft bei den Frauen beliebt, weil er sich von seinen männlichen Geschlechtsgenossen durch Zartheit, Rücksichtnahme &, Zärtlichkeit – also durch seine kultivierte Sprache & sein schmachtendes Betragen – wohltuend-vielversprechend unterscheidet & nicht wie diese Liebeskonkurrenten gemeinhin draufgängerisch »zur Sache geht«. Besonders hebt er seine platonische Vergötterung der offenbar unglücklich verheirateten Madame Paragon hervor, der Gattin seines Arbeitgebers in der Provinzstadt Auxerre.

Der rätselhafte Tod der geschwängerten Madelon

Rätselhaft bleibt (mir) nur, welche Rolle sie beim überraschenden, unerklärlichen Tod Madelons spielte. Diese Liebschaft des jungen Nicolas wurde genau in dem Augenblick durch eine rätselhafte Krankheit-zum-Tode Madelons beendet, als die insgeheim regelmäßig mit einander Verkehrenden ihre heimliche Liebschaft mit Folgen öffentlich machen & heiraten wollten, wie sie es sich für den Fall der Schwangerschaft Madelons abgesprochen hatten. Das ist umso rätselhafter, als der werdende Vater die Geschwängerte erst als Tote wiedersehen darf & Madame Paragon, die von Madelon in ihr Geheimnis eingeweiht worden war, Monsieur Nicolas später an ihre Schwester verkuppeln will. Ein Arrangement, das jedoch  nicht zustande kommt, weil ihr zurecht eifersüchtige Ehemann nach dem frühen Tod seiner Gattin seine Schwägerin flugs mit einem anderen verheiratet, um sich an dem verhassten Monsieur Nicolas zu rächen!? (Speziell diese komplexe Episode wirft Licht auf eine längst vergessene kulturhistorische Tatsache zum Thema weiblicher Existenz im Europa des 18.Jahrhunderts!)

Die Art, wie Nicolas vom Tod Madame Paragons & von der Rache ihres Witwers erfahren haben will, ist so romanhaft wie die dabei in Erfahrung gebrachte »Information« romanesk: dass nämlich die hehre Göttin in Auxerre den mittlerweile meisterlichen Drucker in Paris »in Wirklichkeit« doch so geliebt habe, wie er sie. Dabei ist Monsieur Nicolas längst dabei, jeder Versuchung oder Gelegenheit nachzugeben, seine Kuckuckseier in fremde Nester zu legen - & dies mit großem Lust-Gewinn bei vollem Risiko. Denn die drohenden Risiken damals waren ja die Schwangerschaft der Beischläferinnen oder eine Geschlechtskrankheit.

Der dreifache Genuss der »Gedenktage«

Da der Erotiker Retif de la Bretonne (wie Casanova) nicht nur ein »Wollüstling«, sondern auch ein Frauenbeglücker sein wollte (& deshalb de Sade zutiefst hasste), konnte ihm die professionelle Prostitution, mit der er schlechte Erfahrungen machte, nicht gefallen. Aber er verachtete die Prostituierten nicht, bedauerte sie & behauptet, sogar ein Angebot, zum Zuhälter zu werden, ausgeschlagen zu haben. Allerdings musste das provinzielle Greenhorn von einem urbanen Kenner erst darüber aufgeklärt werden, wodurch der überraschende Zorn einer Schauspielerin bei der Trennung rührte: Monsieur Nicolas hatte nicht gewusst, dass diese jungen Bühnenkünstlerinnen nicht von ihrem beruflichen Hungerlohn, sondern vom finanziellen Zubrot ihrer urbanen Liebhaber lebten – eine Szene, die einen Degas' oder Toulouse-Lautrecs Bilder, mehr als ein Jahrhundert später, evozieren läßt. 

Zu den exzentrischen Eigenarten des Schreibwütigen (der natürlich um seinen Lebensunterhalt geschrieben hat!) gehörte sein System der privaten »Gedenktage«. Er behauptet in »Monsieur Nicolas«, an dem er jahrelang (ab 1784) schrieb, dass er seit 40-45 Jahren täglich seine Gedanken (& Erlebnisse/Ereignisse) notiert habe (um seine detaillierten Jugenderinnerungen zu begründen.) Deshalb gibt er zu jedem Wende-oder Fixpunkt, den er in seiner Biografie erzählerisch ausbreitet, das genaue Datum an. Zu diesen historischen Fixierungen notiert er beim überarbeitenden Wiederlesen nicht selten seine nostalgische  Emotion, meist angeblich: Tränen. Manchmal kommt noch eine dritte Nutzung hinzu – wenn der Drucker dabei ist, seine eigenen literarischen Erinnerungen (mit der Hand) zu setzen. (Christa Wolf, die jahrzehntelang immer zum selben Tag ein Resümee zog, wusste gewiss nichts von diesem verwandten Ritual ihres französischen Kollegen.)

Kurzum: Retif de la Bretonnes »Enthüllungen des Menschenherzen« über seinen »Mann, der die Frauen liebte« & der auch ein Schuh- & Frauenbein-Fetischist war (wie ihn Charles Denner in Francois Truffauts gleichnamigem Film so liebenswert dargestellt hat), sind eine hochamüsante Lektüre: ein  kulturhistorisch & -soziologisch einzigartig reich ausgestattetes erzählerisches Kompendium des Alltagslebens im Frankreich vor der Revolution & ein »lendliches«(Arno Schmidt) Erotikon. - Übrigens ist es auch ein sehr schön & liebevoll gemachtes, mit zwei Lesebändchen (für die Lektüre & die Anmerkungen) versehenes Buch.

Artikel online seit 01.10.17
 

Retif de la Bretonne
Monsieur Nicolas
oder Das enthüllte Menschenherz

Ausgewählt, aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Reinhard Kaiser
Galiani, Berlin 2017
720 Seiten,
38,00 €

Leseprobe


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