1.
Der russisch-jüdische Philosoph Lew Schestow (1866-1938) glaubte zeitlebens,
letzte Fragen seien unbeantwortbar. Es sei auch nicht gewiss, ob es letzte
Fragen überhaupt gibt. Die Philosophie solle die Menschen deshalb nicht mit
Dogmen beruhigen, sie soll sie alarmieren und auf ein Leben im Ungewissen
vorbereiten. Schestows Kernaussage lautet: »Man muss das festgestampfte und
ausgetretene Feld des zeitgenössischen Denkens aufreißen. Danach soll man
allerorten, bei jedem Schritt, mit oder ohne Anlass, begründet oder unbegründet
die am meisten anerkannten Meinungen lächerlich machen und statt dessen Paradoxa
vorbringen. So wird man freie Sicht gewinnen.« Seine »Apotheose der
Grundlosigkeit« aus dem Jahr 1905 ist der literarische Versuch, eine solche
Sicht freizulegen. Allein die freie Sicht sagt freilich wenig darüber aus,
worauf man wirklich blickt.
2.
Der Abgrund, das Unbegründete, nicht weiter Begründbare, ja Grundlose erhält in
Schestows Texten einen Heiligenschein. Gegen Metaphysik, Positivismus und
Neukantianismus beharrt er auf der These, die Philosophie habe noch keine
widerspruchslose These hervorgebracht. Gilt dies auch für seine eigene These,
wird es allerdings recht kompliziert. Seine Miszellen und Mikroessays sind
leider nicht so reflektiert, dass sie diesen eklatanten Selbstwiderspruch an
irgendeiner Stelle einholen würden. Er philosophiert nicht mit dem Hammer,
sondern mit der Brechstange: Überzeugungen seien Parasiten und Worte gäben die
Wahrheit nicht wider. Wenn das stimmt, dann stimmt es eben nicht...
3.
Schestow stellt »vorletzte« Fragen, gibt aber nur wenige Antworten. Seine
Stichwortgeber sind in erster Linie zeitgenössische russische Schriftsteller:
Turgenew, Tolstoi, Dostojewskij, Puschkin, Lermontow und Gogol. Ob man mit ihnen
damals tatsächlich das ausgetretene Feld des zeitgenössischen Denkens aufreißen
konnte, sei dahingestellt. Heute steht es außer Frage, dass genau das nicht mehr
geht. Denn alle Genannten sind längst zu Klassikern der modernen Literatur
avanciert und waren es teilweise schon damals. Zwischen diesen Autoren springt
Schestow in seinen Gedanken munter umher. Selten führt er ein Urteil konsequent
zu Ende, meist bricht er ohne Pointe abrupt ab, um sich einem neuen Thema
zuzuwenden. Warum Edmund Husserl am 14. April 1931 zu dem Fazit kommt, aus
Schestows Schriften strahle die »anima candida«, bleibt sein Geheimnis.
4.
Hin und wieder sucht Schestow auch Antworten bei literarischen Figuren, um wider
die Allgemeingültigkeit und das Versteinern im Glauben ins Feld zu ziehen. Er
selbst, der bei den Wilden in die Lehre gegangen sei, stehe für die
Gesetzlosigkeit des Schreibens, für Unverbindlichkeit: »Es gibt gute Gründe, dem
Leben gegenüber misstrauisch zu sein. Noch mehr Gründe allerdings gibt es, dem
Verstand zu misstrauen.« Dabei lässt er bewusst offen, wessen Verstand denn zu
misstrauen sei.
5.
Schestow polemisiert insbesondere gegen die systematische, sprich:
akademische Philosophie. Im zweiten Teil der Apotheose gibt es hierzu ein
schönes Bild: »In einem Glasgefäß, das durch eine innere, ebenfalls gläserne,
voll durchsichtige Trennwand in zwei Hälften geteilt wird, platzierte [ein
Naturforscher] auf der einen Seite einen Hecht, auf der anderen verschiedene
kleine Fische, die der Hecht gewöhnlich als Beutetier jagt. Der Hecht konnte die
durchsichtige Trennwand nicht erkennen, warf sich auf seine Beute, stieß aber
naturgemäß mit dem aufgerissenen Rachen an das Hindernis. Als er schließlich
einsah, dass all seine Versuche so kläglich endeten, gab der Hecht das Jagen
auf, so dass er auch, als man nach einigen Tagen die Trennwand entfernte, ruhig
zwischen den kleineren Fischen umherschwamm...«
Man muss sich Schestow als jenen Hecht vorstellen, die kleinen Fische als die
Philosophen der akademischen Welt.
6.
Schestows Ausführungen sind allesamt assertorisch, nicht argumentativ, also
nicht philosophisch. Es handelt sich um Anti-Philosophie: Behauptungen ersetzen
Begründungen. Der Stil ist rhapsodisch, sprunghaft, unausgereift. Wenn er
Tolstois »Solipsismus« absurd und widersprüchlich nennt, so trifft das nicht
weniger auf die »Apotheose« zu. Noch ein Beispiel: »Die künftigen Generationen
mögen sich mit Entsetzen von uns abwenden, die Geschichte mag unsere Namen
brandmarken, als wären es die Namen von Verrätern an der allgemeinmenschlichen
Sache – gleichwohl werden wir Hymnen auf jede Monstrosität komponieren, auf die
Zerstörung, auf den Wahnsinn, auf das Chaos, auf die Finsternis. Egal, was dann
geschieht.«
Der Wahrheit vermittels Beweisen den Weg zu bahnen sei ein »barbarischer
Brauch«. Die Wissenschaft warte geradezu auf einen neuen Cervantes, der diesem
Brauch Einhalt gebiete.
7.
Woher bezieht Schestow seine Urteilskraft, sein Wissen, seine Thesen, wenn doch
alles bloß Schall und Rauch ist? Soll man seine eigenen Texte denn ernst nehmen?
Haben sie etwa nicht den Anspruch, wahr zu sein? Wieso verstrickt er sich ohne
dies je selbst zu thematisieren permanent in Widersprüche?
Der Selbstwiderspruch Schestows ist seine eigentliche Philosophie. Wie ein
Derwisch dreht er sich unaufhörlich im Kreis um sich selbst, ohne schwindelig zu
werden. Spott und Sarkasmus gesellen sich hinzu. Mit diesem Werkzeugkoffer will
er furchtlos in die Tiefe blicken, die Bodenlosigkeit ergründen. Doch im
Ergebnis liefert er nur Ratschläge und gibt Anweisungen: Man mache dies und tue
jenes...
8.
Treffend ist Schestows Kritik an einigen Ritualen der akademischen Philosophie.
Niemand braucht einen Kommentar zum Kommentar des Kommentars zu Kant. Mit Kant
ist Schestow der Meinung, entweder man lese das Original oder man denke sich
eine eigene Philosophie aus. Dann wäre der wissenschaftlichen Welt auch das
Wuchern von Fußnoten und Zitaten erspart geblieben, das manch einer für einen
Beweis an Wissenschaftlichkeit halten mag.
9.
Wenn es schon ein letztes Wort geben müsse, dann laute es »Einsamkeit«:
Schestows »Philosophie« ist eine Philosophie der Verzweiflung. Das Prinzip
Verzweiflung durchzieht vor allem sein Gedankentagebuch, das den Band
abschließt. Verzweifelt ist er nicht zuletzt über sich selbst. So am 7. Oktober
1919: »Zwei Tage sind vergangen. Noch immer dieselben nirgendwohin führenden
»Gedanken«.« Ein paar Seiten später heißt es: »Das Tagebuch misslingt. Die
Gewohnheit tut das Ihre. Es braucht Anstrengung – doch das ist zur Zeit nicht
möglich.« Er spielt mit dem Gedanken, das Tagebuch abzubrechen. Felix Philipp
Ingold bemerkt hierzu in seinem Nachwort, Schestow habe »die Grundlosigkeit
seiner Existenz« um das Jahr 1895 »auf tragische Weise erfahren und als
lebensbedrohliche Krise erlitten, und er glaubte daraus schließen zu müssen,
dass jeder Mensch eine derartige Prüfung auf Leben und Tod durchzustehen habe.«
10.
Die Texte Schestows sind Fragmente einer verzweifelten Seele. Seine Philosophie
besteht aus Scherben, Splittern, Bruchstücken. Er beginnt vieles und führt
nichts zu Ende. Seine Kritik an Begründungen, Argumenten und Logik ließe sich
nur dann ernst nehmen, wenn sie selbst begründet, argumentativ und logisch wäre.
So bleibt die »Apotheose der Grundlosigkeit« doch bloß ein geschwätziger Monolog
ohne tieferen Sinn oder allenthalben ein Stück mittelmäßige Literatur. Schade!
Artikel
online seit 24.03.15
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Leo Schestow,
Felix Philipp Ingold (Hg.)
Apotheose der Grundlosigkeit und
andere Texte
Matthes&Seitz Berlin
359 Seiten, geb. mit Schutzumschlag
1 Abbildungen
Felix Philipp Ingold
978-3-88221-391-1
39,90 € / 51,90 CHF
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