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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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in einer limitierten Auflage von 1.000 Ex.
mit 176 Seiten, die es in sich haben.

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In Verteidigung welcher Gesellschaft?

Philip Pettit sucht in seinem Buch nach einem moralischen Kompass
für das 21. Jahrhundert und findet ihn im Republikanismus.
Seine Politische Theorie verteidigt im Kern die westliche Demokratie
gegen ihre Widersacher.

Von Jürgen Nielsen-Sikora

 

Eine Theorie der Gerechtigkeit

Mehrere Faktoren bestimmten die letzten drei Dekaden des 20. Jahrhunderts: Die ökonomische Krise, die allmähliche Auflösung bis dahin stabiler Identitäten und Gewissheiten sowie immer größer werdende Ungleichheiten innerhalb der Gesellschaft. Fragen nach Verantwortung und Gerechtigkeit traten an die Seite des Rufs nach Freiheit. Deshalb stieß vor allem John Rawls' »Theorie der Gerechtigkeit« Anfang der 1970er Jahre nicht nur in Amerika, sondern auch in Europa auf so fruchtbaren Boden. Kaum ein anderes philosophisches Buch wurde seinerzeit so breit und öffentlich diskutiert.

Der amerikanische Historiker Daniel T. Rodgers schreibt hierzu: »The idea of justice as rooted in the active work of democratic communities came ... out of the 1960s left. It had taken shape in the direct-action political communities formed by African-American activists during the Montgomery bus boycott, the Greensboro and Nashville sit-ins, and the Mississippi voting rights crusade; in the cooperatives, caucuses, affinity groups, community organizing projects, and consciousness-raising meetings that carried the energy of new left politics. The hope of creating a new, »participational democracy« ... grew out of those struggles.«

John Rawls konnte an die Hoffnung auf eine partizipatorische Demokratie anknüpfen, indem er eine sozial-politische gesellschaftliche Grundordnung entwarf, die auf der Gleichheit ihrer Mitglieder beruht. Gegen die utilitaristische Annahme, man dürfe den Einzelnen zum Zwecke des Gemeinwohls benachteiligen, setzte Rawls auf einen hypothetischen Urzustand, in dem alle Beteiligten, von einem Schleier des Nichtwissens umgeben, über jene Gerechtigkeitsprinzipien entscheiden, die der realen Gesellschaftsordnung zugrunde liegen sollen. In diesem Zustand aber weiß niemand, welchen Platz er in dieser neuen Ordnung einnehmen wird. So soll sichergestellt werden, dass die Prinzipien fair verhandelt werden.

Kommunitarismus vs. Liberalismus

Es ging Rawls damals darum, ein Verfahren für eine Gesellschaftsordnung zu entwerfen, das so fair ist, dass am Ende jeder, der eine ihm vorab unbekannte Position in dieser neuen Gesellschaft einnimmt, seiner ihm zugedachten Rolle wird zustimmen können. Rawls´ Theorie wurde nicht zuletzt deshalb so stark rezipiert, weil die Sensibilitäten in Amerika nach 1975 sich so dramatisch veränderten und viele Amerikaner ein eher pessimistisches Bild ihrer Zeit hatten: Sie lebten, gerade nach der Watergate-Affäre und dem Ölpreisschick, in einer »Decade of Nightmares« (Jenkins), in der es nur allzu berechtigt erschien, nach gerechten Prinzipien des Miteinanders Ausschau zu halten.

Die Kritiker ließen freilich nicht lange auf sich warten. Die politische Philosophie antwortete auf den Liberalismus Rawls´ alsbald mit einer als »Kommunitarismus« bekannt gewordenen Strömung: Michael Walzer, Benjamin Barber, Michael Sandel und Charles Taylor gehörten zu jenen Vertretern, die sich mit Rawls eindringlich auseinandergesetzt und die Debatte über Freiheit und Gerechtigkeit nachhaltig geprägt haben. Sie weisen das Gedankenspiel eines Urzustandes zurück und betonen die immer schon mitgegebene, sprachliche wie kulturelle Eingebundenheit des Menschen in eine Gemeinschaft. Es sei stets die einer Tradition verhaftete Gemeinschaft, die Werte und Normen vorgebe. Insofern könne auch nur innerhalb dieser Gemeinschaft über Grundsätze der Gerechtigkeit und Freiheit verhandelt werden. Der Kommunitarismus legte hierbei Wert darauf, zivilgesellschaftliches Engagement zu stärken, um eine gemeinwohlorientierte Demokratie zu fördern.

Pettits Republikanismus

Der Kommunitarismus entwickelte verschiedene Spielarten. Eine dieser Spielarten ist der Republikanismus, dem auch Philip Pettits Buch zuzurechnen ist. Ausgehend von den Bürgertugenden zur Zeit der römischen Republik fokussiert der Republikanismus das an basisdemokratischen Prozessen orientierte Gemeinwohl und plädiert für eine Kontrolle des Staates durch politisch aktive Bürger – Menschen mit »Kraft und Verstand«, die sich nicht bloß beherrschen lassen. Pettit geht von der Annahme aus, »dass man bei einer Wahl nicht frei sein kann, wenn man sie in Unterwerfung unter den Willen eines anderen Handelnden trifft, egal ob man sich der Unterwerfung nun bewusst ist oder nicht.«

Das Ideal von Pettits republikanischer Lesart lautet dementsprechend: »Freiheit als Nichtbeherrschung«. Allerdings schränkt er dies sogleich auch wieder ein, da absolute Wahlfreiheit in allen Bereichen geradewegs in die Anarchie führen würde. Legitim sind für Pettit insofern bestimmte Abhängigkeitsformen des sozialen Lebens. Die Formen der Einschränkung individueller Freiheit buchstabiert er im Einzelnen durch und nennt die Voraussetzungen, unter denen sich Freiheit dennoch entfalten kann. Dazu gehört insbesondere, Zugang zu Ressourcen zu haben und staatlichen Schutz durch Gesetze und Normen zu genießen. Es gilt, regional spezifische Grundfreiheiten zu gewährleisten. Mögliche Kandidaten für Grundfreiheiten wären Redefreiheit, Religionsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Bewegungsfreiheit sowie besondere Eigentumsrechte.

Die Inanspruchnahme solcher Grundfreiheiten sowie die Beteiligung an der demokratischen Kontrolle des Staates garantiere eine gerechte Gesellschaft. Als Anspruchsteller dieser Freiheiten definiert Pettit »alle erwachsenen, geistig gesunden, mehr oder weniger dauerhaft ansässigen Einwohner«. Diese müssten sich einander in die Augen sehen können, »ohne sich fürchten oder fügen zu müssen.« Um dies gewährleisten zu können, empfiehlt Pettit unter anderem die Etablierung verschiedener Politiken in den Bereichen Steuer, Umwelt, Recht, Justiz, Wirtschaft und Soziales.

Wer nun den Eindruck bekommt, Pettit beschreibe allenthalben die Kernidee einer lebendigen Demokratie, wie sie sich mehr oder minder nach 1945 in der westlichen Welt herauskristallisiert hat, liegt nicht ganz verkehrt. Selten geht seine republikanische Idee von Freiheit und Demokratie über das hinaus, was in demokratischen Verfassungen europäischer Länder sowie in Nordamerika eine Selbstverständlichkeit ist. Darüber hinaus bringt er die seit den 1970er Jahren währende Diskussion zwischen liberalistischen und kommunitaristischen Denkern nicht wirklich voran. Die meisten Aspekte seiner politischen Theorie wird man ohne weiteres abnicken können, weil sie inzwischen Allgemeingut geworden sind. Echte moralische Dilemmata politischer Praxis wirft sein Entwurf hingegen nicht auf. Die abstrakte Verteufelung des Globalisierungsprozesses, wie sie bei Pettit anklingt, ist zu wenig.

Mehr als fraglich bleibt auch die Einschränkung des Geltungsbereichs seines Freiheitsbegriffes auf »erwachsene, geistig gesunde, mehr oder weniger dauerhaft ansässige Einwohner«. An dieser Stelle müsste eine tiefgreifende Kritik seiner elitär anmutenden Theorie ansetzen und fragen, welches Konzept von Partizipation diese Lesart des Republikanismus wirklich vertritt...

Artikel online seit 04.09.15
 

Philip Pettit
Gerechte Freiheit
Ein moralischer Kompass für eine komplexe Welt
Aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann
Suhrkamp
Gebunden, 350 Seiten
29,95 €
978-3-518-58622-8

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