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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Du entscheidest

Eine Erinnerung an Leo Spitzers Entschlüsselungskunst
& ein Blick auf Marlboros jüngste Werbekampagne.

Von Wolfram Schütte

 

Seit einigen Tagen kann man auf unseren städtischen Werbeflächen ein Plakat sehen, das für viele auf Anhieb unverständlich sein dürfte. In der Tat ist es so hermetisch wie ein Haiku. Ich mutmaßte aber instinktiv, dass es sich um eine Marlboro-Zigarettenreklame handele (wohl weil das rote Objekt über dem englischen Text sich meinem visuellen Gedächtnis eines Zigarettenrauchers eingeprägt hatte). Es erinnert mich sofort auch an Ernst Jüngers angebliche Bemerkung, wonach die Zensur den Stil verbessere - & an Leo Spitzer.



Leo Spitzer?

Was man über ihn in Wikipedia erfährt, hat wenig zu tun mit dem, womit sich für einen kurzen Moment sein Name in den Siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts unter literarisch Interessierten in der BRD verband. Auch wird im heutigen Wikipedia Spitzers literaturwissenschaftliches Bändchen des Hanser-Verlags (»Eine Methode, Literatur zu interpretieren«) nicht einmal mehr erwähnt. Dessen Hauptaufsatz »Amerikanische Werbung-verstanden als populäre Kunst« war separat in den »Akzenten« erschienen. (Eben sehe ich in ZVAB, dass das 1970 bei Hanser erschienene & 1975 als Ullstein-Taschenbuch wieder vorgelegte Buch mehrfach antiquarisch zu beziehen wäre.)

Bei dem faszinierenden Aufsatz Spitzers handelte es sich um die Stil- & Zeichen-Analyse einer millionenfach reproduzierten Papierhülle, in die damals jede einzelne kalifornische »Sunkist«-Orange eingewickelt war - gewissermaßen als »Schutzumschlag« wie als Originalitäts- & Qualitätszeichen des Sunkist-Produzenten. Spitzer nahm das selbe Motiv von einem Sunkist-Werbeplakat zum Objekt seiner Interpretation.

Das (für uns) Sensationelle & Originelle an diesem Aufsatz war das Unikum, dass hier eine internationale  Koryphäe wie der vor den Deutschen nach den USA geflüchtete österreichische Romanist sich mit einem banalen kommerziellen Alltagsgegenstand beschäftigte. Mehr noch: das uns auch bekannte & vertraute Einwickelpapier behandelte er wie eine esoterisch-exotische Kostbarkeit aus der Kultur des Alten Europa.

Leo Spitzer betrachtete die Ikonographie & den Text der »Sunkist«-Werbung wie (oder besser als) ein barockes Emblem, dessen Ästhetik er »entschlüsselte«, weil er eine längst vergessene mitteleuropäische poetische Kunstform auf ein millionenfach verbreitetes kommerzielles Objekt in den USA anwandte.

Er verfuhr dabei gewissermaßen so bedachtsam, wie Walter Benjamin es vom »echten Polemiker« behauptet, der »sich ein Buch so liebevoll vornimmt, wie eine Kannibale sich einen Säugling zurüstet«. Spitzer war aber kein Polemiker sondern ein sensibler Interpret, gewissermaßen ein Roland Barthes ante. Vom »Strukturalismus« oder von Barthes´ Entschlüsselung der »Mythen des Alltags« ahnten, geschweige denn wußten wir damals noch nichts.

An diese Zeit & unsere intellektuelle Aufgeregtheit damals musste ich nun wieder denken, als ich vor der hier angezeigten öffentlichen Werbung stand & über sie staunte.

Mittlerweile habe ich noch andere Motive der jüngsten Marlboro-Werbungen gesehen



Aber keine besitzt die lakonische Schönheit, die zu meinem ersten wahrnehmenden Aufmerken geführt hatte:

Für das Verständnis dieses Bild/Textes ist nicht nur die Kenntnis des Englischen Voraussetzung, sondern auch die Fähigkeit, aufgrund der anderen kleineren Texte, das zentrale Bildfeld als Hinweis auf  eine Zigarettenmarke zu erkennen. Das hütchenhafte rote Emblem weist den »Kenner« auf die Marke »Marlboro« hin. Ob er selbst diese Zigarette raucht oder eine andere, ist zunächst einmal gleichgültig. Beim Kauf seiner Zigaretten hat sein visuelles Gedächtnis jedoch das (abstrakte) optische Signalement von Marlboro gespeichert (wie z.B. das Dromedar für die Marke Camel).

Der »Kenner« (sprich: Raucher) ist erfreut, dass er diese äußerste Abstraktion von Marlboro erkannt hat – wie etwa einer »bildungsstolz« sein dürfte, wenn er »blaue Pferde« automatisch mit Franz Marc assoziiert. Psychologisch dürfte diese Identifizierung Marlboros besonders befriedigend sein, weil der Erkennende damit in einen esoterischen Kreis der Kenner eintritt. Seiner Erkenntnisleistung verbindet ihn durch die Entschlüsselung  mit denen, die sie von ihm abverlangten: der Marke Marlboro. Er hat quasi eine Prüfung bestanden, die ihn von denen unterscheidet, die den Wink mit dem offenbaren Geheimnis des Plakats nicht begriffen haben. Er ist mithin ein »Eingeweihter« (wie in Mozarts »Zauberflöte« Tamino, der nach der Feuer-& Wasserprobe in Sarastros Tempel gelangt ist).

Geschmeichelt als jemand Besonderes wird ihm auch dadurch, dass nur er, der Englisch kann, angesprochen ist  & deshalb die Feststellung »you decide« als auffordernde Versicherung: »du entscheidest« im Sinne von  »es ist nur an dir, sich zu entscheiden« oder »einzig du entscheidest«; will sagen: »niemand sonst«, sprich: etwa gar die Gesetzgebung der Gesellschaft.

»You decide« auf deutschen Plakatwänden richtet sich also bewusst nur an jene »hipster« & ähnliche junge Menschen, die – durch die ästhetische Anmutung einer individuellen Handschrift, in der die zwei Wörter geschrieben scheinen - sich selbst auf ihre individualistische Lebensweise & ihre demonstrative Verhaltensdifferenz zum »Konformismus«, dem »Commonsense« oder dem »Mainstream« der »Masse« viel zugutehalten. Deren Arroganz wird gekitzelt.

Worüber soll unausgesprochen der Angesprochene aber eigentlich »entscheiden«? Ob er mit Marlboro sich einlassen oder ständigen Raucher-Verkehr haben will.

Das esoterisch erscheinende Plakat ist also ein veritables Geheimzeichen mitten in der Öffentlichkeit, vergleichbar den »Zinken« an Häusern oder Haustüren, mit denen »das fahrende Volk« unter sich kommunizierte – ohne der sesshafte Bürger den Informationsaustausch über sich mitbekommen würde.

Denn zum einen ist ausgesprochene, mithin eindeutig identifizierbare Werbung für Zigaretten bei uns verboten worden & zum anderen sind gerade erst die Zigarettenproduzenten gezwungen, durch optisch drastische Todeswarnungen auf jeder Packung dem Raucher die potentielle Gefährdung seiner Gesundheit abstoßend eindrucksvoll vor Augen zu stellen.

Es sind also im letzten Jahrzehnt zwei schier unüberwindliche Barrieren der Abschreckung & des Verschweigens von der Gesellschaft gegen den Zigarettenkonsum errichtet worden. Sie müssen überwunden werden: einerseits vom Raucher, um dennoch zu seinem Stoff zu gelangen, andererseits vom Hersteller (Dealer), um den Kunden ansprechend zu animieren, ohne doch von sich selbst (wie früher) ein positives Bild machen zu dürfen (z.B. Cowboys mit Pferden in Westernlandschaft).

Diese öffentliche Zensur mit der Doppelstrategie von Werbeverbot & Abschreckung hat den Stil der Werbung radikal verändert, um dennoch weiterhin für die Zigaretten-Idustrie tätig sein zu können.

Schon vor knapp drei Jahren hatte Marlboro einen ersten Versuch mit dieser Art der appellativen Aufwiegelung gegen alle die Bedenkenträger & Verbieter gemacht. Weil die damalige Aufforderung, »Don´t be a maybe« genialerweise ein unter Jugendlichen verbreitetes pathologisches Signum der »Multioptionsgesellschaft« benannte & dessen Überwindung durch den Marlboro-Genuß suggerierte habe, fand selbst der starke Raucher Jens Jessen im Feuilleton der »Zeit«, dass diese gezielt auf »unmündige Jugendliche« ausgerichtete Werbung zurecht verboten wurde.

Marlboros zweiter Versuch, Verbot & Chocbilder  noch subversiver außer Kraft zu setzen, wird mit einer staunenswert verfeinerten Werbestrategie unternommen. Sie hat gewissermaßen an der Subtilität einer theologischen Mystik Maß genommen, in der scheinbar von nichts die Rede & doch das Abwesende präsent ist. Oder sollte man von der poetischen Unschärfe eines japanischen Haikus sprechen, dessen Sinnfälligkeit nur dem »Wissenden« aufgeht?

Der davon Angesprochene, ja gewissermaßen »erweckte« wird auch die raffinierte List, dem gesellschaftlichen, juristischen Verbot ein sublimes ikonographisches Schnippchen geschlagen & ihn als Mitwisser dabei erreicht  zu haben, als subtile Steigerung seiner Lust genießen, individuell auf das Verbotene scharf zu sein, für das sich zu entscheiden man ihn unausgesprochen aufgefordert hat.

In früheren Zeiten hat die längst dahingeschiedene Zigarettenmarke »Attika« das Versprechen ihres Distinktionsgewinns mit dem sprichwörtlich gewordenen Slogan »Es war schon immer etwas teurer, einen besonderen Geschmack zu haben« von ihrer Kundschaft honorieren lassen. Heute ist der allgemein gehaltene Appell an den individuellen Eigensinn der ultimative Reizstoff, um die letzten Raucher bei der Stange zu halten.

Artikel online seit 18.07.16
 

 


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