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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Leben, Scham & Flucht oder Thierrys Passion

Stéphane Brizés beobachtende filmische Meditation über den »Wert des Menschen«

Von Wolfram Schütte

 

»Wie ein Hund«, sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben. (Kafka »Der Process«)

»Überwachen und Strafen« hieß eines der bekanntesten Bücher des französischen Philosophen Michel Foucault. Der Strukturalist hatte darin eine der Dialektiken der Aufklärung untersucht: das Entstehen der »Zuchthäuser« im frühen 18.Jahrhundert. Foucault war aber auch einem Disziplinierungssystem der Macht in anderen, späteren Bereichen der Gesellschaft, vor allem in der modernen kapitalistischen Arbeitswelt auf die Spur gekommen.

Womit wir von der Assoziation an Foucault bei der konkreten Lebenssituation eines heutigen Langzeitarbeitslosen angelangt sind. Wir sehen & hören in »Der Wert des Menschen« den fiktiven nordfranzösischen Maschinisten Thierry (Vincent Lindon), wie er sich bei einem Beamten auf dem Arbeitsamt über die falsche Empfehlung von dessen Kollegin beschwert.

Mit diesem irritierenden Sprung ins Leben, gefilmt wie eine Dokumentation, beginnt Stéphane Brizés jüngster Film. Die »betriebsbedingte« Kündigung des 51 Jährigen, die ihn in eine vielfach prekäre Lage brachte, wurde noch problematischer für ihn, weil seine dreimonatige Umschulung zum »Kranführer« de facto ebenso sinn- wie nutz- & erfolglos war. Nicht nur für ihn, sondern auch für die 13 anderen mit ihm Umgeschulten.

Denn man hätte doch auf dem Arbeitsamt wissen & deshalb bedenken müssen, moniert Thierry nun empört bei einem Beamten der Behörde, dass nur der Kranführer eine Chance auf dem Markt hat, der zuvor schon einmal auf dem Bau gearbeitet hatte. Auf dem Arbeitsamt hat man durch Nachlässigkeit, Desinteresse & Unachtsamkeit alle Umgeschulten in eine berufliche Sackgasse manövriert; nur die Umschuler hatten einen materiellen & die Beamten einen statistischen Gewinn davon, Thierry aber sieht sich nun erneut auf der Jobsuche.

Es bleiben ihm jetzt nur noch 9 Monate, bevor sein Arbeitslosengeld auf 500 Euro im Monat reduziert wird. Und das für seine Familie mit dem spastisch behinderten Sohn in der Ausbildung! Schon empfiehlt man ihm auf dem Arbeitsamt, seine kleine Eigentumswohnung zu verkaufen, um zu Kapital zu kommen – das einzig Nennenswerte, was er sich im Laufe des Arbeitslebens als Familieneigentum, das in ein paar Jahren schuldenfrei sein wird, fürs Alter angespart hatte. Als er dann versucht, seinen Wohncontainer auf einem Campingplatz, wo er mit Frau & Sohn die Urlaube verbracht hatte, unter Wert zu verkaufen, will der Interessent, entgegen der ursprünglichen Vereinbarung, den Preis so stark drücken, dass Thierry die Verhandlungen abbricht.

Reichtum des Minimalismus

Es ist der sechste Film des knapp 50jährigen französischen Schauspielers, Drehbuchautors & Regisseurs Stéphane Brizé. Sein deutscher Titel »Der Wert des Menschen« akzentuiert moralisch, was der französische Titel scheinbar nur sachlich als »La loi du marché« (Das Gesetz des Marktes) annonciert. Beides trifft auf den Film zu, den nicht zu Unrecht ein deutscher Rezensent in die Nähe der belgischen Ardenne-Brüder & ihrer Filme aus der Arbeitswelt stellt. Wie diese oder die beiden iranischen Regisseure Kiarostami & Panahi (»Taxi Teheran«) ist der im bretonischen Rennes geborene Franzose ein Minimalist des Kinos. Diskretion ist bei ihm  - ästhetisch – Ehrensache, was für den Kinobesucher aber bedeutet, für Brizés Filme (zuletzt »Mme. Chambon«) höchste Aufmerksamkeit zu aktivieren für das Sicht- & das Hörbare – und die Nuancen der laufenden Veränderungen seiner elliptischen Erzählweise & Montage.

Brizé erzählt Thierrys Suche, wieder berufsmäßig Boden unter die Füße zu bekommen, durch eine Vielzahl von Stationen (gleichsam wie eine christliche Passion?). Etwa in der Sequenz eines demütigenden & doch hoffnungslosen  Bewerbungsgespräch über Skype, das Thierry mit einem nur als Stimme gegenwärtigen Gegenüber führt; oder in jener Sequenz, in der das Video einer fingierten Bewerbung Thierrys auf einem Coaching von den anderen Teilnehmern einer detaillierten Kritik nach Auftreten, Kleidung, Körperhaltung, Sprechweise unterzogen wird. Eine peinigende akustische Demontage mit dem verlegen lächelnden Opfer im Fokus der Kamera.

Wobei es nicht so sehr die jeweiligen Situationen selbst sind, die uns den Arbeitslosen als menschliche Person einer Tortur vorführen. Es ist vielmehr die starre oder nur minimal veränderte Kameraperspektive, die uns in die Rolle von Augen-& Ohrenzeugen versetzt, die gewissermaßen Thierrys »Verhöhnung«, »Auspeitschung« & »Kreuzigung« hilflos beiwohnen müssen. Im Skype-Gespräch zwingt uns die starre Perspektive, einzig von der Seite auf den Mann vor seinem Computer zu blicken, der sich bedingungslos der sanft-freundlichen Stimme der Macht demütig beugt. Beim Gespräch in der Runde der vom Coach zur Kritik animierten Kollegen bleibt einzig Thierry immer im Fokus der Kamera, die uns den unter den verbalen Peitschenhieben der Kritik sich hilflos in seiner Scham windenden gepeinigten Menschen (gewissermaßen wie einen verachtenswerten Delinquenten) vorführt.

In einem Interview hat Brizé kürzlich geäußert, dass er in seinen Filmen »die Kamera als Lupe verwende, mit der ich bestimmte Momente und Gesten in voller Größe zeige und überhöhe. Bis die Kleinigkeiten, die man im Alltag nicht einmal bemerken würde, so zur Explosion kommen«. Die »besondere Macht des Kinos«, von der er hier spricht, liegt aber nicht nur im lupenhaften Blick auf alltägliche Momente und Gesten in Brizés Filmen, sondern speziell beim »Wert des Menschen« in der langen Einstellung einer zumeist starren Kamera, die quasi in der verdeckten Position des beobachtenden Dokumentaristen verharrt. Die lange Einstellung konstituiert den realen Raum, die fixierte Kamera zwingt uns eine Perspektive der insgeheimen Zeugenschaft auf, die deshalb umso »gnadenloser« zu sein scheint, wenn der Ton (Stimme, Argument, Geräusch) in sie einbricht, ohne dass dies – wie in unserem Alltagsverhalten – zu einer Perspektivverlagerung, wo nicht gar einem Perspektivwechsel führen würde.

Zweierlei Voyeurismus

Stéphane Brizé arbeitet mit dieser Ästhetik in »Der Wert des Menschen« auf die virtuoseste Art & Weise. Wenn Hitchcock einmal behauptet hat, dass er auf den Emotionen seiner Zuschauer wie auf einer Orgel spiele, erreicht Brizé mit seinem ästhetischen Minimalismus, der gewissermaßen dem Gebrauch nur einer Flöte entspricht, eine emotionale Intimität & Intensität, mit der er die Zuschauer zu Verschworenen des Hauptdarstellers macht – obwohl & weil sie ihn doch als Kinozuschauer genauso voyeuristisch sehen wie ihn bei der erwähnten Coachingszene seine Konkurrenten Thierrys Videoauftritt.

D.h. Brizés Ästhetik des emotionslosen starren Blicks entspricht strukturell der mitleidlosen überwachenden Perspektive einer Überwachungskamera, die im zweiten Teil des Films zu Thierrys Berufsalltag gehört – seit er in einem Supermarkt die Aufgabe hat, nicht nur diebische Kunden zu erkennen, sondern auch Kassiererinnen zu überwachen, um sie bei kleinen Schummeleien zu ertappen, damit die Geschäftsleitung sie entlassen kann.

Mit dem Berufswechsel zum Wachpersonal verändert sich das arbeitslose Opfer zu einem angestellten Komplizen der Unternehmens-Macht; sogleich erhält der Wachmann mit seinem Arbeitsvertrag bei der Bank auch problemlos einen Kredit. Thierry & seine Kollegen von der Überwachungsabteilung fungieren als willige Helfer, die alle von ihnen elektronisch Erwischten ihrer Bestrafung – Entlassung oder Anzeige – zuführen.

So subtil der Film die alltäglichen elektronischen Mittel zur Überwachung & Kontrolle vorführt (wie Kamera, Computer, Skype, Handy), so demonstrativ zeigt er, wie die »Wachhunde« die Zuführung der Delinquenten zu deren beruflicher »Exekution« vornehmen. Es ist immer das gleiche Ritual – das, nebenbei, einen ehemaligen DDR-Besucher an die verschärften individuellen Grenzkontrollen an Bahnhof Friedrichstrasse im geteilten Berlin erinnert.

Die »Erwischten« werden jeweils von zwei Personen, die sie in die Mitte nehmen, in einen klaustrophobisch engen Verschlag geführt & gefragt, warum sie wohl meinen, hier zu sein. Erst leugnen sie ab, was man ihnen vorwirft; nachdem aber der Wortführer sie mit der Behauptung erpresst, man habe ihr Fehlverhalten auf Video fixiert, sind sie geständig & bitten flehentlich um Verzeihung, die ihnen nicht gewährt wird, so dass z.B. Kassiererinnen, die jahrzehntelang ihren Beruf ordentlich ausgeübt hatten, nur wegen eines geringen, bzw. einmaligen Vergehens gnadenlos auf die Straße gesetzt werden.

Während des Verhörs durch den Chef steht Thierry, der untergeordnete Wachmann, den »Verurteilten« wortlos auf engstem Raum gegenüber. Wir Zuschauer sehen sein Mienenspiel nicht, weil er nie en face sondern sein Gesicht für uns nur von der Seite zu sehen ist. Aber da wir ihn & seinen Charakter mittlerweile kennengelernt haben, ahnen wir, dass er als peinlich anwesender, hilflos beiwohnender Zeuge der Verzweifelten mit ihnen fühlt & leidet.

Lernprozesse einer Film-Figur & ihrer Sympathisanten im Kino

Emblematisch für die ästhetische Diskretion Brizés ist jene Sequenz, die auf die Szene folgt, in der der Personalchef des Supermarktes der versammelten Belegschaft mitteilt, dass eine ältere entlassene Kassiererin sich in der Nähe ihres ehemaligen Arbeitsplatzes umgebracht hatte. Scheinheilig beschwört er die trauernden Kollegen, sich nicht schuldig an dem demonstrativen Selbstmord zu fühlen, um im gleichen Augenblick zu insinuieren, dass der Sohn der Toten durch seine »Drogenprobleme« wohl der Grund ihres Verzweiflungsaktes gewesen sei. Während der ganzen Sequenz verharrt die Kamera allein auf der lügnerisch-infamen »performance« des Personalchefs & wir als Zuschauer werden durch diese Perpektive unter die wortlos zuhörende Belegschaft gestellt.

Die nächste Sequenz beginnt mit Orgel-Musik & nimmt Thierry im Mantel in den Blick, der sich auf eine Kirchenbank inmitten anderer bereits Sitzender niederlässt. Thierry richtet etwas unruhig flackernd seine Augen nach vorne. Dann dreht er den Kopf in die entgegengesetzte Richtung & erhebt sich wie auch die anderen. Unscharf schiebt sich der Sarg an der Trauergemeinde vorbei, bevor er am Altar zum Halt kommt & mit einem Blumengebilde bedeckt & mit einem Porträtfoto der Selbstmörderin drapiert wird.

Der Lernprozeß, den der sensible Thierry im Laufe seiner & auch unserer »hautnahen« Erfahrungen mit dem »Gesetz des Marktes« machte, scheint zum Verzweifeln »alternativlos«. Nur im Tanz (wie in Brizés Film »Man muss mich nicht lieben« von 2005) finden Thierry, seine Frau & ihr behinderter Sohn leuchtende Augenblicke des gemeinsamen Glücks & der Lebensfreude. Es scheinen die einzigen kurzen Lichtblicke im Dunkel einem Zwangssystem, das den »Wert des Menschen« nach seiner möglichst weitgehenden menschlichen Entwürdigung bestimmt.    

Als er zum dritten Mal als »zuliefernder« Handlanger für die Entlassung einer Kassiererin fungiert & ihn die Delinquentin, wie schon alle anderen zuvor, um Hilfe bittet, erträgt er seine Ohnmacht in der eigenen Entwürdigung nicht länger - & verlässt fluchtartig das Gelände des Supermarkts, setzt sich in sein Auto & fährt unter aufbrausender Musik davon, während ihm die Handkamera folgt & deren fixierte Erstarrung endlich aufgesprengt erscheint.

Der Hauptdarsteller Vincent Lindon hat in diesem Jahr in Cannes den Darstellerpreis erhalten. Seine Leistung in »La loi du marché«, gewissermaßen lakonisch bis zum totalen Understatement & aus dem Augenwinkel heraus die Passion des Thierry zu gestalten, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Lindons körperlicher Präsenz ist es wohl auch zu verdanken, dass man keinen Augenblick (be)merkt, dass dieser einzigartige französische Schauspieler ausnahmslos von Laien umgeben war, die alle die Gegenwart, das mögliche Futur & den Konjunktiv ihrer Berufe sich & uns in Stéphanes Brizés filmischer Meditation über den »Wert des Menschen« unter dem Gesetz des kapitalistischen Marktes mit Verve erspielt haben.  

Artikel online seit 21.03.16

 

 


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