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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
Ein großformatiger Broschurband
in einer limitierten Auflage von 1.000 Ex.
mit 176 Seiten, die es in sich haben.

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Zerrissen, uneins, wild und befreiend

John Higgs erkundet das 20. Jahrhundert

Von Jürgen Nielsen-Sikora

Bücher über das 20. Jahrhundert gibt es zuhauf, ja man könnte eine ganze Bibliothek mit Werken über die Zeit zwischen 1901 (als Freuds „Psychopathologie des Alltagslebens“ erschien) und dem Jahre 2000 (als die Deutsche Post AG an die Börse ging) ausstatten. Nie zuvor gab es eine solche Fülle verschiedener Quellen: Nicht nur Schriftstücke, Devotionalien und Gemälde, sondern auch Audio-Dateien, Filme, Fotos und Alltagsgegenstände geben bereitwillig Auskunft über das, was im 20. Jahrhundert passierte. Es ist gerade diese Fülle an Materialien, die es zugleich verunmöglicht, sich ein Gesamtbild vom vorigen Jahrhundert zu machen. Allein die unzähligen Einzelstudien über den Ersten Weltkrieg, den Nationalsozialismus, die 68er und den Fall der Berliner Mauer legen hiervon Zeugnis ab.

John Higgs unternimmt dennoch eine Reise durch dieses seltsame und in seinen Extremen schon so treffend portraitierte Jahrhundert. Anders als so viele andere vor ihm begibt er sich hierbei immer wieder auf die Nebenpfade der Geschichte. Es sind weniger die politischen Ereignisse als vielmehr wissenschaftliche Errungenschaften, Kunst und Kultur, die im Vordergrund stehen. So begegnen wir Hitler und Churchill nur am Rande, bekommen es dafür aber mit Douglas Adams, Woody Allen, den Beatles und Salvador Dalí zu tun (dessen „Lobster Telephone“ das Buchcover ziert).

Eine anschaulichere Erklärung von Einsteins Relativitätstheorie wird man woanders ebenso wenig finden wie das verrückte Zusammenspiel von Schrödingers Katze, Margaret Thatcher, dem FCKW, Marie Stopes, New Age, Lady Chatterley, Koroljow, Simone de Beauvoir und vielen anderen, die dem Jahrhundert heimlich ihren Stempel aufgedrückt haben.

Das Buch behandelt in 15 absolut lesenswerten Kapiteln die wesentlichen gesellschaftlichen Veränderungen ohne chronologischen Anspruch. Zentral ist der Gedanke, dass das 20. Jahrhundert sich von ewigen Wahrheiten und der Suche nach einem Zentrum („Omphalos“) abgekehrt hat. Die Welt wird von Unbestimmtheit beherrscht. Individualismus, Nihilismus, Science-Fiction und die Postmoderne sind Nebenwirkungen dieser neuen Unübersichtlichkeit: „Stellen Sie sich vor, die Menschen auf unserem Planeten wären Lichtpunkte ähnlich den Sternen am nächtlichen Himmel. Vor dem 20. Jahrhundert projizierten wir ein einengendes System auf die Punkte und verbanden sie in einer hierarchischen Struktur unter einem Gott oder Kaiser ... Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zerbrach dieses System, und die Punkte wurden freigesetzt, so dass jeder seine eigene Perspektive hatte. Das war die postmoderne, relative Welt aus Individuen ... das 20. Jahrhundert in seinem ganzen chaotischen Glanz, zerrissen und uneins, aber wild und befreiend.“

Ganz egal, ob es die Theorien von Michel Foucault und Jacques Derrida, die Bilder von Max Ernst oder das Weltbild von Richard Feynman sind: Higgs Erzählkunst schafft es, all diese scheinbar verschiedenen Dinge anschaulich zu erklären und dem 20. Jahrhundert somit eine Seele zu geben. Man versteht nach der Lektüre so viel besser, warum die sexuelle Revolution, das Wirtschaftswachstum, Aleister Crowley, die Chaostheorie und das Internet mehr miteinander zu tun haben als wir bislang angenommen haben.

Artikel online seit 19.09.16
 

John Higgs
Alles ist relativ und anything goes
Eine Reise durch das unglaublich seltsame und ziemlich wahnsinnige 20. Jahrhundert Aus dem Englischen von Michael Bischoff
Suhrkamp
379 Seiten
25,00 €
978-3-458-17663-3

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