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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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Leben vor dem Sprung

In seinem neuen Roman bewegt sich Hans Platzgumer
konsequent am »
Am Rand« des Erträglichen

V
on Jörn Birkholz

Es gibt Bücher, da weiß man schon nach den ersten Seiten, dass man ein besonderes Stück Literatur in den Händen hält, und die Lektüre keine Zeitverschwendung sein wird.
»Am Rand«, der neue Roman des gebürtigen Innsbrucker Musikers und Autors Hans Platzgumer, erschienen im Wiener Zsolnay Verlag, ist so ein Buch.
Platzgumers Held Gerold Ebner, zweiundvierzigjährig, klettert auf den Voralberger Bocksberg, um dort seine Geschichte aufzuschreiben - die Geschichte seiner Jugend, und die Geschichte, die ihn zum zweifachen Mörder machte – und sich dann in den Tod zu stürzen.

In »Am Rand« beschreibt Platzgumer zunächst eine Jugend, dann ein Erwachsenenleben, die beide von Rohheit, Härte und dem Tod bestimmt sind. Er skizziert sehr eindrucksvoll und vor allem ausdrucksstark, ohne dabei ins Geschwätzige abzugleiten.
»Der erste Tod, mit dem ich konfrontiert wurde, trat so still und heimlich in mein Leben, dass ich ihn jahrelang nicht bemerkte. Eines Tages trug man den Nachbarn, den alten Herrn Gufler, mit den Füßen voraus aus unserem Wohnhaus. Niemanden war aufgefallen, dass er schon seit mindestens einem Jahr tot war. Viele Monate verharrte er regungslos im Lehnstuhl seines Wohnzimmers, wo er mit aufgesetzten Kopfhörern vor dem Fernseher eingeschlafen und nie wieder erwacht war. Vom Ton des Fernsehprogramms beschallt, war er in seiner Wohnung völlig vertrocknet. Unzählige Male war ich im Stiegenhaus an der Gufler'schen Mumie vorbeigegangen, meine Hand an der Wand, hinter der Herrn Guflers Fernsehzimmer lag, das seine Totenkammer geworden war (…) Zum Glück unterbrach das Fernsehen in den siebziger Jahren nachts das Programm und zeigte bloß Testbilder oder von einer Lokomotive aus gefilmte Bahnfahrten. So wurden der Guflermumie wenigstens Pausen gegönnt …« 

In Gerolds Umfeld gibt es Banden, lebensgefährliche Mutproben, Todessehnsucht, Gewalt, mitunter kleinere Foltereien, exzessives Karatetraining (Shōtōkan-Kampfkunst), und schließlich einen stumpfen rauen Großvater, der die Tochter - also Gerolds Mutter, ehemalige Prostituierte, später Nonne - terrorisiert, und der schließlich bettlägerig von Gerold in einer sehr plastisch beschriebenen Szene, grausam erstickt wird. Weitere drastische Szenen folgen; wie der Unfall seines letzten und besten Freundes Guido, der anstelle von Mineralwasser, versehentlich ätzende Industrielauge schluckt, zwar überlebt, aber sich von da an etlichen unerfreulichen Operationen (zunächst Dehnung, später dann Entfernung der Speiseröhre) zu unterziehen hat, bis er sich zu einem letzten radikalen Schritt entschließt. »Ich blicke über meine Schulter zu Guido ins Wohnzimmer. Wie der alte Gufler saß er unverändert vor dem Fernseher. Vielleicht war er bereits gestorben und im Begriff zu mumifizieren? Vielleicht sollte ich ihm einen Kopfhörer aufsetzen, die Wohnung verlassen und in einem Jahr wiederkommen.« 

Und dann sind da noch Gerolds Schriftstellerambitionen, und Elena, seine einzige Liebe, die über sämtliche seiner Aufzeichnungen vernichtend urteilt, und ihn schließlich auffordert, ihr erst wieder etwas zu lesen zu geben, wenn er etwas fertiges und brauchbares fabriziert habe. Dies führt dazu, dass Gerold das Schreiben schließlich ganz aufgibt. »Besser hätte ich Elena, die mir näher als alles in der Welt stand, nicht so früh in den Schreibprozess miteinbezogen, denn ihre Kritik verwirrte und demotivierte mich, spornte mich nicht an, sondern spülte ein Gefühl des Versagens über alles, was ich schrieb.«
Im Verlauf der Beziehung bekommen sie ein Kind - allerdings nicht auf die konventionelle Art. Und auch eine familiäre Bergtour endet anders als geplant.

Bei all der Schonungslosigkeit und Radikalität dieses Buches, das mich phasenweise an die Romane von Jerzy Kosiński erinnerte, blitzt gelegentlich ein Humor auf, den man als drastisch, absurd, tiefschwarz oder morbide bezeichnen darf.
»Im Radio spielten sie häufig I Only Wanna Be With You von einer Band, die, wie wir dachten B-Südtirolers, nicht Bay City Rollers hieß. Also nannten wir unsere Gang die A-Südtirolers.«
»Welcher Freier geht schon zu einer Schwangeren? Gut, manchen ist alles egal, Hauptsache, es ist billig und ohne größere Komplikationen, mein Vater war wohl so einer.«
»Ich wusste nun mit Sicherheit, dass die Kinder im Recht waren, die mich Hurensohn nannten. Nicht länger empfand ich es als Beschimpfung, sondern als legitime Bezeichnung.«
»Von einem deutschen Schriftsteller habe ich einmal gelesen, dass er sich aus Enttäuschung über seinen literarischen Misserfolg das Leben nahm. Er stieg auf einen Stapel, den er aus seinen erfolglosen Büchern und Manuskripten errichtet hatte, und sprang von seinem Œuvre aus in den Strick.«
 

Fazit: Ein unbarmherziger, düsterer, überaus beeindruckender und lesenswerter Roman.

Artikel online seit 23.04.16

 

Hans Platzgumer
Am Rand
208 Seiten
Zsolnay
Fester Einband
ISBN 978-3-552-05769-2
19,90 €
ePUB-Format
15,99 €
ISBN 978-3-552-05789-0

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5 Fragen an Hans Platzgumer:
zum Interview

 


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