Home

Termine     Autoren     Literatur     Krimi     Quellen     Politik     Geschichte     Philosophie     Zeitkritik     Sachbuch     Bilderbuch     Filme





Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


Anzeige

Glanz&Elend
Ein großformatiger Broschurband
in einer limitierten Auflage von 1.000 Ex.
mit 176 Seiten, die es in sich haben.

Ohne Versandkosten bestellen!
 



Die Vermessung der Zeit

Christoph Ransmayrs Roman »Cox oder Der Lauf der Zeit«

Von Lothar Struck

 

Es ist Oktober, der Tag der siebenundzwanzig Nasenabschneidungen. Der Dreimaster »Sirius« aus Europa mit dem englischen Uhrmachermeister und Automatenbauer Alister Cox, dessen Intimus Jacob Merlin und zwei Gehilfen trifft in Háng zhōu ein. Cox ist weltberühmt, »Herr über mehr als neunhundert Feinmechaniker, Juweliere, Gold- und Silberschmiede.« Das blutige Schauspiel an den korrupten Steuerbeamten und Wertpapierhändlern ist Teil des Willkommenszeremoniells, das Qiánlóng, »der Allerhöchste«, »Himmelssohn« und »Herr der zehntausend Jahre« für die Engländer inszeniert hat. Er selber, der göttliche Kaiser von China, bleibt unsichtbar. Später werden die Gäste in die verbotene Stadt geführt und Cox und Merlin dürfen dort sogar wohnen; die beiden Gesellen erhalten während der Arbeitszeiten Zutritt. In der für sie eingerichteten Werkstatt fehlt es an nichts; jeder Wunsch wird ihnen erfüllt.

Aber es wird eine lange Zeit dauern bis die »Langnasen« zum kaiserlichen Palast geführt werden und Cox dort kniend vor dem leeren Thron die dürre Stimme Qiánlóngs hinter einer Wand vernehmen wird. Die Engländer sollen Maschinen bauen, die die Zeit nach den subjektiven Empfindungen einer bestimmten Menschengruppe misst. Uhren, die sich nach den Stimmungen derer richtet, die sie verwenden. Galt es bisher die Zeit möglichst exakt zu messen, so soll sie nun einen individuellen Zustand anzeigen. Eine »Frage von einigen Zahnrädern« ist das für Cox. Aber nebulös dahingehend, weil der Kaiser zunächst nicht spezifizierte für wen die erste Maschine konstruiert werden soll. Also entscheidet sich Cox für eine Uhr des Kindes. Es wird ein Silberschiff, »nicht grösser als ein Kopfkissen« und »vom Rhythmus des Windes« und des Atems betrieben: »Der unberechenbare Wechsel von Stillstand und einem gemächlichen oder rasenden Lauf sollte allein vom Spiel der Luftströme und Windwirbel verursacht werden und sich in seinen Tempovarianten und Stärken dem kindlichen Zeitlauf nachbewegen […] Wie langsam, bis zum Stillstand langsam, kroch die Zeit während einer Schulstunde dahin und wie schnell, wie der Fall eines geworfenen Kiesels, war die Minute vergangen, in der eine Süßigkeit auf der Zunge zerschmolz.« 

In der Konstruktion dieser Uhr verarbeitet Cox seinen Schmerz. Denn er ist »traurigste Mann der Welt«, die Reise war eine Art Flucht. Zu Hause ist seine junge Frau nach dem Tod der fünfjährigen Tochter verstummt und Cox glaubt fest, dass dies nach seiner Rückkehr nicht mehr der Fall sein wird. Immer wieder wird in Christoph Ransmayrs Roman »Cox oder Der Lauf der Zeit« die Bitternis und Trauer des Uhrmachermeisters mit der Schönheit und Vollkommenheit seiner Maschinen und dem vermeintlichen Luxus am Hof des chinesischen Kaisers kontrastiert. Ambivalent gerät dabei die Zeichnung der Figur des Kaisers, der als brutaler Despot aber auch als ein der Kunst zugewandter, gesundheitlich eher schwächlicher Mensch von 42 Jahren gezeigt wird. Einerseits erscheint der Prunk eher lächerlich (so wird ihm unter anderem mit einem 108-Gänge-Menü gehuldigt), andererseits verliert Ransmayr nie die jederzeit mögliche Willkür des Potentaten aus den Augen. Schon die geringste Verfehlung kann fatale Folgen haben; da kennt vor allem der Hofstaat keine Gnade. So ist es unter Todesstrafe verboten, Qiánlóng zu berühren oder ihm in die Augen zu sehen. Die vorgeschriebene Haltung ihm gegenüber ist das Knien auf der Erde mit der Stirn auf dem Boden. Selbst seine 41 Ehefrauen und 3000 Konkubinen müssen in der Öffentlichkeit stets drei Körperlängen Schrittabstand einhalten. Und wenn der Kaiser, wie es einmal geschieht, Cox und seine Mitarbeiter von den höfischen Regeln befreit, bedeutet dies nicht, dass dies noch beim nächsten Zusammentreffen gilt.

Nein, man möchte natürlich nicht in diesem China des 18. Jahrhunderts leben. Man möchte nicht einmal in der Haut der Engländer stecken. (Und einer wird es auch nicht überleben, wird einem Anschlag zum Opfer fallen; Indiz für eine schwärende Unzufriedenheit in diesem Reich.) Zu schnell kann sich Gunst in Feindschaft wandeln (wie sich exemplarisch an zwei Ärzten zeigt, die den Kaiser angeblich falsch behandelt hatten). Insofern ist der von einigen Kritikern diesem Roman gegenüber vorgebrachte Vorwurf eines allzu affirmativen Exotismus absurd (moralisierende Literaturkritik ist noch unergiebiger als moralisierende Literatur).

Das kostbar verzierte Silberschiff wird eher beiläufig wie ein Spielzeug aufgenommen. Cox soll nun eine »Uhr für Todgeweihte, für Sterbende« bauen, einen Zeitmesser für alle, »die das Datum ihres Todes kannten, das Ende ihres Lebens unabweisbar kommen sahen und sich nicht mehr mit der Hoffnung auf eine Art dehnbarer, vorläufiger Unsterblichkeit besänftigen durften, mit der doch die meisten Lebenden sich über die Endlichkeit ihrer Existenz täuschten.«

Aber auch dieser Auftrag ist nur eine Zwischenstation; das Resultat von Cox' Arbeit, jene Feueruhr mit der modellierten chinesischen Mauer im Hintergrund, scheint niemanden zu interessieren. Schließlich zieht der Hofstaat und mit ihm die Engländer in die Sommerresidenz Jehol um; 180 Meilen, sieben Tage entfernt. Dort herrscht traditionell ein anderer Geist. So wird kein Recht gesprochen, es gibt »keine Richter und keinen Henker«. Jehol soll ein Ort des »heiteren Friedens« sein. Selbst der Kaiser erteilt keine Befehle, sondern nur Wünsche. Das »Warten, Warten und Warten« für die Automatenbauer hält Wochen, Monate an. Endlich erhält er eine Audienz und den Auftrag für eine Uhr mit einem endlos schlagenden Uhrwerk, welches losgelöst von menschlicher Zuwendung ewig schlagen und die Zeit anzeigen soll. Zunächst stürzen sich die Engländer voller Forschungs- und Fertigungsdrang in die Arbeit und Cox wähnt sich seelen- oder mindestens gedankenverwandt mit dem Gottgleichen, ahnte er doch des Kaisers Wunsch im voraus, aber er weiß auch, dass die bloße Erwähnung dieser vermeintlichen Gedankensynchronizität in einem Bericht des Übersetzers oder anderen Schreibers unter Umständen tödliche Konsequenzen haben könnte.

Die Arbeit braucht seine Zeit; Cox hat eine Idee. Hatte er doch eine mysteriöse Uhr an der Grabstätte seines Kindes gebaut, die seitdem autark läuft und nicht mehr aufgezogen werden muss. Man entwickelt und rechnet. Aber die Ungeduld mit den Engländern wächst. »Der sommerliche Friede wurde von den Fremden bedroht.« Auf Wunsch von Cox muss schließlich ein großer Fluss entwässert werden, um 190 Pfund Quecksilber, die für die Uhr benötigt werden, herauszufiltern. Cox hat eine Uhr als Perpetuum mobile konzipiert, die nach barometrischen Prinzipien funktionieren und nur durch den Luftdruck betrieben werden soll. Aber nicht nur dem Übersetzer Kiang sondern auch dem Leser schwant früh, dass ein solches Werk mit dem Titel »Herr der zehntausend Jahre« kollidiert, mit dem der Kaiser sich bezeichnen lässt. Wird der Automat nicht als geradezu blasphemisches Instrument ausgelegt werden?  Und was wird man mit ihnen machen, wenn die Uhr fertiggestellt ist?

Es ist exemplarisch für Ransmayrs Stilistik, wie er die zornige und ängstliche »Frevelrede« des Übersetzers an die Engländer mit Cox' Beobachtung der Natur spiegelt. Dieser betrachtete »die vom Wind zerpflückten Lotosblüten vor seinem Fenster. Wirre, den Teichspiegel aus allen Richtungen aufraspelnde Böen trieben hunderte von Blütenblätter in der Farbe von Zyklamen und Schneerosen wie Spielzeugflotten über das eben noch spiegelglatte Wasser und ließen sie an sandigen Uferstellen, vor unüberwindlichen Barrieren aus Pfahlwurzeln und Treibgut stranden.« Die der Natur abgeschauten Bilder verstärken die potentielle Bedrohung der Engländer und wirken dabei merkwürdigerweise stärker als die rational vorgebrachten Einwände des Übersetzers.

Als sich dann auch noch die Fertigung verzögert und der jahreszeitgemässe Umzug nach Běijīng immer weiter verschoben werden muss (»Der Allmächtige hatte dem Sommer befohlen, nicht zu enden«), weil die unfertige Uhr nicht abgebaut und in die Hauptstadt transportiert werden kann, droht die Stimmung immer mehr zu Ungunsten der Baumeister zu kippen, aber sie genießen offenbar noch den Schutz des Kaisers. Erst als der erste Schnee gefallen war, ist das Meisterwerk fertig aber Cox hört dennoch nicht auf, bringt von den Anderen als unnötig empfundene Ornamente an, denn immer stärker sorgt er sich um Möglichkeiten des Eintreffens der Prophezeiungen seines Übersetzers. Als der Kaiser ihn eines Tages unverhofft, zu Fuß gehend, zusammen mit seiner Gespielin Ān, in die Cox verliebt ist, seit er sie unbeabsichtigt und verbotener Weise einmal beobachtet hatte, besucht, bricht Cox vor Rührung über den »zauberischen Augenblick« in Tränen aus, vergisst die Antworten auf die Fragen Qiánlóngs und verfällt für einen kurzen Moment einer Epiphanie der Zeitlosigkeit; vielleicht der glücklichste Augenblick seines Lebens.

Inzwischen mehren sich auch die Anzeichen, dass auch der Kaiser die Geduld zu verlieren scheint. Der Umzug soll nach Běijīng nun mit mehreren Monaten Verspätung stattfinden. Und nach langem Nachdenken erfindet Cox eine geradezu odysseische List, um einer möglichen Bestrafung durch Kaiser oder Hofstaat zu entgehen.

Fast entschuldigend wird vom Autor in einem kurzen Nachwort für all die übereifrigen Faktenchecker auf die Fiktionalität der Geschichte hingewiesen. Zwar lebte tatsächlich im 18. Jahrhundert ein chinesischer Kaiser mit dem Namen Qiánlóng, der unter anderem auch Uhrensammler war. Und es gab zur gleichen Zeit einen englischen Uhrmacher namens James Cox (nicht Alister), dessen Gehilfe Joseph Merlin hieß. Qiánlóng hatte sogar eine Uhr von Cox in seiner Sammlung. Der englische Uhrmacher baute auch tatsächlich eine Perpetual-motion-Uhr, die einem Perpetuum mobile sehr nahe kam. Aber niemals waren die Engländer in China.

Kunstvoll gelingt es Ransmayr insbesondere in den letzten Kapiteln, wenn die steigende Ungeduld droht in eine feindliche Stimmung umzuschlagen, die aufgebaute Spannung noch zu steigern. Eine Spannung, die freilich das Gegenteil von dem ist, was ein »Krimi« erzeugt; eine Spannung, der man am ehesten mit dem Ausdruck »Suspense« nahekommt. Denn selbst wer sich für die Uhren und Automaten nur wenig interessiert, wird durch Ransmayrs Sprache hineingezogen. Es ist eine Sprache, märchen- oder besser: legendenhaft, frei von jedem Pathos und in einer leichtfüßigen Eleganz daherkommend, gefeit vor den Versuchungen eines übertriebenen, ornamentalen Manierismus. Und trotz des womöglich mutwilligen Missverstehens möchte man sie »zauberhaft« nennen, weil sie sich immer wieder von der bloßen Nacherzählung einer Geschichte löst und den Leser ermuntert, auf die Suche nach den doppelten Böden aufzubrechen.

Denn natürlich ist das Buch nicht nur eine Parabel auf Vergänglichkeit und Zeit (und, im Falle von Cox, dem fast kindlichen Vertrauen auf die heilende, vielleicht tröstende Wirkung durch das Vergehen von Zeit) sondern eben auch eine Allegorie auf die Hybris von menschlicher Macht – sei sie politisch oder, im Falle der Automatenbauer, technologisch ausgestattet.

Und das ist nicht die einzige Andeutung auf das 21. Jahrhundert die Ransmayr listig eingebaut hat (es beginnt ja schon mit den Nasenabschneidern). So kann man eine Parallele zwischen der Vision des »Perpetuum mobile« und der Implementierung der »Raubtieralgorithmen« (Schirrmacher) ziehen, die, von den Physikern des Kalten Krieges entwickelt, verfeinert und in die Computersysteme implantiert unabhängig und ohne jeglichen Einflusses ihrer Schöpfer den weltweiten Aktien- und Devisenhandel bestimmen. Die Technikgläubigkeit der Neuzeit setzt sich im Glauben an die Digitalisierungs- und Biotechnologie-Verheissungen fort. Qiánlóngs Besessenheit, die Zeit über seinen Tod hinaus zu kontrollieren, stünde damit exemplarisch für die zeitgenössischen posthumanistischen Erlösungsphantasien. Und durch Cox' breitwilliger Andienung an den Gewaltherrscher wird auch das Wechselspiel zwischen Forschungsdrang und Ethik, die zuweilen diabolische Allianz von Wissenschaft und Macht, thematisiert.

Christoph Ransmayrs Roman über den (fiktiven) Uhrmacher Alister Cox ist demnach mehr als nur ein exotisches Märchen mit philosophischem Tiefgang. Aber es ist zunächst und im fast wörtlichen Sinne wunderbare Literatur.

Artikel online seit 13.01.17
 

Christoph Ransmayr
Cox
oder Der Lauf der Zeit
Roman
S. FISCHER
304 Seiten, gebunden
22,00 €
ISBN 978-3-10-082951-1

Leseprobe

 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik    Filme   Impressum - Mediadaten