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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Schriftsteller, Fotograf & Kosmopolit: Wer ist Teju Cole?

Die Essaysammlung
»Vertraute Dinge, fremde Dinge«

Von Jürgen Nielsen-Sikora

 

Teju Cole, in den USA geboren und in Lagos aufgewachsen, ist Schriftsteller, Fotograf und Kosmopolit. Bekannt wurde er mit seinem Roman »Open City« (2011), einer Geschichte über den Psychiater Julius, einem ziellos durch die Straßen Manhattans streifenden jungen Mann, der sich vom Strom der Menschen und Dinge treiben lässt und über die Einsamkeit in einer Großstadt philosophiert. Hin und wieder hält er inne und blättert in den Straßen und Gassen New Yorks wie in einem Buch: »Ich bahnte mir meinen Weg durch die Menge der Kauflustigen und der Angestellten, durch Baustellen und an hupenden Taxis vorbei. Wenn ich durch belebte Teile der Stadt lief, fiel mein Blick auf mehr Menschen, hundert- oder sogar tausendmal mehr Menschen, als ich den ganzen Tag zu sehen gewohnt war, doch der Eindruck dieser zahllosen Gesichter trug nicht dazu bei, mein Gefühl der Isolation zu lindern.«

Als Kind nigerianischer Eltern kehrt Cole mit 17 Jahren in die USA zurück, wo er heute lebt, unter anderem für die New York Times schreibt und am Bard College, Annandale-on-Hudson, lehrt. Der Protagonist seines Romans weiß: »Jeder Mensch muss sich unter bestimmten Bedingungen als Sollwert der Normalität setzen und davon ausgehen, dass seine Psyche für ihn selbst nicht undurchschaubar ist, nicht undurchschaubar sein kann. Vielleicht verstehen wir das unter geistiger Gesundheit: dass wir uns selbst, so verschroben wir uns auch finden mögen, niemals als die Bösewichte unserer eigenen Geschichte wahrnehmen.«

»Open City« war ein ungewöhnlicher Roman, ein weises Buch, bei dem schnell klar wird: So etwas hat man noch nicht hundertfach gelesen. Von dem Flaneur Julius förmlich mitgerissen auf dessen Tour durch die amerikanische Metropole und seine eigene Vergangenheit, leidet man mit dem in der Masse völlig verlorenen New Yorker.

Vertraute Dinge, fremde Dinge

Cole legt nun mit der Essaysammlung »Vertraute Dinge, fremde Dinge« ein weiteres bemerkenswertes Buch vor. Die versammelten Texte sind mal nachdenklich, mal kritisch, nicht selten äußerst witzig, fast immer überraschend, kenntnisreich und von höchstem sprachlichen Niveau.

Im Kern geht es darin um die wesentlichen Dinge des Lebens, die mal vertraut, mal weniger vertraut sein mögen: Es geht um Literatur, Fotografie, Filme, um das Theater, die Musik und das Reisen (insbesondere die Reisen in das Land seiner Eltern, Nigeria). Viele Texte reflektieren zudem den amerikanischen Rassismus und das Schwarzsein: »Schwarz zu sein bedeutet, bevorzugtes Ziel selektiver Strafverfolgung zu sein und psychisch in einem prekären Zustand zu leben, der körperliche Unversehrtheit nicht garantieren kann. Du bist zuallererst ein schwarzer Körper und erst dann ein junger Mann, der die Straße entlanggeht, oder ein Harvard-Professor, der seine Schlüssel sucht.«

Literatur

Cole begibt sich auf die Spuren des afroamerikanischen Schriftstellers James Baldwin, der Fragen der Identität von Schwarzen und Homosexuellen aufgeworfen hat. Nach einem Nervenzusammenbruch hielt sich Baldwin 1951 im Schweizer Kurort Leukerbad auf. Seine Erinnerungen an diesen Aufenthalt fließen 1955 in die Schrift »Fremder im Dorf« ein. Cole reist nach Leukerbad, um Baldwins Buch besser verstehen zu können, und er macht ähnliche Erfahrungen der Fremdheit wie 50 Jahre zuvor sein literarisches Vorbild.

Als Kontrast hierzu diniert Cole mit dem Literaturnobelpreisträger Vidia Naipaul und gesteht, er habe von ihm gelernt, seinen eigenen Weg zu gehen, unabhängig zu sein. Ein eigenes Kapitel der Essaysammlung ist Naipauls Roman »Ein Haus für Mr. Biswas« gewidmet. Interessant ist auch zu lesen, dass ein Lyriker wie der Nobelpreisträger Tomas Tranströmer auf Cole eingewirkt hat. Cole zitiert Tranströmers wundervolle Zeilen:

Träumte, ich hätte Klaviertasten auf den
Küchentisch gezeichnet. Ich spielte darauf, stumm.
Die Nachbarn kamen herein, um zuzuhören.

Auch die Romane und die Lyrik von W. G. Sebald nennt Cole als einflussreiche Quelle seines eigenen Werks. Sebald verstehe es, historische Fakten, Erinnerungen, Biografien, Kunsttheorie, Fachwissen und Reflexionen über die Geschichte der Gewalt auf einzigartige Weise ineinander zu weben. Immer wiederkehrende Sujets wie Eisenbahnen, Grenzen, Reisen, Landschaften und abgeschiedene Orte hätten ihre je eigenen Geheimnisse. So heißt es bei Sebald:

Irgendwo
hinter Türkenfeld
eine Fichtenschonung
ein Tümpel im
Moor in dem
langsam das
Märzeis zergeht

Für Cole verdüstert sich die nette Idylle, als er erfährt, dass das »Türkenfeld« ein Außenlager des KZ Dachau ist. Sebald wird für ihn deshalb zum »Dichter verschwiegener Dinge«.
Auch in Deutschland weniger bekannten Schriftstellern spürt Cole nach. So etwa dem Südafrikaner Ivan Vladislavić, dessen Sprache er für so »feinkörnig wie Silbergelatine« hält und dessen Romane sich keinem bestimmten Genre zuordnen ließen.
Einige Essay über Literatur greifen Anekdoten auf. So etwa der Text über den britischen Schriftsteller John Berger, der einst aus der National Gallery in London geworfen wurde, weil er sich weigerte, seine Tasche an der Garderobe abzugeben.
Ausgesprochen witzig ist der Essay »Anstatt zu denken«, der ganz fabelhaft mit Phrasen und Klischees spielt, in dem er, angelehnt an Flauberts »Wörterbuch der Gemeinplätze« und Ambrose Bierce´ »Des Teufels Wörterbuch«, auf vier Seiten eine Liste mit Begriffsdefinitionen präsentiert, die Coles Aversion gegen gedankenlose Plattitüden zum Ausdruck bringen. Ein paar Beispiele:

Afrika. Ein Land. Arm, aber glücklich.
Diversität. Wünschenswert. In Maßen. Erwähnen Sie Ihre Arbeit beim Peace Corps.
Feminist/Innen. Wunderbar, theoretisch.
Migrant. Mexikanischer Einwanderer.
Schokolade. Begriff zur Beschreibung der Hautfarbe schwarzer Frauen. Keine weiteren Bedeutungen bekannt.

Fotografie und Film

Das zweite große Themenspektrum der Essays ist die Fotografie, die Cole als ein »visuelles Selbstgespräch« begreift. Es sind teils theoretische Reflexionen, die Gedanken von Susan Sontag, Aby Warburg oder Walter Benjamin fortführen (auch von Roland Barthes, obwohl dieser nicht genannt wird), die sich darüber hinaus jedoch auch ethische Fragen stellen wie: »Was sollen wir machen mit einem faszinierenden Foto, das zugleich Inbild von Leid ist?«

Schließlich geht Cole auf einzelne Fotografen näher ein. So auf Sergei Ilnitsky und Saul Leiter, in dem er den »wohl spannendste(n) Vertreter der Farbfotografie der 1950er Jahre« erblickt und dessen Bilder ihn an die japanische Malerei und den Abstrakten Expressionismus erinnern. Seine Fotos seien »wie mit dem Pinsel hingewischt« und ausgesprochen lyrisch.

In Auseinandersetzung mit Gueorgui Pinkhassov fragt sich Cole zudem: »Was wird im Zeitalter metastasierender Reproduzierbarkeit aus der Kunst?«, und er konstatiert: »Das Problem ist nicht, dass Fotos verändert werden..., sondern dass sie alle auf dieselbe Weise verändert werden: hohe Kontraste, Weichzeichnung, übertriebene Farbsättigung...« Deshalb seien auch »alle schlechten Fotos ... einander ähnlich, jedes gute hingegen ist gut auf seine Weise.« Kurz: »Alle Selfies sind gleich.«

Auffällig wird in diesem Zusammenhang Coles beinahe schon enzyklopädisches Wissen der Gegenwartskultur. Freilich rekurriert er auf einige bekannte Künstler wie etwa Gerhard Richter oder den Schweizer René Burri und dessen 1960 in Sao Paulo aufgenommenes Bild »Männer auf dem Dach«, von dem er versucht herauszufinden, wo genau es aufgenommen wurde. Doch gibt es auch immer wieder neue Namen und Werke zu entdecken, wie zum Beispiel Dina Kelberman oder Beth Adams.

In Fotografien entdeckt Cole insbesondere »Erinnerungen an nie Gesehenes« in einer »Zeit, in der nichts unbeobachtet bleibt« und die Manipulation der Sujets an der Tagesordnung ist. Hin und wieder streut er in seine Beschäftigung mit Fotos auch Kommentare zu Filmen und Videos ein. So etwa zu Michael Haneke und seinen Themen Gewalt, Erotik, Verlust und Angst, oder zu Krzystof Kieślowskis »Drei Farben Rot«, jenen Film, an den er in »Open City« in der Szene erinnert, in der Julius verfrüht zu einer Verabredung im Restaurant eintrifft und stumm die Nachrichten im TV verfolgt.

Reisen

Cole wird permanent von Fernweh getrieben. Er bereist die Welt und erinnert an seine Kindheit in Lagos. Der dritte Teil berichtet von seinen Reisen durch die USA, nach Europa und Afrika und in den Nahen Osten. Er erzählt von Jerusalem, Paris, Zürich, London, New York, Rio und Berlin, von Spielarten des Aberglaubens wie dem »Penisraub« in Nigeria, von Begegnungen wie die mit Wole Soyinka oder der Absurdität der Metaphern für Ebola, die er selbst auf die Spitze treibt. So sei Ebola »der IS der biologischen Waffen ... das Nordkorea der Erdnussallergien ... die Newsweek des Mundgeruchs ... das CNN des CNN.«

Thematisch ist dieser dritte Teil weiter gefächert als die beiden ersten. Denn nicht zuletzt kommen hier auch politische Statements zum Tragen. Wir lesen Coles Kritik an Obamas Politik. Das literarische Ergebnis ist bissig. Er schreibt Romananfänge um, die vieles entlarven: »Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens von einer Predator-Drohne erlegt.«

Wir verfolgen darüber hinaus seine Einlassungen zu Boko Haram, sowie seine Schilderungen von Folter, Lynchjustiz, Entführungen und Raubüberfällen. Mob, Pöbelherrschaft und falsche Anschuldigungen prägen unsere Welt. Und Cole schaut sich angewidert Videos im Netz an. Er sieht Männer, die man bei lebendigem Leibe verbrennt. Aber auch gut gemeinte Propaganda wie das Video, das eine gerechte Strafe für den ugandischen Kriegsverbrechers Joseph Kony und dessen Lord´s Resistance Army einfordert.

Der letzte Essay ist als Epilog beigegeben. Cole schildert darin seine Augenerkrankung: Eine temporäre Trübung des Blickfelds – ein Alptraum für einen Schriftsteller, aber – wie das Buch insgesamt – eine große Bereicherung für den Leser.

Artikel online seit 24.12.16

 

Teju Cole
Vertraute Dinge, fremde Dinge

Essays
Übersetzt von Uda Strätling
Hanser Berlin
432 Seiten
Fester Einband
ISBN 978-3-446-25294-3
ePUB-Format
ISBN 978-3-446-25432-9
Deutschland 24,00 €
Österreich 24,70 €
E-Book
Deutschland 17,99 €
Österreich 17,99 €

Leseprobe


Teju Cole
Jeder Tag gehört dem Dieb

Übersetzt von Christine Richter-Nilsson
176 Seiten
Hanser Berlin
Fester Einband
ISBN 978-3-446-24772-7
ePUB-Format
ISBN 978-3-446-24859-5
Deutschland 18,90 €
Österreich 19,50 €
E-Book
Deutschland 9,99 €
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