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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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Zur Logik der revolutionären Anmaßung

Volker Reinhardts Biographie »De Sade oder Die Vermessung des Bösen«

Von Peter V. Brinkemper



 

Der kommende 200. Todestag des Marquis de Sade im Dezember 2014 wäre Anlass für eine reflektierte Diskussion jenseits des derzeitigen Ausverkaufsmixes: von verspießerter Schwarzer Romantik, trivialliterarischem Rummel und medialem postpornographischem Spektakel zwischen Film und Fanfiction (»Fifty Shades of Grey«). Heute wird de Sades revolutionäre, dunkle und schroffe Größe auf flauschig konsumierbare BDSM-Ich-Erlebnis-Häppchen reduziert. Die stündlich auf Failed States, Terror, Krieg und Folter reagierende Überwachungsgesellschaft sucht im Bereich der medial implodierenden und therapeutisch wieder hochgepäppelten Intimität für gefährdete Wohlstands-Individuen fieberhaft nach Fluchtwegen in eine heile Gegenwelt, in der antiquierte Rollenverteilungen wie die zwischen weiblicher Angestellter und zuwendungssüchtigem Millionär letzte libertinistische Abenteuer zur rückversicherten Schaukelpartie einer Pseudo-Partnerschaft mit ersatzbeziehungsförmiger Befriedigungs-Garantie schrumpfen lassen.

Im Anfang war Lacoste

Der Historiker Volker Reinhardt unterzieht in seiner Biographie »De Sade oder Die Vermessung des Bösen« die bisherige Rezeption, vor allem die lauernde Subjektivierung des De-Sade-Bildes zwischen Skandalisierung oder pornographischer Ausbeutung einem dokumentarischen Prozess der strukturellen Ausnüchterung und Versachlichung, mitten im heute zwischen Prüderie und Selbstsucht schwankenden Medienzeitalter. De Sade wird als sozialer, moralkritischer und eigentümlich antiklerikaler Rebell dargestellt, der doch in seinen Leidenschaften und Sehnsüchten sich immer wieder von Gott und dem Ancien Régime affiziert zeigt, als persönlich Enttäuschter in einer Epoche des Umbruchs und des Werteverlustes, in dem die sozial poröse und nur noch oberflächlich religiös orientierte Ständeordnung von immer stärkeren Modernisierungswidersprüchen und Freiheitsschüben heimgesucht wurde, aus denen sich die für den jungen de Sade bereits typischen Spielräume für Ausschweifungen, Amouren und Gewaltausbrüche, in zeitbedingten rituellen Ausdrucksformen, zunächst wie von selbst ergaben. Es sieht ganz danach aus, als habe de Sade einer ganzen Epoche den Hintern versohlt und sie habe es sich gefallen lassen, es ihm aber auch kräftig heimgezahlt.

Volker Reinhardt konzentriert sich, seinem Fach gemäß, auf eine objektive Darstellung von Donatien Alphonse François de Sades Leben und Werk im Kontext von Zeitgeschichte, seriöser Textphilologie und Biographie zwischen Ancien Régime, provençalischem Adelsstand mit Sitz in Lacoste (er war verwandt mit Petrarcas entrückter Laura de Sade), dem klerikalen Einzugsgebiet des Papst- und Gegenpapstsitzes Avignon, der jesuitischen Erziehung, den absolutistischen Auflösungserscheinungen am französischen Königshof nach dem Tod von Ludwig XIV., 1715, noch zwei Könige bis zur Französischen Revolution, im Labyrinth zwischen Baukunstboom und blühendem Profi- und Laien-Theater, Philosophie und Amateur-Literatur, strategischer Heiratspolitik, libertiner Erotik, repräsentativer Verschwendung, riskanten Affären und Intrigen auf dem Weg zur erträumten höheren Macht. Dazu kommt de Sades ambivalente Haltung zwischen seiner adelsbasierten Rolle als Libertin und Schriftsteller und seiner späteren revolutionstreuen und gesellschaftsdienlichen Inszenierung als Bürger und Citoyen, zunächst als Anhänger einer konstitutionell gewordenen Monarchie und dann als volksnaher Sekretär der Piken-Sektion unter dem jakobinischen Tugendterror, der de Sades wildes adliges Vorleben denunziatorisch ausgrub. Nur der Sturz Robespierres konnte de Sade vor dem Schafott 1794 retten.

De Sade: Realität, Phantasma oder Fiktion?

Der Autor hält sich gegenüber der gängigen Ansicht zurück, de Sade sei in allen angezeigten Fällen persönlich der vollzogenen Wollust, Folter und Blasphemie überführt worden. Allerdings gebe es prägende Beispiele dafür, wie der zunächst empfindsam wirkende Heiratskandidat zu intimen Überschreitungen und dreisten Inbesitznahmen auch spontan angeworbener Lustdirnen neigte. Für extremere Szenarien seien durchweg käufliche Damen und Herren, vor allem aber das symbolisch andeutende, gelegentlich übergriffige Schauspiel und Rollenspiel und sodann im vollem Umfang die abstrakte Explizitheit der Literatur zuständig gewesen. De Sades zentraler Charakterzug, seine das übliche Maß transzendierende Entflammbarkeit, Leidenschaft, Feindseligkeit und Grausamkeit wird so als Grenzphänomen zwischen Realität und Fiktion, Leben und Literatur eingekreist, und als einschüchternde, angstschürende und zugleich subversive Kraft, als neusachliche Waffe, als antimoralischer Terreur, auch im Kampf gegen die Rousseausche Empfindsamkeit und gegen die etablierte Hierarchie und ideologische Verlogenheit der Gesellschaft und der von ihr vorgeheuchelten, aber immer weniger gelebten traditionellen (christlichen) Werte. Dabei klingen die frühen und später ausgereiften Szenarien der Ausschweifung, Grausamkeit und Bestrafung bei de Sade bei aller antikisierenden Tendenz immer noch pseudo- oder postklerikal. De Sade oder seine Mitspieler und Figuren foltern und entweihen nicht nur bestimmte Individuen, sondern Repräsentationen, Riten und Symbole der Gesellschaft, im lustvollen Rollentausch zwischen Unterwerfung und Erniedrigung nach ihren je eigenen Vorstellungen von Schuld und Sühne, Sünde und Buße, Heiligung und Sakrileg, um die Intensität einer befreiten, willkürlich Werte setzenden oder verwerfenden Existenz zu spüren. Der Nominalismus und Subjektivismus ihres Vorgehens, und ihre hanebüchenen Begründungen bieten das Exemplum einer völlig amoralisch verfahrenden und eruptiv ausbrechenden Natur.

Ein Melodram als Schlüsselwerk

Eines der ersten Melodramen de Sades, »Die Hochzeit des Jahrhunderts«, wirkt wie ein Stummfilm von D. W. Griffith und verbindet die Auswüchse der Unmoral mit einem Restposten verzweifelter moralischer Einsicht: Der »gütige alte Baron Saint-Pré« will seine Tochter Pauline, eine personifizierte »Unschuld« verheiraten, ausgerechnet an den Grafen de Castelli (gespielt von de Sade selbst), dessen halbschurkisches Wesen, zum Teil angestiftet von der eifersüchtigen Maitresse Destournelles, noch nicht ans Licht gekommen ist. Im Konflikt zwischen Moral und boshafter Intrige bleibt die kräftig verleumdete, gequälte und geschundene Pauline standhaft und scheint über die garstige Maitresse zu siegen, aber in der vorgeblichen Versöhnung am Ende vergiftet diese die triumphierende Unschuld, die bis zuletzt »voller Nachsicht und Liebe« ihrem Gatten die Treue hält und ihm noch im Tod vergibt. Noch voller Rührung »erdolcht« dieser die Intrigantin und stirbt im moralischen »Entsetzen« über alle Untaten, vor allem seine eigenen. Ein solches humanitäres Bereuen, ein solches »regrette« wird es später bei de Sade Super- und Untermonstern nicht mehr geben. Die burleske Theaterproduktion von de Sade schwankt zwischen ausgelassenem Dilettantismus und eindringlich Grenzen ausforschender Professionalität, zwischen informell-privater und halböffentlicher Aufführung, halbverdeckter Preisgabe biographischer Konstellationen, notdürftig plakativer Sublimierung und dunkler Wunscherfüllung in Richtung Hölle, deren Reich mit dem Zensurbalken letzter Moral-Vorbehalte hilflos überklebt ist. In einem folgenden Stück, das mehr ein intimes Rollen- denn ein Privatschauspiel darstellt, konzentriert sich de Sade 1772 ungleich naturalistischer auf die physische Gewalt von Folter und erzwungenen und abweichenden Formen der Sexualität und auf die Erforschung der Grenzüberschreitung von Lust und Unlust der Rollen von Opfer und Täter. Die involvierten Akteure, er selbst als Herr, sein Diener und leichte Mädchen brechen später ihr Schweigen. Es kommt zu Klagen und Anklagen. Drogen in Form von aphrodisischen »Bonbons« seien im Spiel gewesen. Das Theater geht unter der Leitung und Beteiligung de Sades in die experimentelle Orgie über, Nitsch und Muehl, aber auch Kinsey lassen grüßen. Damit beginnt die Serie der offiziellen Skandale und die Konfrontation mit der Justiz. Verdächtigungen, Anzeigen, Prozess und drohende Strafen (Enthauptung) führen zu Flucht und Verbannung, zur Verschleierung der Identität und immer prekärer werdenden Verhältnissen, zu Reisen (nach Italien, Rom und besonders nach Neapel) auf der Suche nach den alltäglichen und künstlerischen Schauspielen und Gemälden und Skulpturen der gottlosen Immanenz eines sinnlosen Martyriums, der Gewalt um der Gewalt willen und des Bösen um des Bösen willen. »Es ist hassenswert, Frauen wie die ‚gefallenen’ Vestalinnen zu bestrafen, die nichts anderes getan haben, als neues Leben zu erzeugen. Unsere Klöster sind gewissermaßen das Abbild dieser alten Barbarei. Aber der Mensch wird immer blind und abergläubisch sein. Und so wird er immer glauben, dass die Gottheit nach Opfern verlangt.« So de Sade um 1775. Hier ist es also die Religion, die für de Sade als sinnloser Aberglaube die alte Institution des Opfers immer wieder einfordert und in der Kunst zur permanent wiederholten und aktualisierten Darstellung bringt. Die Kirche beteilige sich an der Unterdrückung von Leben, Lust und an der Propagierung von Gewalt. De Sade spricht nicht in der Rolle eines vernunftgeleiteten Aufklärers, sondern als desillusionierter Nihilist, der die Barbarei durch Religion und Zivilisation keineswegs beendet sieht.

Böse Mutter Natur

Während seiner Haft im Staatsgefängnis von Vincennes wendet sich de Sade endgültig einem Anti-Rousseauschen Begriff einer rücksichtslos drakonischen Natur zu, die sowohl Laster wie Tugenden am Menschen blind vollstrecke (1782): »Es gibt keine Tugend, die für die Natur nicht notwendig wäre, und es gibt kein Verbrechen, das sie nicht braucht. So hält sie beides in einem vollendeten Gleichgewicht, darin besteht ihre ganze Kunst.« Im »Angesicht des Schafotts« kann ein Verbrechen nur so geschehen: unter dem völligen Zwang zum Laster, »einer unwiderstehlichen Kraft«, die uns mitreißt, und daher verhindert, »uns in einen andere Richtung zu bewegen, als unsere inneren Neigungen wollen.« Das spricht gegen jede Einsicht und Abschreckung. De Sade wird gegen die offizielle katholische und philosophische Meinung zum Determinist einer unbewussten und unzähmbaren Natur der Leidenschaften, die den Menschen antreibt, entgegen aller Vorstellungen einer sozialen Moral, einer zivilisierenden Vernunft und der Annahme eines freien, einsichtsfähigen Willens. Pathetischer Determinismus, Irrationalismus, Naturalismus und Materialismus stehen in der Tradition von Holbach, Helvétius und La Mettrie. Die innerste Kraft von de Sades Position entwickelt sich aus einem Anti-Rousseau. Er behält den Begriff der zivilisationsfernen Natur zwar bei, aber verwandelt deren idyllische Unschuld in eine monströse und »bizarre Mutter« und begreift den Menschen als willenloses und vernunftschwaches Doppelwesen, im Grenzfall als unberechenbare und triebhafte »Maschine« zwischen Gut und Böse. Der Mensch ist aufgrund seiner natürlichen psychologischen Konstitution vorprogrammiert, er ist egoistisch, genusssüchtig, lustvoll, gewaltbegierig, sein Hass auf den Mitmenschen ist keine defensive Abwehr oder reine Verteidigung, kein Neid und keine Angst (siehe Hobbes), sondern eine jederzeit dominante Lust, über andere zu herrschen, sie zu unterwerfen und sie einfallsreich zu quälen und zu töten und zu beseitigen. Moral, Empfindsamkeit, Vernunft und Religion sind für tugendhafte Menschen nur Irrtümer über ihre wahre Natur, wie sie in den bösen Exemplaren der Schurken, Verbrecher und der sich selbst in »Leidenschaft und Gesinnung bejahenden« Libertins ausgebildet ist. Die Religion ist das Mittel der Herrschaft für die Priester, hinter deren Glauben nur der Wille zur Macht über andere als Gläubige steht.

Urschurken zwischen Übermacht und Feigheit

Im Jahre 1784 wird de Sade von Vincennes in die Pariser Bastille verlegt, in der zunächst nur 13 Häftlinge, darunter auch Adlige einsitzen. Auch im Pariser Gefängnis gilt de Sade als »extrem schwieriger und gewalttätiger Häftling«. Ebenda beginnt er mit der Arbeit an seinen bekannten Werken, wie die »Die 120 Tage von Sodom«. Im Revolutions-Sturm auf die Bastille 1789 lässt de Sade das Manuskript im Gefängnis zurück, »von dort wanderte es durch verschiedene Privatsammlungen und wurde 1904 erstmals veröffentlicht«. (De Sade wird übrigens nicht befreit, sondern von einer bewaffneten Eskorte in die Anstalt von Charenton gebracht, unter Verlust von »fünfzehn handschriftlichen Bänden meiner Werke«. Erst aufgrund eines allgemeinen Revolutionsdekretes entlässt man ihn 1790, nach mehr als elf Jahren, in die Freiheit. Weitere Internierungen sollten folgen.) Für Reinhardt sind die lange Kerkerhaft und das Ausgesetztsein des Gefangenen gegenüber der Willkür des Personals ein Movens dafür, dass de Sade auch in all seinen Werken beide Seiten einnehmen kann und einnimmt, die Seite der Starken und die Seite der Schwachen, der Mächtigen und Ohnmächtigen, der Täter und der Opfer.

Mit dem vitalen Herzog von Blangis entwirft de Sade in »Die 120 Tage« einen völlig der Natur unterworfenen Tyrann und Urschurken, der mit seinem verdunkelten Geist und mit seinen heimtückischen Taten einzig und allein im Dienste der rauschhaften und lustmörderischen Leidenschaften steht und in Konkurrenz mit seinen Mitstreitern alle Begriffe und Verhaltensweisen von Respekt, Maß, Moral, Tugend, Friedfertigkeit und Wahrhaftigkeit beiseitefegt. De Sade charakterisiert den Herzog und seine drei Mitspieler, Bischof Anonymus, Richter Curval und Financier Durcet, allerdings auch als etablierte und verwöhnte Feiglinge, die der Gedanke an offenen Widerstand, Konfrontation und Kampf anstelle eigener feiger Anschläge und übermächtiger Unterwerfungs-Situationen »in Angst und Schrecken« versetzt. Überzeugend stellt Reinhardt heraus: De Sade schildert die Herrschaften einer drakonisch abgestuften Klassengesellschaft in einem Lustschloss, die sich in ihrer nihilistischen Quälsucht miteinander solidarisch wähnen. In ihren endlos aufgelisteten Exerzitien, Diskursen, Übungen und tödlichen Exzessen erscheinen sie jedoch als beinahe inspirationslose Despoten, mit allen ihren peinlichen Stärken und Schwächen, angesichts ihrer meist wehrlosen, entweder lammfrommen oder naiven, gewöhnlichen oder tugendhaften Opfer. In diesem empörungsfreien Universum der rituell durchkomponierten massenweisen Schändung Ohnmächtiger und der Dauerbestätigung ihrer eigenen von Grund auf bösen Natur fehlt es an der dramatischen Spannung der frühen Theaterstücke. Die Schurken werden zu Opfern ihrer unendlichen Langeweile ungehinderter Rechthaberei und Verfügung. Und sie halten nur noch mit den entleerten Distinktionsmerkmalen den Ruhm des Außerordentlichen jenseits der sich abspulenden materialistischen Farce aufrecht. Es sieht alles danach aus, dass die Dauerorgiasten in ihren stumpfsinnigen Gewaltkonsum nur dann durchhalten, wenn sie ihre schrankenlose Macht immer wieder dankbar als Afterreligion zelebrieren.

Juliette und Justine: Sieg und Fall der Liebe

Ähnlich und doch anders wird sich später auch die ruchlose und hochmütige «Juliette« als erhabene Vertreterin einer gottähnlichen Klasse verstehen. Dabei werden sich die Leistungswut und das Selbstbewusstsein der ungleich progressiveren jakobinischen Revolutionärin von der Durchschnittlichkeit der adelserblichen und bürokratischen Macht älterer Wüstlinge wie vom Glanz der biederen Tugend abheben. De Sade stellt Juliette mit der tugendhaften, dabei allzu rücksichtsvollen und auch noch von der Missionierung der Bösen besessenen »Justine« (in dreifacher literarischer Version) ein Gegenbild und ideales Opfer entgegen, die wie Alice im Wunderland unter die Wüstlinge und Libertins aller Länder fällt und ihnen das wilde Leben als Assistentin und Komplizin wider Willen versüßt. Barbarella lässt grüßen: Sieg der Liebe. Weniger überzeugend ist zunächst die These des Autors, dass Justine als Gutmensch so »feige« wie die alles unter ihre risikolose Kontrolle bringenden Chef-Wüstlinge seien (vgl. Seite 277). Der Abwesenheit der Widerstandsfähigkeit ist bei Justine zwar ein Mangel an Wehrhaftigkeit, weil sie die strategische Einschätzung und Bekämpfung des Gegners nicht kennt, aber sie besitzt und benötigt deshalb doch auch den Mut und die Durchhaltekraft in schier ausweglosen Lagen und im Stadium der eigenen moralischen Verblendung. Feige können nur die fast allwissenden Wüstlinge sein, die sich volle Klarheit über den möglichen Verlauf der Abenteuer und die Prämien und Privilegien des souveränen und unangefochtenen Genusses verschaffen. Insofern müsste man die bei Pasolinis »Salò«-Film gut beobachtete Rückzugs- und Privat-KZ-Mentalität der Protagonisten zwischen simulativer Terrorisierung und aktuell hervorbrechender mörderischer Gewalt genauer mit de Sades Ideal der redseligen und für den Leser angreifbaren Transparenz des ritualisierten Bösen vergleichen. Gegen Artaud muss festgehalten werden, dass sich Grausamkeit letztlich an kein Theater hält. Interessanter ist Reinhardts Hinweis, dass de Sade seine Schurken auch, und zwar in kritischer Absicht, reaktionäre Argumente über die Misshandlung der einfachen Bevölkerung vortragen lässt, z.B. Bemerkungen über künstlich erzeugte Hungersnöte, die bereits Determinanten der Französischen Revolution vorwegnehmen, während das Schauspiel, die Welt als glanzvolle Kulisse einer Minderheit privilegierter Adliger zu missbrauchen, zuendegeht. Die Schurken, so Reinhardt, erwiesen sich als die von den sogenannten gewöhnlichen Guten verfolgten Ausnahme-Individuen, die sich mit dem Gerede von der Tugend tarnten und in »Privat-Verliese, Folterkeller und Experimentier-Labore« abtauchten. De Sades eigenes, eher offen riskantes Leben sei damit ebenso wenig vereinbar wie der spätere allgemeine Terror der Tugend in der radikalisierten Phase der Französischen Revolution oder die restaurative Zensur der Napoleonischen Ära, die de Sades Werk auf den Index setzte und ihn erneut internierte. Reinhardt erwägt auch, «Justine« in der dritten Fassung von 1801 könnte die Position eines primär denkerischen Libertins nahelegen, der in der Praxis nie zum Äußersten eines mörderischen Wüstlings schreite, sondern das extrem Böse als Grenzwert zur illusionslosen Beurteilung einer ungeschminkten Praxis denke.

Blick auf die textuelle Hölle

De Sade ist für Volker Reinhardt gerade in seinen Unversöhnlichkeiten, Härten und Grenzüberschreitungen ein »Menschenforscher und Moralist«. Deutlicher als viele bisherige Interpreten und Vermittler, so Baudelaire, Lautréamont, Freud, Breton, Max Ernst, Buñuel und Bataille (dessen Totalitarismus-Theorie geschrumpft wird), unterscheidet er die Perspektiven und Ansichten der fiktiven Figuren in seinen provokanten Hauptwerken von der Philosophie des gar nicht so dunklen Autors, die er im Umfeld von Biographie, Zeitgeschichte und Politik erhellt und abkühlt. Angeregt durch Roland Barthes' Blick auf die literarischen Aussagen und ihre typischen metaphysischen Übertreibungen, legt Reinhardt sein Augenmerk auf die Rolle der Subjekt-Objekt-Inszenierungen innerhalb der höllischen Text-Szenarien. Die fiktionalisierenden Gesten der Unterwerfung und der uneingeschränkten Verfügung bis hin zum gewaltsamen Sex und Tod verdeutlichen noch heute die ideologische Relativität willkürlich propagierter Vernunft und Leidenschaft, Politik und Moral und die Brutalität realer Macht in aller Schärfe. De Sade ermöglicht die anthropologische Vermessung des Menschen im Naturzustand und in der Extremsituation des Inhumamen, wie sie auch für die Zeitgenossen des 20. und 21. Jahrhunderts immer noch aktuell ist, um die Abgründe zwischen den um die Oberhand kämpfenden und räsonierenden Antagonisten auszuloten. So können die behauptete Unbestechlichkeit oder Anfechtbarkeit der Entfesselung und Folter, die Anmaßung von behaupteter Tugend und angeblichem Laster erforscht werden, um das Phantasma der »Souveränität« und der »Privilegierung« sogenannter »Ausnahmemenschen« auf der Skala der hohen und niedrigen Beweggründe zu entlarven und die Absurdität des unstillbaren und sich immer wieder ins Dunkel verirrenden Begehrens zwischen Text, Ankündigung und Exekution aufzuschlagen.

Artikel online seit 22.09.14

 

Volker Reinhardt
De Sade
oder Die Vermessung des Bösen

Eine Biographie
C.H. Beck Verlag
464 Seiten mit 60 Abbildungen, 1 Karte und 1 Stammtafel. In Leinen
26,95 €
978-3-406-66515-8

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