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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Der Wildfang

Wolfgang Welts nachgelassenes Fragment "Die Pannschüppe" –
im neuesten »Schreibheft« abgedruckt - ist ein chaotischer und sehr schöner Text.

Von Lothar Struck

 

Im Frühjahr 2014 nahm ich Kontakt mit Wolfgang Welt auf. Ich war fasziniert von »Peggie Sue«, »Der Tick«, »Der Tunnel am Ende des Lichts« und »Doris hilft«, die ich praktisch in »1 Zug« (Peter Handke) gelesen hatte und wollte ihn kennenlernen. Die Kontaktaufnahme war problemlos, aber der Termin für ein Treffen im »Tucholsky« in Bochum verzögerte sich krankheitsbedingt. Endlich gab es von »WoW« grünes Licht, die Ärzte hätten keinen Schlaganfall festgestellt, schrieb er lakonisch. Er kam zwanzig Minuten zu früh und trank eine Apfelschorle. Ja, er war geschmeichelt über Marc Degens' Initiative »Dreißig für Wolfgang Welt«, in der sich Schriftsteller, Journalisten und Literaturwissenschaftler dafür einsetzten, dass er den »Literaturpreis Ruhr« erhalten sollte. Eine Chance gab er sich nicht; da sollte er Recht behalten. Über meinen Text zum Treffen war er »begeistert« und bat, ihn Peter Handke und seinem Suhrkamp-Lektor Hans-Ulrich Müller-Schwefe zuzuschicken. Jemand lud ihn nach Staufenberg in Hessen ein, weil ich Welt mit Peter Kurzeck verglichen hatte. Er solle nur darauf achten, dass man ihm auch die Spesen bezahle, schrieb ich ihm. »Auf die paar Mark soll es mir auch nicht ankommen«, so die Antwort. Welt setzte sich übrigens selber im Rahmen seiner Möglichkeiten für Schriftsteller ein und wies mich auf die Neuausgabe von »Nowack« von Wolfgang Körner hin (die Geschichte zwischen Welt und Körner kann man natürlich bei WoW nachlesen).

Im Herbst 2014 erschien »Fischsuppe«, die Fortsetzung seiner Lebenschronologie. Suhrkamp hatte es abgelehnt (das letzte Buch sei zu wenig verkauft worden, so Welt) und daher kam es im Verlag Peter Engstler heraus. Welt warnte mich: Peter Handke sei mit dem Buch »nur zur Hälfte einverstanden« gewesen. »In meinem nächsten Buch wird kein Sex vorkommen« schrieb er mir etwas später. Handke schätzte Welt, fand ihn besser als den ähnlich autobiographisch schreibenden Karl Ove Knausgård, aber die zum Teil drastischen Sexszenen mochte er nicht.

Tatsächlich hatte mir »Fischsuppe« im Vergleich zu den anderen Wolfgang-Welt-Büchern auch nicht so gut gefallen, was ich damals auch schrieb. Er wirkte gehetzt, reihte fast atemlos ein Ereignis an das andere. Es erschien mir wie eine Art von Chronistenpflicht, obwohl der Sound ähnlich zu seinen anderen Büchern war. Welt schildert den Tod seines Vaters und die diversen Krankheiten und Schlaganfälle seiner Mutter, die er tatsächlich  jahrelang gepflegt hatte – uns das trotz seiner eigenen krankheitsbedingten Einschränkungen. Aber da waren dann eben diese anderen, drastischen Sexszenen und der Titel »Fischsuppe« bezieht sich auf die Aussage einer Frauenbekanntschaft über den Geschmack von Welts Ejakulat.

Wolfgang Welts radikal subjektive, häufig sehr polemische (zuweilen sogar verletzende) Musikkritiken waren in den 1980er Jahren berühmt-berüchtigt. Dass da jemand aus seinem Herzen keine Mördergruppe machte und ausschließlich nach seinem Geschmack urteilte, konnte man nicht übersehen. Dreh- und Angelpunkt seiner musikalischen Ästhetik war der bereits 1959 verstorbene Buddy Holly. Alles Wichtige bekam bei Welt irgendwann einen Bezug zu Buddy Holly. In »Doris hilft« gibt es einen als Binnentext eingeschobenen, brillanten Text, der exemplarisch steht für seinen Stil: »Bob Dylan und Buddy Holly - Kein Vergleich«. Auf mehr als 20 Seiten referiert Welt über sein Verhältnis zu Bob Dylan und lobt kurzerhand Buddy Holly zum Vorbild für Dylan aus. Wer wissen will, was Wolfgang Welt zur Nobelpreisvergabe an Dylan gesagt hätte, muss diesen Text lesen.     

Welt eckte mit der Zeit überall an, nahm keine Rücksichten, weder auf Personen noch auf die Werbekunden in den Magazinen. Verbiegen ließ er sich nicht; der Trotz war stärker als die Sorge um die finanzielle Existenz. Aber auch gesundheitlich musste Welt Tribut zahlen. Irgendwann brach er psychisch zusammen. Auch das verarbeitete er in seinen Büchern, schonungslos und ohne Larmoyanz. Schließlich verabschiedete er sich vom ohnehin schlecht bezahlten Kritikerleben und war Nachtwächter im Bochumer Schauspielhaus geworden.

Welt blieb an Menschen interessiert, war offen. Mailwechsel mit ihm waren immer überraschend. Mal schickte er mehrmals täglich Nachrichten, dann wiederum monatelang keine. Als ich ihn zum Geburtstag 2015 gratulierte und dabei fragte, ob im Herbst 2016 sein neuer Roman erscheine fiel die Antwort für ihn typisch und grußlos aus: »danke nein«. Ob er beleidigt war, weil ich sein Statement zu Alfred Biolek nicht veröffentlicht hatte? In einem Überschwang bat ich ihn einige Monate vorher, ob er etwas zum 80. Geburtstag von Biolek schreiben könnte. »Biolek geht mir am Arsch vorbei«, schrieb er mir zurück und in einer zweiten Mail schimpfte er heftig auf ihn und rekapitulierte eine Szene, die sich in abgeschwächter Form auch in einem seiner Romane findet. Mir und ihm zuliebe brachte ich seine Suada nicht.

Im Gegensatz zu den Juroren des Ruhr-Literaturpreises hat sich Norbert Wehr, der Herausgeber des »Schreibhefts«, immer für den Schriftsteller Wolfgang Welt eingesetzt und beispielsweise Lesungen mit ihm organisiert. Im neuesten »Schreibheft« Nr. 88 gibt es nun fast folgerichtig das fragmentarisch gebliebene Manuskript des im Juni letzten Jahres verstorbenen Welt mit dem Titel »Die Pannschüppe«. Ob es das Manuskript ist, was Welt bereits bei unserem Treffen 2014 im Kopf hatte und »Der Anstoß« nannte (keine Zeile sei davon geschrieben, aber alles schon in seinem Kopf)?

Wie auch immer, es ist ein rauer, chaotischer und sehr schöner Text. Immer wieder reflektiert Welt auch über sein Schreiben, zitiert die Ratschläge vom großen Vorbild, wie etwa in der als Selbstverpflichtung zu verstehenden Äußerung »Ich solle weniger übers Ficken schreiben, meint Peter Handke«. Da passt es gut, dass Norbert Wehr dem Abdruck des Manuskripts einen Brief von Handke an Welt vom März 2016 voranstellt. Handke hatte den Text gelesen und danach sein Verdikt zurückgenommen: »Und nur zu mit ›Ficken‹«. Handkes Brief schloss mit »Ihr alter treuer Leser«. Nach dem Abdruck des Fragments wird noch ein mehrmonatiger Mailwechsel aus dem Jahr 2015 zwischen Wolfgang Welt und Frank Witzel abgedruckt sowie einige Briefe Welts an den von ihm ebenfalls verehrten Hermann Lenz aus dem Jahr 1981.

Welts Manuskript sprüht vor Selbstbewusstsein und Energie. Sogar Handke widerspricht er einmal. Über die Mutter solle er mehr schreiben, hatte ihm dieser ans Herz gelegt. Aber Welt denkt nicht daran, obwohl »Die Pannschüppe« mit dem Tod der Mutter und dem Beerdigungskaffee im Restaurant der Schwester beginnt. Aber dann wendet sich der Erzähler der Löwe Opta Musiktruhe zu, die sein Vater in den 1950er Jahren mitbrachte (mit zehn Gratis-Platten; natürlich werden alle genannt). Von nun an musste die Mutter noch mehr abzahlen, obwohl sie gar nicht wusste, wie sie das schaffen sollte. Welt geht in diesem Manuskript nicht weiter chronologisch in seinem Leben vor, sondern zurück, in die Kindheit und Jugend.

»Pannschüppe« ist nicht nur ein Bergmannsutensil, sondern auch der Spitzname des 1960 gegründeten Fußballverein SuS Wilhelmshöhe, der so genannt wurde, weil man auf dem Zechenplatz trainierte und spielte. Der Vater wechselte nach einem Umzug vom SV Langendreer 04 zum neuen Verein. Er verbessert sich, so würde man heute sagen - vom 2. Kassierer zum Hauptkassierer, später wird er gar Vorsitzender (Welt hatte auf der Webseite des Vereins eine kleine Chronik geschrieben). Auch der Erzähler und sein Bruder beginnen dort zu spielen. Die Altersgrenzen in der D-Jugend sind weich und wer gut spielen kann, bleibt nicht lange Reservist und findet sich schnell schon mal eine Klasse höher.

Es ist unmöglich, eine auch nur halbwegs konzise Zusammenfassung dieses Romanfragments zu geben. Aber das ist auch gar nicht nötig. Welt ist hier noch mehr der orale Erzähler als in seinen gebändigten Texten. »Wirr im Schädel« sei ihm geworden, schreibt Handke – aber er wendet dies sofort als Plädoyer für diesen Text. Recht hat er. Ja, es geht sprunghaft zu. Mal ist der Erzähler acht Jahre alt, dann plötzlich dreht es sich um Mädels und man liest noch einmal genau nach und stellt fest, dass er vorgegriffen hat. Einen Satz später ist er wieder Anfang der 60ern Jahre. Mal spricht er von einer Beerdigung eines Fußballkameraden, um dann im nächsten Satz von der Abi-Reise nach London zu erzählen. Später dann erfährt man wie nebenbei, dass er auf der Beerdigung war und nach 45 Jahren die Schwester des Verstorbenen, mit der er einmal geknutscht hatte, nicht mehr wiedererkannte. Es geht in diesem Text um die Eltern, die Geschwister (vor allem den sechs Jahre älteren Bruder), die Schule, Bochum, wann man mit wem wo welche Platten hörte (und warum man Elvis nicht mochte), die diversen Pütts des Vaters  – und vor allem um Fußball. Auf das was nach dieser Zeit kommt, verweist Welt wie ein Chronist auf seine erschienenen Romane (»Ich bitte nachzuschlagen«).

Welts Romane waren nie nur narzisstische Erinnerungsbücher, es sind transluzide Texte mit kulturgeschichtlicher Relevanz. Sei es, wenn es um die Szene der Stadtmagazine der 1980er Jahre geht oder um den Musikbetrieb (Welt nennt auch hier Ross und Reiter). Vor allem aber zeichnet Welt unermüdlich das Lebensgefühl der Menschen im Ruhrgebiet und vor allem in seiner Heimatstadt Bochum nach (er wohnte zeit seines Lebens in Bochum, wobei Bochum nicht gleich Bochum ist, wie man bei ihm schnell erfährt). Aber »Pannschüppe« ist noch ungebändigter und gerade dieses wildfanghafte macht den besonderen Reiz aus. Denn da ist er wieder, dieser Wolfgang-Welt-Sog, der die Frage, warum man das alles lesen soll, gar nicht erst zulässt. Zunächst denkt man noch daran, sich eine Personenliste zusammenstellen und die sozialen Verbindungen mit- und untereinander herausarbeiten. Aber das ist nicht notwendig, weil der Leser sofort in Welts Welt abtauchen kann und sich die Verbindungen mühelos wie von selber ergeben. Ein weiterer Kern des Textes ist das Namedropping von Musiktiteln (häufig mit dem entsprechenden Urteil), und Fernsehsendungen (wer kennt noch »Sport, Spiel, Spannung« oder »Hätten Sie's gewußt«?), die dem Leser Identifikationen ermöglichen. Schwieriger wird dies bei den diversen Kreisklasse- und Bezirksligaspielern der Vereinsszene in Bochum.

Aber es ist eben auch eine »Biographie« des Ruhrgebiets. Weil man erfährt wann und wo die Mutter eingekauft hat wird nebenbei das langsame Siechtum der »Konsum-Läden« zugunsten der neuen Supermärkte gezeigt (ohne dass es direkt thematisiert wird). Und mit den diversen Arbeitsplatzwechseln des Vaters von Bochum nach Dortmund-Marten und später nach »Zollern 1« lässt sich das bereits Ende der 1950er Jahre beginnende Zechensterben ablesen. Das alles wird in einem Erzählrausch vorgebracht, wobei sich der Autor auch schon einmal korrigiert (ein Fehler ist ihm stehengeblieben: Kassler und Sauerkraut dürfte seine Mutter nicht mit Porree sondern mit Püree gemacht haben) oder eingesteht, etwas vergessen zu haben.

Manchmal scheint es so, als vergewissere sich Welt beim Schreiben um die einzelnen Lebensabschnitte. »Mein Bettpissen hatte ich aufgegeben« heißt es da einmal. Oder, später: »Ich beschloß, regelmäßig zu rauchen.« Wichtig war natürlich auch, wann man onanierte und wann man das nicht wollte. Dabei darf man jedoch nicht außer Acht lassen, dass es sich bei aller (vermeintlichen) Authentizitätsanstrengung des Autors um einen literarischen Text handelt. Dabei kommt es eben nicht darauf an, dass sich all dies so ereignet hat. Dies zeigt sich besonders, wenn man über Personen, die Welt dort mit Klarnamen nennt, wie die Industriellenfamilie Springorum mit dessen älterem Sohn er befreundet war, recherchiert. Sicherlich wären diese kleineren Unstimmigkeiten noch korrigiert worden. Aber »Die Pannschüppe« ist eben kein Dokumentartext. Wahrhaftig ist er trotzdem, weil ihn ein Dichter so aufgeschrieben hat. 

Zuweilen wirkt das Mitteilungsbedürfnis fast wie ein Zwang und derart, als ahne Welt, dass er nicht mehr genügend Zeit haben sollte. Kurz bevor das Manuskript abbricht, erwägt er einen anderen Erzählrhythmus: »Ich möchte jetzt anders schreiben als bisher, nicht so schnell«. Und endlich scheint die erzählte Zeit gefunden, die im Zentrum stehen soll: »Im August begann die Saison 1971/72 und damit eigentlich der Roman.« Aber wenig später bricht es leider ab; wie der von Welt geschätzte Roman »Die Angst des Tormanns beim Elfmeter« sinnigerweise auf dem Fußballplatz. Die einzige Ironie weit und breit; eine bittere.

Interessant ist der dokumentierte E-Mail-Wechsel zwischen Welt und Frank Witzel von 2015. Welt entdeckte in Witzels Buch »Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969« einen kleinen Fehler in Bezug auf eine Musikband und mailte dies dem Verlag, der es wiederum Witzel weiterleitete. Witzel antwortete und ganz schnell entwickelte sich eine Mailkorrespondenz, bei der zunächst einmal vereinbart wurde, sich die eigenen Bücher zuzuschicken. Sogleich wird gefachsimpelt und Welt gesteht seine Probleme bei der Lektüre zu Witzels »RAF«-Buch (nachts, als Portier). Bei aller Leichtigkeit wird auch deutlich, welche Anstrengungen Welt für die Niederschrift des Manuskripts auf sich nahm. So setzte er – vermutlich eigenmächtig – seine Psychopharmaka ab bzw. reduzierte sie. Witzels Besorgnisse um seine Gesundheit ignorierte er.

So sehr es den Leser freut, diesen Text zu lesen, so traurig wird man am Ende, wenn man realisiert. dass es (vermutlich) das letzte sein wird, was man von Wolfgang Welt gelesen hat. Freude und Trauer sind eben doch manchmal Nachbarn.  

Artikel online seit 04.03.17

 

 


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