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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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»Der liebe Gott wohnt im Detail«

Der Briefwechsel
Theodor W. Adorno und Gershom Scholem 1939-1969

Von Jürgen Nielsen-Sikora

Im Mai 1938 berichtet Theodor Wiesengrund Adorno in einem Brief an den gemeinsamen Freund Walter Benjamin von seinem Treffen mit Gershom Scholem in New York einige Tage zuvor. Dort war er auf Initiative Benjamins im Haus des Religionsphilosophen Paul Tillich mit Scholem sowie mit dem Neuropsychologen Kurt Goldstein und Siegfried Kracauer zusammen gekommen. Gerade erst von London aus in das nach New York umgesiedelte Institut für Sozialforschung hinzugestoßen, ist Adorno ebenso angenehm überrascht von der Bekanntschaft mit Scholem wie umgekehrt. Der Berliner Jude Scholem gilt in diesen Tagen bereits als Koryphäe auf dem Gebiet der jüdischen Mystik. Seit 1933 ist er Professor an der Hebräischen Universität Jerusalem. Seine Freundschaft mit dem Philosophen und Literaturkritiker Walter Benjamin, zu dessen engsten Vertrauten er gehört, geht auf das Jahr 1915 zurück. Adorno lernte Benjamin durch Vermittlung seiner späteren Frau Gretel Karplus in den 1920er Jahren kennen.

Die Geburt der Freundschaft aus dem Geiste Walter Benjamins

Der nun erstmals vollständig vorliegende Briefwechsel der beiden Geistesgrößen ist ohne Erwähnung des unsichtbaren Dritten, Walter Benjamin, gar nicht angemessen zu würdigen. Die meisten der über 200 Briefe zwischen 1939 und 1969 kreisen um die Person und Philosophie des gemeinsamen Freundes. Sein Tod im September 1940 macht ihn zum alles überragenden Thema der über drei Jahrzehnte währenden Korrespondenz.

Bereits im April 1940 zeigt sich Scholem beunruhigt über den Verbleib Benjamins, der lange nichts habe von sich hören lassen. Diesem war 1939 durch die Gestapo die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt worden. Zudem quälten ihn gesundheitliche Probleme und der Ärger mit der Bürokratie bei dem Versuch, sich in Frankreich einbürgern zu lassen.

Benjamin ist in jenen Tagen Mitglied des von Georges Bataille gegründeten Collège de Sociologie und freier Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung. Bei Kriegsausbruch wird er für knapp drei Monate mit anderen deutschen Flüchtlingen in einem Sammellager bei Nevers interniert und kehrt im November 1939 schließlich ins Exil nach Paris zurück. Sein Versuch, die französisch-spanische Grenze zu überschreiten, um von dort ins Exil gehen zu können, scheitert tragisch. Am 26. September 1940 nimmt er sich in Portbou das Leben.

Am 8. Oktober 1940 übersendet Adorno Scholem die Nachricht vom Tod des Freundes. Für Scholem, der gleichzeitig auch von Hannah Arendt die schreckliche Nachricht empfängt, ist das ein Schock. Schon im Juli desselben Jahres hat er seinen Bruder Werner im Konzentrationslager Buchenwald verloren, nun lebt auch sein teurer Freund Walter nicht mehr. Doch der Tod Benjamins wird zur Geburt der intellektuellen und freundschaftlichen Beziehung zwischen ihm und Adorno. Ab 1939 korrespondieren die beiden »hochempfindlichen, intellektuellen Großmächte« (Habermas) regelmäßig miteinander. Nach dem Krieg kommt es zwar vorübergehend zum Abbruch der Korrespondenz, doch die erneute Kontaktaufnahme 1949 durch das Schuldeingeständnis Adornos führt dazu, dass ab 1951 ein regelmäßiger Briefverkehr statthat, der bis zu Adornos Tod anhält.

Immer wieder kreisen die Gedanken um das geistige Erbe Benjamins. Adorno und Scholem ist es zu verdanken, dass Benjamin zeitweise zu einem der populärsten Philosophen der deutschen Nachkriegsgeschichte avanciert. Der Briefwechsel liefert zu dieser Entstehungsgeschichte unsagbar reiches Informationsmaterial.

Ein Briefwechsel über den Briefwechsel

Ab 1952 reift in Adorno die feste Absicht einer Herausgabe der Schriften Benjamins, die alle literarischen Formen umgreifen: wissenschaftliche Abhandlung, Essay, Miszelle, Kleine Prosa und Aphorismus. Adorno will die für das Denken Benjamins charakteristischen Texte einem interessierten Publikum zugänglich machen und baut hierbei auf die Unterstützung Scholems. Die 1955 erschienenen Bände versammeln Zeitungs- und Zeitschriftenaufsätze, aber auch Kritiken und Rezensionen. Zu den bekanntesten Texten gehören: Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, Über das Programm der kommenden Philosophie, Zur Kritik der Gewalt, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Über den Begriff der Geschichte, Theologisch-politisches Fragment und Goethes Wahlverwandschaften. (Die Passagenarbeit, Benjamins wichtigstes, nie vollendetes Werk, kann jedoch erst 1982 erscheinen. Da sind sowohl Adorno als auch Scholem bereits verstorben.)

Nachdem Adorno vom Beck-Verlag die Zusicherung und einen unterschriftsreifen Vertrag erhalten hat, verhandelt er abermals mit Suhrkamp, der sich prompt entschließt, die Schriften Benjamins zu publizieren.

Als nach der Veröffentlichung auch ein umfangreicher Briefwechsel Benjamins mit dem Theologen und Schriftsteller Florens Christian Rang auftaucht, schlägt Scholem Adorno vor, auch eine Auswahl von Briefen Benjamins herauszugeben. Im Herbst 1959 erklärt sich Unseld, der den Suhrkamp-Verlag kurz zuvor übernommen hat und ihn bis zu seinem Tod 2002 leiten wird, bereit, eine Sammlung mit Briefen Benjamins zu publizieren. Adorno fragt Scholem daraufhin an, ob sie gemeinsam als Herausgeber auftreten sollen. Es beginnt eine jahrelange und von großem Erfolg gekrönte Suche nach geeigneten Briefen von und an Benjamin. 1966 erfolgt die Veröffentlichung der Briefe in zwei Bänden. Teils von Ressentiments und Neid geprägte Kritik lässt nicht lange auf sich warten, insbesondere von linksalternativen Zeitschriften und dem Schriftsteller Helmut Heißenbüttel, aber auch von dem Religionssoziologen Jakob Taubes, der kritikwürdige Marginalien zu einem Politikum macht.

Adorno zeigt sich von den Angriffen gegen ihn getroffen, weiß in Scholem aber einen mehr als solidarischen Kollegen. Noch bestürzter als über die Reaktionen der Fachwelt und der Öffentlichkeit ist er über das akademische Schicksal Benjamins, auf das er beim Lesen der Briefe erneut stößt. So schreibt er im Jahre 1965 an Scholem: »Aufs tiefste betroffen hat mich, ... daß der mißglückte Habilitationsversuch von Benjamin ... genau in die Periode meiner Abwesenheit von Frankfurt fiel ... Wäre ich hier gewesen, und hätte Benjamin, den ich damals schon recht gut kannte, die Sache mit mir besprochen, so wäre, wie ich fast mit Bestimmtheit sagen kann, alles anders gegangen, und die Folgen wären unabsehbar gewesen.«

Weitere Stichworte

Walter Benjamin ist ohne Zweifel das zentrale Thema des Briefwechsels. Um ihn herum gruppieren sich aber zahlreiche weitere Themen, die ein Schlaglicht auf die Nachkriegsgesellschaft insbesondere in Deutschland werfen. Man tauscht sich aus über Musik, Literatur, Politik, Philosophie, aber auch über Krankheiten und über den hochbegabten Literaturwissenschaftlicher Peter Szondi, der sich 1971 im Alter von nur 42 Jahren das Leben nehmen sollte. Schon 1968 berichtet Scholem Adorno über Szondis »Vereinsamung«, seine »Neigung zur Depression«, sein tiefverwurzeltes »Schuldgefühl« als Überlebender des Holocaust und seine »Zwangsneurose«.

Darüber hinaus erfährt der Leser, dass es Ende der 1960er Jahre eine bis dato der Öffentlichkeit unbekannte, antisemitisch motivierte Morddrohung gegen Adorno gab, die in einer Anklage und Verurteilung des Täters endete.

Interessant sind auch die vielen Seitenhiebe auf Kollegen, die in erster Linie von Adorno ausgehen. So heißt er Martin Buber einen »existenziellen Bonzen«, Hannah Arendt sei »maßlos ehrgeizig«, ihr »intellektuelles Neophytentum« unerträglich, sie sei ein »abscheuliches Weib«. Über Heidegger schreibt er: »Bei diesem Mann ist alles, aber auch wirklich alles aus dem Machtwillen und einer hoch entwickelten intellektuellen Beherrschungstechnik zu erklären.« Und über Bloch beklagt er sich: »Was er mir angetan hat, an wirklicher Gemeinheit, übersteigt alles, was sich denken läßt.«

In Passagen wie diesen zeigt sich deutlich Adornos sensibler Charakter. Jürgen Habermas portraitiert in seiner Besprechung des Briefwechsels in der ZEIT vom 9. April 2015 Adorno mit den Worten: »Entspannt war er nur im engsten Kreise und wirklich frei nur an seinem Schreibtisch. Diese verletzbare Person behielt Zugang zur eigenen Kindheit und war gleichzeitig mehr als bloß erwachsen. Sie lebte überwach und ängstlich, gleichsam mit schützend vorgestreckter Hand, sowohl diesseits wie jenseits einer Normalität, an der wir anderen unseren Halt haben.«

Der teilweise schelmenhafte Witz Scholems bleibt Adorno zeitlebens fremd. Eine Formulierung wie Scholems Gruß: »»Ihr alter G...olem, sozusagen« ist für ihn undenkbar. Einmal allerdings unterzeichnet er lediglich mit »Teddie«, doch Scholem reagiert wie gewohnt mit der halb-förmlichen Anrede »Lieber Adorno«, woraufhin dieser auch wieder seinen Nachnamen mit anführt.

Als Pläne für einen Besuch mit Vortrag Adornos in Jerusalem für 1970 geschmiedet werden, fügt Scholem die Einschätzung hinzu: »Ihr Auftreten wäre ein bemerkenswertes Ereignis, und ich hoffe, daß wir hier endlich Vorschläge haben, die es ermöglichen.« Doch Adornos Tod am 6. August 1969 durchkreuzt diesen Plan.

Fazit

»Gott wohnt im Detail«, der Titel, den der Herausgeber Asaf Angermann dem Briefband gegeben hat, ist ein Leitmotto von Aby Warburg. Scholem zitierte es gern und wendete es auch auf Benjamin an: »Daß im Kleinsten sich das Größte aufschließt, daß »der liebe Gott im Detail wohnt«, wie Aby Warburg zu sagen pflegte, das waren in den verschiedensten Bezügen für ihn [scil. Benjamin] grundlegende Einsichten.« Diese grundlegende Einsicht zieht sich wie ein roter Faden nicht zuletzt durch den gesamten, überaus lesenswerten und aufschlussreichen Briefwechsel der beiden Meisterdenker.

Erstaunlich aus heutiger Sicht bleibt, wie mühselig zum Teil die Kommunikationswege sind, die beide immer wieder auf sich nehmen müssen in einer Zeit, in der die Entfernung zwischen New York/Frankfurt und Jerusalem tatsächlich noch nicht binnen Sekunden zu überbrücken war. Erstaunlich auch, wie umständlich manch organisatorische Abläufe im professoralen Alltag, wie vorsichtig Anfragen und Vorschläge formuliert waren, und wie selbstverständlich Verlage einen Großteil der Arbeit an Editionen selbst übernahmen. Erstaunlich schließlich, dass man vor gar nicht allzu langer Zeit noch solch lange und wunderbare Briefe an den Anderen schrieb. Briefe, die so viel über die Zeit, in der ihre Verfasser lebten, aussagen.

Asaf Angermann hat diese Briefe minutiös und mit großer Sorgfalt ediert. Angaben zur Überlieferung und Erläuterungen der wichtigsten Begriffe und Namen, die in den Briefen auftauchen, werden mitgegeben. In seiner editorischen Notiz bemerkt der Herausgeber treffend: »Der Briefwechsel stellt ... eine Aufarbeitung der Vergangenheit aus Sicht der Exilanten dar. Er zeugt von der Notwendigkeit ... und zugleich von der Unmöglichkeit jüdischen Lebens in Deutschland nach dem Geschehenen ... Scholem wie Adorno widersetzen sich nicht nur den subtilen antisemitischen Tendenzen, sondern genauso ihrem komplementären philosemitischen Gegenpart, den sie zugleich vorausahnend diagnostizieren.«

Was »Aufarbeitung der Vergangenheit« meint, hat Adorno 1959 selbst skizziert: »Man will von der Vergangenheit loskommen: mit Recht, weil unter ihrem Schatten gar nicht sich leben läßt, und weil des Schreckens kein Ende ist, wenn immer nur wieder Schuld und Gewalt mit Schuld und Gewalt bezahlt werden soll; mit Unrecht, weil die Vergangenheit, der man entrinnen möchte, noch höchst lebendig ist. Der Nationalsozialismus lebt nach, und bis heute wissen wir nicht, ob bloß als Gespenst dessen, was so monströs war, daß es am eigenen Tode noch nicht starb, oder ob es gar nicht erst zum Tode kam; ob die Bereitschaft zum Unsäglichen fortwest in den Menschen wie in den Verhältnissen, die sie umklammern.«

Artikel online seit 07.05.15
 

»Der liebe Gott wohnt im Detail«
Briefwechsel 1939-1969
Briefe und Briefwechsel.
Band 8: Theodor W. Adorno/Gershom Scholem, Briefwechsel 1939-1969
Herausgegeben von Asaf Angermann
Suhrkamp
Leinen, 548 Seiten
978-3-518-58617-4
39,95 €

Leseprobe

 


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