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Artikel online seit 07.02.12

Unterwegs nach Utopia

Mit seinem wohl berühmtesten Essay »Juden auf Wanderschaft«
schuf Joseph Roth 1927 ein Meisterwerk des literarischen Journalismus
und ein Zeitdokument von unschätzbarem Wert.


Von Jürgen Nielsen-Sikora
 

»Ach! die gemeine Welt denkt in herkömmlichen, faulen, abgegriffenen Schablonen. Sie fragt einen Wanderer nicht nach dem Wohin, sondern nach dem Woher. Indessen ist einem Wanderer doch das Ziel wichtig, und nicht der Ausgangspunkt.«

Mit diesen Worten aus dem 1937 verfassten Nachwort zu »Juden auf Wanderschaft« skizziert Joseph Roth die jüdische Diaspora. Deren Geschichte ist lang. Ihr Ursprung liegt in der Brandschatzung des Herodianischen Tempels, eines großen und prachtvollen Baus in Jerusalem, im Jahre 70 n. Chr. Damals stürmten und zerstörten römische Legionäre die Heilige Stadt und zwangen viele der dort lebenden Juden zur Flucht. Der Jersualemer Tempel war nicht länger Mittelpunkt der jüdischen Identität.

Eine Generation später wurde auch der von Simon bar Kochba gegen das Römische Reich unter Kaiser Hadrian geführte Aufstand niedergeschlagen. Jerusalem war nun endgültig römische Garnisonsstadt. Eine zweite große Auswanderungswelle war die Folge. Über Jahrhunderte hinweg blieb Jerusalem für die Juden ein utopischer Ort, die Tempelzerstörung wegweisend für das vertriebene Judentum.

Die Diaspora (Verbannung) wurde fortan zum Charakteristikum der jüdischen Geschichte. Verstreut in alle Welt waren die Juden zur Wanderschaft gezwungen. Und nachdem im frühen 4. Jahrhundert durch die Wende der konstantinischen Religionspolitik der Weg zum allmählichen Aufstieg des Christentums geebnet wurde, etablierte sich auch ein zunehmend negatives Judenbild unter den Christen. Da die Kirche überzeugt war, das Heil sei von den Juden auf die Christen übergegangen, entwickelte sich als Teil der christlichen Theologie der Antijudaismus. Die Darstellung der Juden als Gottesmörder war ohnehin schon seit Langem präsent.

Dieses Bild der Juden hatte seinen vorläufigen Höhepunkt im 11. Jahrhundert. Unter Papst Urban II. eskalierte der Hass auf die Juden. Das Oberhaupt der Kirche rief zum Kreuzzug auf und beschwor, dass jede Zeile des Alten und Neuen Testamentes beweise, »dass Palästina als Erbteil des Herrn und Jerusalem als der Sitz aller Heiligtümer und Geheimnisse rein bleiben soll von jeder Befleckung.« Das richtete sich nicht nur gegen die Muslime, sondern gleichsam gegen die Juden, die in der Folge unter dem christlichen Mob zu leiden hatten.

Antijüdische Exzesse, Beschimpfungen, Ghettoisierung, Stigmatisierung und Massenmorde nahmen überhand. Hinzu kam der rasche Bevölkerungswachstum im Westen, der die Juden erneut veranlasste,  in den Osten Europas auszuwandern. Bald entstand so das christlich geprägte Bild vom ewig wandernden Juden »Ahasver«. Als dann die Pest ausbrach, fand man den Sündenbock wiederum im Juden, verfolgte und vertrieb ihn wie auch ein weiteres Mal nach dem Ende der Reconquista. In Kastilien, Aragon und Granada standen die Juden vor der Wahl, sich taufen zu lassen oder abermals eine Flucht ohne Ende auf sich zu nehmen.

Erst im 19. Jahrhundert entwickelte sich im Nachgang der französischen Aufklärung ein Reformjudentum. Es träumte von einem Ende des Ghettojudentums in den europäischen Staaten und Gesellschaften und lehnte nicht nur die jüdische Tradition ab, sondern verzichtete ebenso auf die jüdischen Rituale. Doch was blieb dann noch übrig vom Judentum? — Die Juden sollten Bürger der reformierten Nationalstaaten werden. Diese Möglichkeit hatten sie erstmalig 1867 in der k.u.k. Doppelmonarchie, die alle Juden gleichstellte. Das Deutsche Reich zog 1871 nach. Auf Grund der justiziellen, wirtschaftlichen und militärischen Gleichstellung eröffneten sich den Juden neue Karrierewege; ein jüdischer Nationalpatriotismus keimte vorübergehend auf. Vor allem die assimilierten Westjuden wurden zu Schrittmachern der europäischen Moderne. Die Ostjuden hingegen hielten an ihrer jüdischen Tradition fest.

Mit dem sozialen Aufstieg der assimilierten Juden wuchs zugleich auch der Neid ihnen gegenüber. Bereits der Gründerkrach 1873 schürte neue Ressentiments, und Heinrich von Treitschke sah im Juden gar ein »Unglück für die deutsche Kultur.«

Aber auch die Ostjuden traf das Schicksal in diesen Jahren hart. Sie mussten aus Russland vor den antisemitischen Pogromen unter Zar Alexander III. fliehen. Joseph Roth geht auf diesen Tatbestand in seinem letzten Essay über »Die Lage der Juden in Sowjetrussland« kurz ein.

Die fliehenden Ostjuden waren verarmt, strenggläubig und nirgends daheim. Viele von ihnen wanderten nach Palästina aus, das damals noch ein Teil des untergehenden osmanischen Reiches war. Es war die Zeit der Dreyfus-Affäre, die für Theodor Herzl Anlass bot, über einen »Judenstaat« nachzudenken. Herzl plädierte am Ende des 19. Jahrhunderts dafür, auf den Berg Zion zurückzukehren und dort einen eigenen jüdischen Staat zu gründen. Diese Idee des Zionismus (Nathan Birnbaum), die bei den Ostjuden durchaus auf Sympathie stieß,  war seit dem 17. Jahrhundert virulent. Nun endlich sollte sie Wirklichkeit werden. Denn Baron Edmund de Rothschild finanzierte den Erwerb von Teilen des Heiligen Landes, während in Europa verschiedenste Rassentheorien (Wilhelm Marr u.a.) die Juden als minderwertige Wesen bezeichneten.

Mit der Gründung Tel Avivs, dem »Frühlingshügel«, im Jahre 1909 schien es jedoch zunächst so, als gäbe es eine Lösung der Judenfrage und die Hoffnung auf eine neue Heimat. Hingegen spitzte sich für die Westjuden die Lage nach dem Ende des Krieges dramatisch zu. Die von vielen verachtete erste deutsche Demokratie werde von Juden dominiert, hieß es. Sie seien Schuld an der Schmach von Versailles. Es war diese »Berliner Judenrepublik«, in der nicht einmal 1% der Gesamtbevölkerung Juden waren, in der Joseph Roth seine beinahe nostalgischen Reflexionen 1925 begann und 1927 mit der Publikation »Juden auf Wanderschaft« abschloss.

Der Essay erschien als Band 4 der Reihe »Berichte aus der Wirklichkeit« beim Verlag »Die Schmiede«, der zwischen 1921 und 1929 existierte und in dieser Zeit auch Roths Romane »Hotel Savoy« und »Die Rebellion« publizierte.

Der Essay von 1927 kann als Kritik an den Westjuden sowie an der zionistischen Bewegung gelesen werden. Begleitet wird diese Kritik von einer Idealisierung des Ostjudentums, für das er selber als Verräter an der jüdischen Idee gelten musste. Durchzogen ist Roths Buch von seiner Klage über die Verlorenheit des Jüdischen und der wehmütigen Erinnerung an dessen Tradition.

Seine Heimatstadt Brody, das jüdische Städtchen im Osten, einst wichtiger Handelsplatz in Galizien und Zentrum der Haskala, der jüdischen Aufklärung, ist nicht nur Ausgangspunkt seiner Reflexionen — es bildet in Roths Beschreibungen gleichsam den konzeptionellen Ausgangspunkt für seine folgenden Romane. Darüber hinaus steht es paradigmatisch für das ostjüdische Schicksal: Die bürokratische Unterdrückung, die Armut und den Zerfall des religiösen Zusammenhalts. Über den Ostjuden heißt es: »Man verbot ihm, in Dörfern zu leben, aber auch in großen Städten. In schmutzigen Straßen, in verfallenen Häusern leben die Juden. Der christliche Nachbar bedroht sie. Der Herr schlägt sie. Der Beamte läßt sie einsperren. Der Offizier schießt auf sie, ohne bestraft zu werden… In dunklen Chedern werden sie erzogen. Die schmerzliche Aussichtslosigkeit des jüdischen Gebets lernen sie im frühesten Kindesalter kennen.«

Roth skizziert diese Aussichtslosigkeit des jüdischen Lebens in Berlin, Wien und Paris. In Frankreich spricht er mit einem jüdischen Artisten aus Radziwillow, einem russisch-österreichischen Grenzort. Dieser Artist ist das Symbol eines Balanceakts zwischen West- und Ostjudentum und die damit einhergehende Identitätskrise des Jüdischen: »In Paris erst fangen die Ostjuden an, Westeuropäer zu werden. Sie werden Franzosen. Sie werden sogar Patrioten.« Ein ideales Bild, das er hier von Frankreichs Hauptstadt zeichnet. Dahingegen müssen die Ostjuden in Wien »in den kältesten Wintertagen, in den frühesten Nachtstunden anstehen. Alle: Greise, Kranke, Frauen, Kinder… Man sperrte sie in Österreich ein, weil sie nichtrationierte Lebensmittel ins Land brachten. Sie erleichterten den Wienern das Leben. Man sperrte sie ein.«

Die wandernden Juden in Europa sind das Sinnbild dafür, dass »nichts in dieser Welt beständig ist, auch die Heimat nicht.« Und das Nachwort von 1937 ergänzt: »Zum Wandern verurteilt sind auch die Juden, die in Deutschland geblieben sind. Aus den ganz kleinen Städten müssen sie in größere ziehen, aus den größten in große und, hier und dort aus den großen ausgewiesen, wieder zurück in kleinere. Aber selbst, wenn sie faktisch seßhaft bleiben, welch eine Wanderung vollzieht sich mit ihnen, in ihnen, um sie herum! Man wandert von Freunden fort, vom gewohnten Gruß, vom vertrauten Wort… es ist eine Wanderung in eine gelogene, gewollte falsche Nacht. Man wandert vom Schrecken, den man eben erfahren hat, in die Furcht… und man versucht, sich in ihr, der unheimlichen, behaglich und wohlig zu fühlen… Man wandert von einem Nürnberger Gesetz zum andern. Man wandert von einem Zeitungsstand zum andern, als hoffe man, eines Tages würden doch die Wahrheiten feilgeboten… Man bleibt und wandert dennoch: eine Art Akrobatie, derer nur die Unglücklichsten fähig sind, die Sträflinge von Bagno. Es ist das Bagno der Juden.«

Der österreichische Verleger Christian Brandstätter hat dieses Bagno der Juden, über das Joseph Roth schreibt, mit über 150 Fotografien reich illustriert. Da gibt es die Szenen aus dem galizischen Schtetl, und da sind die Bilder der Orthodoxen mit ihrem Kaftan, den Tefillin, dem Tallit und den Zizijot. Jüdische Friedhöfe und das Kibbuz, Kinder im Cheder und Straßenszenen aus Krakau, Jerusalem, Hebron und Breslau, aus Lemberg und Warschau, Brody und Lublin lassen das Judentum zwischen 1900 und 1940 lebendig werden. Fotos von Theodor Herzl, Moses Montefiore und natürlich eines von Joseph Roth selbst gesellen sich zu denen von jüdischen Schustern, Kutschern, Wasserträgern und Rabbis.

Es sind eben jene für sich sprechenden Bilddokumente, die diese Ausgabe der »Juden auf Wanderschaft« zu einer besonderen Lektüre werden lassen.
 
 

Joseph Roth
Juden auf Wanderschaft
Illustrierte Ausgabe

Christian Brandstätter
€ 29,90

ISBN 978-3-85033-359-7

Das Beste von Joseph Roth
gelesen von Michael Heltau, Mario Adorf, Peter Matic und Martin Wuttke.
Text lesen
»So war es damals! Alles, was wuchs, brauchte viel Zeit zum Wachsen; und alles, was unterging, brauchte lange Zeit, um vergessen zu werden. Aber alles, was einmal vorhanden gewesen war, hatte seine Spuren hinterlassen, und man lebte dazumal von den Erinnerungen, wie man heutzutage lebt von der Fähigkeit, schnell und nachdrücklich zu vergessen.«


Das Gesicht der Zeit
Jürgen Nielsen-Sikora über die Essays, Reportagen und Feuilletons des poetischen Berichterstatters Joseph Roth.
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