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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
Ein großformatiger Broschurband
in einer limitierten Auflage von 1.000 Ex.
mit 176 Seiten, die es in sich haben.

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Ein Leben am Abgrund

Fujimori Nakamuras Roman »Der Dieb« erzählt von einem Gauner mit Prinzipien.
Er wurde 2010 mit dem
Ōe-Kenzaburō-Preis ausgezeichnet.

Von Monique von Delft

 

»Wenn ich meine Hände jedoch nach dem Eigentum fremder Leute ausstreckte, fühlte ich in der Anspannung des Moments so etwas wie Freiheit. Ich fühlte, dass es möglich war, mich von der beengenden Umgebung zumindest ein ganz klein wenig zu lösen.«

»Der Dieb« – So schnörkellos, ja anonym der Titel des Buches klingt, so perfektionistisch und gerade führt die Hauptfigur ihr Handwerk aus. Er ist einer von vielen in der Metropole Tokio. Ein Krimineller in einer Gruppe Krimineller, jedoch jemand, der sich aus Geld nichts macht, ja sich manchmal gar nicht mehr bewusst ist, eine bestimmte Sache gestohlen zu haben. Gewalt meidet er, nur reiche Männer sind vor ihm nicht sicher. Wie sein richtiger Name lautet, das weiß scheinbar keiner. Nicht einmal sein guter Freund mit dem gemeinsamen Beruf. Desto erschreckender für ihn, dass es ein Boss weiß. Ein großer Boss. Einer, der Nishimuras Schicksalsfäden in der Hand hält. Und diese nach Belieben tanzen lässt.

»Das Kind langte zielstrebig und konzentriert zu, wie es die Mutter erwartete. Es bewegte sich geschickt, darauf bedacht, ja nicht entdeckt zu werden und dadurch die Mutter in Schwierigkeiten zu bringen. Die Beine, die aus den kurzen blauen Hosen ragten, waren recht dünn, die Ärmelenden und Taschen seiner grünen Kapuzenjacke waren zerschlissen. In dem Laden fielen die beiden sofort auf.«
Auffallen – eines der Dinge, die Nishimura vermeidet. So gekleidet, dass ihn niemand als verdächtig einstuft, geht er auf Raubzug durch die Massenmetropole. Manchmal in der U-Bahn, manchmal im Menschenauflauf. Sein Ziel sind meist die Geldbeutel reicher Leute. Wieso er stielt? Um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, der alles andere als ausufernd ist.

Bei einem Einkauf beobachtet er einen kleinen Jungen, der Dinge stielt, auf die seine Mutter deutet. Schnell ist ihm klar, dass der Junge ihm ähnelt, als er selbst in dessen Alter war. Und vielleicht merkt das auch der Kleine. Denn er ist es, der immer wieder zu dem Dieb zurückkommt, in ihm eine Art Vaterfigur sieht. Und Nishimura kümmert sich um ihn – in seiner geraden Art. Wirklich warme Liebe und viel Worte kommen in seiner Welt nicht vor. Er tut, was getan werden muss. Er stiehlt, weil das zu seinem Leben gehört, manchmal schon fast automatisch abläuft. Er verschenkt Geld, wo er helfen will. Und er versucht dem Jungen ein besseres Leben zu ermöglichen. Vom Freund seiner Mutter, einer Prostituierten, geschlagen und zum Stehlen gezwungen, ist der Kleine auf sich selbst gestellt.

»Tu so, als wäre ich dein Papa, und bleib an meiner Seite. Dann wird auch die Tasche verdeckt.« Nishimura zeigt dem Jungen ein paar Tricks beim Stehlen, will aber gleichzeitig nicht, dass er diese Laufbahn weiter verfolgt. Nicht nur das gemeinsame Hobby, sondern auch die Wortkargheit und das Talent verbinden die beiden Diebe. Ebenso ihre Einsamkeit und ihr auf sich selbst gestelltes Leben. Sagt doch die Mutter des Jungen an einer Stelle zum Dieb: »[…] Ehrlich gesagt, wozu sind Kinder eigentlich gut? Die sind doch nur am Anfang süß.«

Süß – das ist weder das Leben ihres Sohnes noch das Leben des Diebes. Von einem sehr guten Freund und Kollegen, dem tot geglaubten Ishikawa, in einen Coup verwickelt, muss der Dieb um sein Leben fürchten. Denn der Boss des vergangenen Coups fordert von ihm drei Aufgaben: Er soll bei drei Personen bestimmte Dinge beschaffen. Und das in einer begrenzten Zeit. Ein Wettlauf beginnt – und das nicht nur gegen die Zeit. Denn hat man eine Chance, wenn der Gegner das eigene Schicksal ist?

Der Dieb lebt sein eigenes Leben. Rau sind die Kreise, in denen er hineingezogen wird, und das Stehlen gehört für ihn dazu wie der Sex mit der Mutter des kleinen Jungen: Beides ist automatisiert, letzteres nur Mittel zur Befriedigung. Die Menschen, die ihm wirklich wichtig waren, hat er verloren: seine ehemalige Geliebte Saeko und Ishikawa, wie es scheint, sein ehemals bester Freund.

Der Turm

»Im Rückblick war dieser Moment vielleicht eine Befreiung, weil sich mein Tun zum ersten Mal der Außenwelt offenbarte – und nicht nur dem Turm. Ein solches Gefühl von Freiheit hatte ich bisher noch nicht erlebt.«
Immer wieder spricht der Protagonist von einem Turm, der sich in dessen Träume geschlichen hat. Als Kind hat er ihn beim Spielen manchmal in einiger Entfernung gesehen. Und dieser Turm scheint ein Sinnbild zu sein – vielleicht eine beobachtende Instanz. Gefangen in seiner Diebeswelt, verkörpert der Turm das Ziel, dass er nie erreichen wird, nämlich das Stehlen hinter sich zu lassen – auch wenn es eigentlich alles ist, was der Dieb hat.

Der Autor

Fuminori Nakamura, selbst in Tokio lebend, hat mit seinem Buch ein Werk über die Schattenseiten einer Großstadt geschrieben, verbunden mit der Frage nach Schicksal und Vorherbestimmung. Kann man wirklich immer selbst entscheiden, wie sein eigenes Leben verläuft oder hängt es doch von anderen ab? Kann es sogar sein, dass man selbst das Schicksal anderer in der Hand hält?
Mit seiner geraden, sachlichen Sprache, die dem Dieb als wortkargen, einfachen, aber nicht dummen Menschen gerecht wird, entführt uns der Autor in eine Welt der Grausamkeit, Brutalität und Angst, gemischt mit dem Versuch von Liebe. Im Hintergrund immer die Fragen nach dem Sinn des Lebens, die jeder Leser für sich selbst beantworten muss. Diese Kombination ist wahrscheinlich der Grund, wieso »Der Dieb« vom Wall Street Journal unter die zehn besten Romane des Jahres 2012 gewählt wurde und unter seinem Originaltitel »Suri« 2010 den
Ōe-Kenzaburō-Preis erhielt. Unzählige Romane hat der Krimiautor bereits in Japan veröffentlich, darunter auch »Last winter we parted«, »Enma the Immortal« oder »Evil and the Mask«, öfter schon Preise bekommen. Gar nicht schlecht für jemanden, der nur zum Autor wurde, weil er sich laut The Japan Times nicht für die Arbeitssuche nach dem College interessierte. Er selbst sei ein »self-described pessemist with a dark personality«. Diese »dunkle Persönlichkeit« verleiht er in »Der Dieb« mehreren Figuren – mal ist sie von positiveren Eigenschaften überdeckt wie beim Hauptprotagonisten selbst, mal kommt sie in ihrer ganzen Grausamkeit zum Vorschein wie bei Kizaki.

»Ich dachte über den Tod nach, auch darüber, wie mein Leben bisher verlaufen war. Ich hatte mich von allem abgewandt, hatte Gemeinschaft verschmäht, Glück und Licht und stattdessen meine Finger in fremde Taschen gesteckt. Ich hatte eine Mauer um mich errichtet und mich in die finsteren Ritzen des Lebens eingeschlichen. Komisch, und trotzdem wollte ich jetzt noch ein bisschen dableiben.«

Nicht nur der Dieb muss sich an Punkten in seinem Leben mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen. Auch wir müssen das. Vergangenheit kann man nicht ändern, Freunde nicht wieder ins Leben rufen und manchmal holt uns das ein, was Kizaki, der große Boss, als Schicksal bezeichnet. Und das ist es, was uns mit der Hauptfigur mitfühlen lässt: Die Frage nach dem Sein, das Leben mit all seinen Höhen und Tiefen und die Gelegenheiten, die jeder von uns bekommt, Menschen, denen man begegnet, zu helfen. Auch wenn es nur ein kleiner Junge ist.
Was harmlos beginnt, lässt Autor Fuminori Nakamura zu einem Strom aus Liebe, Gewalt, Kaltherzigkeit und der Frage nach dem Schicksal werden.


Artikel online seit 08.12.15
 

Fuminori Nakamura
Der Dieb
Roman
Aus dem Japanischen von Thomas Eggenberg
Diogenes
224 Seiten
22,00 €
978-3-257-06945-7

 


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