»Der Rausch« heißt es dort, »bleibt eine der Stationen
auf dem Weg zum Nullpunkt, eine flüchtige Herberge, ein buntes Zelt, das für
eine einzige Nacht aufgeschlagen wird. (…) Der Nullpunkt ist auch Gefrierpunkt,
und obwohl die Atome ihr Gewicht behalten, ändert sich ihre Anordnung.«
Der
Rausch ist für Jünger vor allem ein Mittel, seinem Wunsch nach gesteigertem
Empfindungsvermögen und Grenzerfahrungen beizukommen. Die Palette der Drogen,
die Jünger eine flüchtige Herberge im Laufe seines Lebens boten, ist breit
gefächert: Äther und Kokain, Opium, Haschisch, Bier und Wein, LSD, Meskalin sind
einige davon, deren Konsum in den Annäherungen reflektiert wird. Die
Neuauflage seines erstmals vor knapp fünfzig Jahren erschienenen Buches ist für
jeden Literatur-Junkie ein Glücksfall, weil er sich an Jüngers abgeklärtem,
kalkuliert sachlichem, teils elitärem Stil berauschen darf.
So wirken Jüngers
Erinnerungen an den Drogenkonsum aus den 1920er, 1950er und 1960er Jahren zwar
manches Mal wie entomologische Präparate, die er im grellen Schein der
Schreibtischlampe vor dem Leser ausbreitet, doch sind es einzigartige Tiere, die
er dort zum Vorschein bringt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Jüngers
Bekanntschaft mit Drogen Geschichte hat. Vom Opium wenig angetan, hatte er in
den 1920er Jahren ein Haschisch-Erlebnis, das ihn in Todesangst versetzte und
dazu führte, dass er fast drei Jahrzehnte den Drogen Valet sagte, ehe er in den
1950er Jahren mit dem Verleger Ernst Klett und dem Arzt Walter Friedeking
Meskalin zu sich nahm. Zur gleichen Zeit stand er in regem Kontakt mit dem
Schweizer Chemiker Albert Hofmann, dem Entdecker des LSD. Beide probierten die
Droge lange bevor sie in »Ruf und Verruf« kam. Jüngers »Besuch auf Godenholm«
aus dem Jahre 1952 handelt von diesen LSD-Experimenten. Tod und Rausch
allerdings waren zeitlebens zwei der wichtigsten Themen Jüngers. Bereits in den
Stahlgewittern aus dem Jahre 1920 packte ihn selbst der Krieg »wie ein
Rausch.«
Das Buch von 1970 war
insofern eine konsequente Fortsetzung seiner Rausch-Studien. Dieses Mal kommen
die Drogen unmittelbar zur Sprache. Ursprünglich war der Essay nur als
thematischer Abstecher gedacht. In gekürzter Fassung lag er bereits 1968 vor und
war dem rumänischen Autor Mircea Eliade gewidmet. Die gesamte Abhandlung
erstreckte sich dann jedoch über nahezu drei Jahre. Jüngers Buch ist aber nicht
nur Erfahrungsbericht, sondern poetisches Geschichtsbuch zugleich. Insbesondere
zu Beginn seiner anekdotischen Erzählungen nimmt er ausführlich Bezug zu de
Quincey, Baudelaire, Poe und rekurriert auf das Zeitalter des Rausches, das 19.
Jahrhundert. Auch sucht er die Nähe der griechischen und römischen Götter immer
wieder auf. Dionysos ist allgegenwärtig.
Schließlich ist der außergewöhnliche Raskolnikow eine der zentralen Figuren,
dessen Schicksal in Jüngers Überlegungen einfließt. Im Rausch verwirft Jünger
ebenso wie Raskolnikow die unvollkommene Welt. Der Rausch ist für beide eine
Annäherung an eine andere, vielleicht bessere Welt. Was für Raskolnikow die
Prostituierte Sonja, das ist für Jünger die Literatur: Rückkehr in die reale
Welt. Für beide aber gilt auch dort, was in den Annäherungen als »höhere
Existenz« gewertet wird: »Ein Werk, auch ein Mensch kann zu stark werden; wir
müssen die Augen schließen oder uns abwenden. (…) Existenz in höherem Sinne
bedeutet stets wiederholte Annäherung.«
Ergänzend hierzu heißt es an anderer Stelle, die Eigenart des Rausches sei
»Entfernung aus der meßbaren und zählbaren Welt, und damit die Annäherung« – an
den Tod: »Sterben ist schwierig, doch es gelingt. Hier wurde noch jeder zum
Genie.«
Rausch und Tod stehen mithin in engem Zusammenhang. Der Rausch umkreist den Tod,
bleibt aber lebendiges Abenteuer.
Rausch und Tod: Diese ungesunde Beziehung kannte bereits der Erste Weltkrieg zu
Genüge. Das Kokain war an der Front groß in Mode. Es diente den Soldaten als
Beruhigung, Ermunterung, Ablenkung. Die Drogen deutet Jünger dann auch als
Surrogat. Doch was, so fragt er im selben Atemzug, ist auf Erden kein Surrogat?
Wenn aber alles zum
Surrogat wird auf dieser Welt, so bleibt die Frage offen: Surrogat für was? Der
Rausch ist insofern intensivierte Suche nach dem Eigentlichen: »Wir hatten die
Schuhe ausgezogen; es war ein Ausflug, zu dem man weder Stab noch Stiefel, weder
Rad noch Flügel braucht. Der Hausherr (Hofmann) brannte ein Räucherstäbchen an.
Der Rauch stieg auf, ein Seidenfaden, dessen Grau sich in ein feinstes Blau
verwandelte. Zunächst erhob er sich senkrecht in der fast unbewegten Luft. Doch
dann begann er zu zittern, sich zu drehen und zu kräuseln zum schwerelosen
Figurenspiel. Er wollte zeigen, was der Tanz bedeutet und was er bieten kann.«
An dieser Stelle wohnt dem
beginnenden Rausch noch ein gewisser Glanz inne. Doch das Elend des
Drogenkonsums wird sogleich mitgeliefert: »Es wurde kälter. Nicht nur die
Nüstern wurden gefühllos, der Mund, der Gaumen auch. Zuweilen biss ich auf die
Lippen wie ein Pferd, das an der Kandare kaut. Ich ging zum Spiegel; die
Pupillen waren groß wie Nachtfalteraugen; dunkel und weit geöffnet vom Alkaloid.
Das Gesicht war starr, gefroren wie auf einer Kurierfahrt jenseits des
Polarkreises. (…) Die Nachtschattengesichter glichen Gespenstermasken mit
dunklem, in den Stoff geschnittenem Visier. (…) Sonst saß ich im Sessel, die
Hände auf der Lehne, während Stunde um Stunde verrann. (…) Visionen von
widerlichem Ungeziefer, das sich auf und unter der Haut einnistet. Es ist nicht
zu vertreiben, selbst wenn der Betroffene es mit Messer und Schere
herauszuschneiden sucht. Wäre es wirklich, würde ihm leichter beizukommen sein.«
Jünger hat nie das
Schicksal eines Hans Fallada, eines William Burroughs oder Jörg Fausers teilen
müssen. Er stand selten in Gefahr, wirklich drogensüchtig zu werden. Seine
Drogenexzesse waren ihm vielmehr im Voraus verbrauchte, geliehene Zeit. Sucht
hingegen erinnere an Suchen und sei, so Jünger, etymologisch verwandt mit »krank
sein«. Weder suchte Jünger, noch war er drogenkrank. Er fand auch ohne Suche –
und der Rausch half ihm ein wenig dabei – eine eigene Sprache für ganz
persönliche Erlebnisse. So war ihm das »wahre Glück« auch »grundlos; es kommt
wie eine Welle, die uns überrascht. Wir kennen die Ursache nicht. Vielleicht
stürzte in der Ferne ein Meteor ins Meer. Vielleicht standen auch nur die
Gestirne günstig; es ist die Art Glück, die immer seltener wird.«
Mit diesem Hinweis gibt er am Ende des Buches einen Ausblick auf die kommende
Gesellschaft, in dem sich deutlich zeigt, dass Drogen und Rausch einerseits und
Kultur andererseits im Interdependenzverhältnis stehen: »Die Gesellschaft wird
in zunehmendem Maße nicht nur vater-, sondern elternlos. Der Staat, der
'tausendschuppige Drache', verwandelt sich in einen pädagogischen Giganten und
stampft Schulen aus dem Boden, die von Fabriken immer weniger zu unterscheiden
sind. Die Ausbeutung verlagert sich und wird intensiver; wie früher die
Muskelkraft, so wird heute das Großhirn monopolisiert.«
Dass Jünger hierin einen Hinweis auf eine neue Dimension des Drogenkonsums und
eine andere Qualität des Rausches heraufscheinen sah, dürfte unstrittig sein.
Und wer dieser Tage die Diskussionen über Ecstasy und Spice verfolgt, wird in
den Worten einen tieferen Sinn erblicken können.
Wenig Sinn allerdings
hat das von Volker Weidermann lieblos verfasste Vorwort. Wer sich an dem Buch
berauschen will, an einem schönen Buch, optisch und inhaltlich, sollte
Weidermanns Worte außer Acht lassen. Dann gibt uns das Buch einen erhellenden
Einblick in Glanz und Elend der künstlichen Paradiese von Ernst Jünger. In der
Tat muss man sich an
Jüngers Annäherungen
auch berauschen wollen. Man darf den Text nicht einfach nur lesen, denn:
Leser ist »kein günstiges Prädikat in den Personalbogen.«
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Ernst Jünger
Annäherungen
Klett-Cotta
Leineneinband, Lesebändchen
456 Seiten
24.90 €
ISBN 978-3-608-93841-8
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akribische Aufarbeitung des Jünger-Textes machen das Buch ohne Zweifel zu einem
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