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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Im Vorraum eines Gesamtkunstwerks

Über Werner Schmidts Annäherung an Peter Weiss »Leben eines kritischen Intellektuellen«
und die erstmals ins Deutsche übersetzten Essays
»Dem Unerreichbaren auf der Spur«

Von Jürgen Nielsen-Sikora

 

Maler, Schriftsteller, Filmemacher, Dramatiker und politisch engagierter Intellektueller: Peter Weiss besaß viele Talente. »Ich befinde mich in den Vorräumen eines Gesamtkunstwerks«, sagte er selbst einmal und wollte sich nicht auf eine einzige Rolle reduzieren lassen. Den größten Erfolg hatte er als Romancier und Theaterautor. 1960 gelang ihm zunächst der Durchbruch mit der Erzählung »Der Schatten des Körpers des Kutschers«. Seine akribisch genauen Schilderungen des Treibens auf einem ländlichen Gutshof wirkten stilbildend. Aber auch die autobiografisch geprägten Romane »Abschied von den Eltern« und »Fluchtpunkt« sowie die Theaterstücke »Marat/Sade« und »Die Ermittlung« (über den Auschwitz-Prozess) stießen auf große öffentliche Resonanz. Sein letztes Lebensjahrzehnt war dominiert von der Arbeit an seinem Opus magnum, der Wunschbiografie »Ästhetik des Widerstands«, die ab 1975 in drei Bänden erschien. Peter Weiss starb 1982 im Alter von 65 Jahren an den Folgen einer Lungenembolie.

Werner Schmidt, Emeritus für Neuere Geschichte in Stockholm, legt mit »Peter Weiss. Leben eines kritischen Intellektuellen« eine umfangreiche Charakterisierung des Ausnahmetalents vor. Im Fokus steht hierbei der politische Schriftsteller in den letzten 25 Jahren seines Lebens. Entlang der Schriften und deren Einbettung in den historischen Kontext skizziert Schmidt die Themen, die Weiss zeitlebens beschäftigten: Das Engagement für Vietnam, die Kritik an den USA, die Teilnahmen am Auschwitz-Prozess und am Russell-Tribunal, die 68er-Bewegung, zu deren Wegbereitern er zählt. Nicht zuletzt wirft der Biograf einen erhellenden Blick auf das deutsch-deutsche Verhältnis der Nachkriegszeit. Weiss bewegt sich hier zwischen den Fronten: Als linker Intellektueller mit großer Sympathie für die Unterdrückten der Erde eckt er auch im kommunistischen Osten immer wieder an. So wird unter anderem die Generalprobe seines Stücks »Trotzki im Exil« zum Skandal, und Weiss selbst zur persona non grata erklärt.

Die Auseinandersetzungen, unter anderem mit Enzensberger und Grass über sein politisches Engagement, kosten enorm viel Kraft. 1970 erleidet Weiss einen Herzinfarkt, beginnt jedoch bereits am Tag danach mit der Arbeit am »Hölderlin«. Enttäuschung, Leere und Überdruss begleiten ihn. 1973 bricht er erneut zusammen. Nierensteine und Herz-Kreislaufprobleme sind die Ursache. Aber Weiss schont sich nicht. Schon bald stürzt er sich, in Rekurs auf Gramscis Marxismus, in die Arbeit an seinem Hauptwerk, das in der Literatur des 20. Jahrhunderts herausragt: Die »Ästhetik des Widerstands« ist die Suche nach sich selbst, nach dem »besonderen Ich« als eigener Befreiungskampf in globalen, von Neid und Niederlage durchsetzten, Kontexten. Die »Ästhetik« ist den Worten Schmidts zufolge nicht nur eine Formierung widerständiger Handlungsfähigkeit und eines kohärenten widerständigen Subjekts, sondern ebenso Teil eines kommunikativen Prozesses: Der Leser soll im gleichen Maße zur widerständigen Person werden.

Schmidt verwebt Werk und Zeitgeschehen äußerst gekonnt miteinander und interpretiert, wo nötig, einzelne Passagen von Weiss' Stücken über längere Abschnitte und Seiten hinweg. Der Leser lernt nicht nur die Wurzeln seiner Bücher kennen (Hesse, Breton, Marx, Rimbaud, Brecht etc.); er erfährt auch vieles über Weiss' Schriftstellerkollegen (u.a. die Gruppe 47), über sozialistisches Gedankengut und politische Debatten der 1960er und 1970er Jahre.

Weiss selbst war nirgends zu Hause, fühlte sich unzugehörig, flüchtete von Deutschland über die Tschechoslowakei nach Schweden und schuf sich eine Art inneres Gefängnis. Auschwitz, so Weiss, der jüdischer Herkunft war, sei für ihn »meine Ortschaft«, der Ort, an den er hätte gebracht werden sollen, wäre er in Deutschland geblieben.

Werner Schmidt liefert zu diesem bewegten Leben ein faszinierendes Portrait, das sich der ersten gut drei Lebensjahrzehnte allerdings nur bruchstückhaft annimmt: Das Kriegsjahr 1916, in dem Weiss geboren wurde, die Weimarer Republik, die er in Bremen und Berlin erlebte, der Tod der Schwester 1934 – prägende Erlebnisse, die in der Biografie keine Rolle spielen. Später ist Weiss Textilarbeiter und Holzfäller, heiratet Helga Henschen, wird Vater einer Tochter (Rebecca) – all dies spart Schmidt aus. Aber auch der Struwwelpeter oder der gewalttätige Vater, die Filme, die Kunst, die Tristesse in der Tschechoslowakei, die Psychoanalyse oder die biografischen (Vor-)Arbeiten von Jochen Vogt und Jürgen Schutte, nicht zuletzt der Briefwechsel mit Henriette Itta Blumenthal (Matthes&Seitz) kommen nicht (resp. so gut wie nicht) zur Sprache. So ist die »Biographie« zwar umfangreich, aber nicht umfassend. Ein »vollständiges Bild« von Peter Weiss, wie es der Suhrkamp-Verlag gerne hätte, ergibt sich so leider nicht.

(Hier wäre vermutlich eine Verteidigung des Autors gegenüber seinem Verlag angebracht. Denn Schmidts Titel »Leben eines kritischen Intellektuellen« erfüllt das, was er liefert voll und ganz. Wahrscheinlich ist, dass der Verlag den Titel »Biografie« dem Cover zwecks des besseren Verkaufs hinzugefügt hat. Eine Biografie aber kann solche Aussparungen nicht vornehmen. Denn dann ist es keine Biografie mehr.)

Das unvollständige Bild der »Biografie« wird bereits virulent, greift man etwa zu der im Verbrecher Verlag erschienenen Aufsatzsammlung »Dem Unerreichbaren auf der Spur«. Hier sind einige zwischen 1950 und 1980 auf Schwedisch erschienene kurze Prosastücke von Weiss erstmals ins Deutsche übertragen worden. Und sogleich weitet sich der Horizont: Allein die intensive Beschäftigung mit Jahnns »Niederschrift des Gustav Anias Horn«, die einen Teil seines Romanzyklus »Fluss ohne Ufer« bildet, zeigt, wie überaus bedeutend der literarische Außenseiter für Weiss gewesen sein muss. In Jahnns´ Werk ist Weiss »dem Unerreichbaren auf der Spur«. Ohne Jahnn hätte Weiss den »Schatten« nicht verfasst, und auch in »Fluchtpunkt« spielt sein Werk eine Rolle.

Ein anderer Bezugspunkt in den frühen Jahren seines Schreibens ist Samuel Beckett: »Das, was die Lektüre Becketts so fesselnd macht, ist, dass man mit etwas so Seltenem zu tun hat wie mit einer Welt eigener Normen, einer Vision, gestaltet mittels einer Sprache, die überraschend bis hin zur Schockwirkung ist« heißt es gleich zu Beginn des Essays »Der fragende Mensch«.

Darüber hinaus versammelt der Band einige Rezensionen, unter anderem zu Henry Miller und Vladimir Nabokov, sowie Artikel über die Malerei, den Film, die Presse- und Meinungsfreiheit und die Zensur, mit der Weiss in Schweden zu kämpfen hatte. Der Filmemacher Weiss prangert die Doppelmoral der schwedischen Justiz an, und der Intellektuelle Weiss duelliert sich ausgiebig mit Gunnar und Jan Myrdal und deren politischen Einstellungen.

Die Sammlung bietet insofern eine durchaus hilfreiche Ergänzung zu Werner Schmidts Biografie und zeigt den Schriftsteller Peter Weiss nochmals von einer anderen, bislang weniger bekannten Seite. Sie wirft ein weiteres Licht in die »Vorräume eines Gesamtkunstwerks« und zeigt, wie diese ausgesehen haben könnten.

Artikel online seit 07.11.16
 

Werner Schmidt
Peter Weiss
Suhrkamp
461 Seiten
34,00 €
978-3-518-42570-1
Leseprobe

Peter Weiss
Dem Unerreichbaren auf der Spur
Essays
Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Gustav Landgren
Verbrecher Verlag
304 Seiten
24,00 €
9783957321992
Leseprobe

Peter Weiss
Ästhetik des Widerstands
Gebunden
1200 Seiten
38,00 €
978-3-518-42551-0
Leseprobe

Der Gigant
Von Herbert Debes

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»Ästhetik des Widerstands« aus der deutschen Literatur.
Eine monumentale Arbeit an den Zügen des Menschlichen,
die es für die Generationen der Nachgeborenen neu zu entdecken gilt.


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