Home

Termine     Autoren     Literatur     Krimi     Quellen     Politik     Geschichte     Philosophie     Zeitkritik     Sachbuch     Bilderbuch     Filme





Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


Anzeige

Glanz&Elend
Ein großformatiger Broschurband
in einer limitierten Auflage von 1.000 Ex.
mit 176 Seiten, die es in sich haben.

Ohne Versandkosten bestellen!
 



»Landflucht« außer Kontrolle

Peter Stamm zieht es in seinem neuen Roman »Weit über das Land«

Von Jörn Birkholz

Eine Familie kehrt aus dem Strandurlaub in ihr idyllisches dörfliches Schweizer Heim zurück. Kurz darauf, und ohne ersichtlichen Grund, verschwindet Thomas unbemerkt – seine Frau Astrid ist noch dabei, die Koffer auszupacken - und lässt sie und seine zwei Kinder allein zurück.

So startet Peter Stamms sechster und aktueller Roman »Weit über das Land«, erschienen im Fischer Verlag.
Thomas wandert los – ziellos. Seine erste Nacht verbringt er in einem heruntergekommenen unverschlossenen Wohnwagen. Am nächsten Morgen läuft er einfach weiter, dabei immer darauf bedacht, nicht gesehen oder entdeckt zu werden, bis er sich so weit von zuhause, von seinem Revier entfernt hat, dass er sich sicher fühlt. Wovor? Astrid, die sein Verschwinden erst am nächsten Tag bemerkt, der Sekretärin ihres Mannes vorgaukelt er sei krank, und die erst am übernächsten Tag widerwillig die Polizei kontaktiert, macht sich dann schließlich auch noch selbst auf die Suche nach ihrem Mann. Soviel zum Plot.
Die Lebens- und Zustandsbeschreibung des Paares fast Stamm wie folgt zusammen:

»Auch er hatte funktioniert, wie es von ihm erwartet worden war. Er hatte neun Jahre lang die Schule besucht, eine Lehre gemacht, hatte den Militärdienst absolviert und danach in seinem Lehrbetrieb weitergearbeitet. Er hatte Astrid geheiratet, sie hatten Kinder bekommen, waren in das Haus seiner Eltern gezogen und hatten es nach und nach eingerichtet. Es hatte viel Kraft gekostet, das alles aufzubauen, und jetzt wohnten sie in diesem Haus, das langsam verfiel, unmerklich nur, aber unaufhaltsam. Ein Gebäude, hatte er irgendwo gelesen, sei erst fertig, wenn es zur Ruine zerfallen sei. Vielleicht galt dasselbe auch für Menschen.«

Stamm schreibt kühl, solide und klar. Leider kommt nur schwerlich Spannung auf, zu schwach werden Thomas´ psychologische Motive ausgeleuchtet. Lediglich wird eine etwas biedere Alltagsflucht skizziert, gepaart mit einem diffusen Freiheitsbedürfnis – kurz, Wohlstandsprobleme. »Er musste weg, einfach mal weg. Vielleicht war das ja die Erklärung. Er hatte keine Geliebte, hatte kein Geld veruntreut, keine Schulden gemacht, die er nicht zurückzahlen konnte. Er hatte sich nichts angetan, er war einfach weggegangen. Das Bedürfnis war ihr ja selbst nicht ganz fremd … Sie war immer die Stimme der Vernunft in ihrer Beziehung, in der Familie gewesen. Manchmal fragte sie sich, ob Thomas ein anderes Leben gewählt hätte, wenn sie kein Paar geworden wären.«

Betrachtet man Stamms Charakterzeichnungen genauer, dann ist es sogar ein wenig verwunderlich, dass nicht Astrid an Stelle von Thomas am Anfang des Buches verschwunden ist (»Astrid war manchmal einfach aus dem Haus gegangen und hatte das Baby allein gelassen, eine halbe Stunde, eine Stunde lang. Sie war zum Bahnhof gegangen und hatte sich auf dem Bahnsteig auf eine Bank gesetzt und tief durchgeatmet.«) - aber dies nur nebenbei.

Der Plot bleibt stellenweise auch nicht von klischeehaft wirkenden, stereotypen Begebenheiten verschont – wie zum Beispiel der zufällige, natürlich im Grunde ungewollte Aufenthalt in einem Bordell. »Erschrocken schaute er hoch. Die Tür hatte sich geöffnet und eine Frau in einem kurzen Ledermini und Netzstrümpfen und einem grellgelben, bauchfreien Top stand in der Türöffnung und schien ebenso erschrocken wie er. Hallo?, sagte sie (…) Drinnen ist es gemütlicher. Ohne nachzudenken, stand Thomas auf und folgte ihr ins Haus.« Oder, die vorsichtige, aber dennoch unrealistisch wirkende Annährung zwischen Astrid und einem jungen Polizisten und glücklichen Familienvater. »Astrid wartete vor der Haustür auf ihn (…) Sie verspürte eine Art Befriedigung darüber, dass er mitten in der Nacht seine Frau und sein Baby verlassen hatte, um ihr zu helfen. (…) Astrid hörte, wie er die Haustür hinter sich schloss. Sie schenkte Patricks (Sie nennt den Beamten beim Vornamen!) Glas noch einmal voll. Als sie es austrank, war es ihr, als berührten ihre Lippen seine.«

Für Freunde der darstellenden Künste interessant sind vielleicht die von Stamm gelegentlich eingestreuten Fantasievorstellungen seiner beiden Hauptfiguren. Eine Art Realitätsflucht, die auch die Außenwelt mit einbezieht. »Thomas hatte das beunruhigende Gefühl, dass alles sei für ihn inszeniert, die Menschen des Dorfes seien Schauspieler, die nur darauf gewartet hätten, dass er auftauchte, um in ihre Rollen zu fallen.« Beide Protagonisten beobachten sich selbst, und empfinden sich als Akteure, die sich etwas vorspielen. »Dabei hatte sie immer das Gefühl, sich von außen zu sehen, als spielte sie eine Rolle in einem Film, der nichts mit ihrem Leben zu tun hatte.«   

Fazit: Gut und schnörkellos geschrieben, das durchaus, aber für mich dennoch einer jener Romane, die man leider bereits vergessen hat, kaum wurden die Buchdeckel zugeklappt.

Artikel online seit 18.04.16

 

Peter Stamm
Weit über das Land
Roman
S.Fischer
224 Seiten
19,99 €
978-3-10-002227-1

Leseprobe

 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik    Filme   Impressum - Mediadaten