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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 









Ein Palimpsest des Großen Krieges

Mit der Herausgabe der historisch-kritischen Ausgabe
von Ernst Jüngers Epoche machenden Kriegsroman
»In Stahlgewittern« legt uns Helmuth Kiesel eine
literaturgeschichtliche Arbeit par excellence vor.

Von Jürgen Nielsen-Sikora
 

Das Schlachtfeld: nothing but a bloody tomb. Nur ein blutiges Grab. So die britische Metal-Band Iron Maiden auf ihrem 2003 veröffentlichten Album Dance of Death. In dem Song Paschendale, aus dem die Textzeile stammt, geht es um die dritte Flandernschlacht des Ersten Weltkrieges. Im Stacheldraht hängen die Toten. In den Schützengräben wütet der Fußbrand. Niemand sieht die Freunde wieder. Und das Blut fällt regengleich vom Himmel.

Einband der Mittler-Ausgabe von 1922
Die dritte Flandernschlacht dauert von Ende Juli bis Anfang November 1917. Es ist Europas Jahr des großen Leidens. Die Briten wollen mit einem Durchbruch in Ypern und dem Vorstoß durch Belgien die Häfen sichern, um die Angriffe der deutschen Marine in den Griff zu bekommen. Die Front erstreckt sich über eine Länge von knapp 20 Kilometern. Geländegewinne werden kaum erzielt. Der Regen macht keine Pause und permanent gehen die Granatfeuer nieder. Nach einem wochenlangen, grausamen und unerbittlichen Kampf nehmen die Briten das Dorf Passendale ein. Gut eine halbe Millionen Soldaten lassen zwischen Ypern und Passendale im Herbst 1917 ihr Leben.

Einer der überlebenden Soldaten der dritten Flandernschlacht ist der 22-jährige Kriegsfreiwillige Ernst Jünger. Während des gesamten Krieges führt er Tagebuch. Seine Einträge arbeitet er nach dem Krieg zu einem Roman um, der den Epoche prägenden Titel In Stahlgewittern erhält.

Die nun von Helmuth Kiesel herausgegebene, historisch-kritische Ausgabe von Ernst Jüngers Roman setzt neue Maßstäbe. Kiesels akribische Forschungsarbeit zielt darauf, die Textentwicklung des Romans bis zur Fassung letzter Hand von 1978 abzubilden. Die Arbeit will dem Leser so eine synoptische Lektüre ermöglichen und das 1920 erstmalig publizierte Tagebuch eines Stoßtruppführers, so der Untertitel der Stahlgewitter, als work in progress präsentieren.

Die texthistorische Ausgabe umfasst zwei Bände. Der erste Band enthält neben einer kurzen Hinführung die insgesamt sieben gedruckten Fassungen unter Berücksichtigung der Korrekturbücher. Die Stahlgewitter erscheinen als ein Romanpalimpsest: Die linke Spalte enthält die Erstfassung, die rechte die Fassung letzter Hand. Die Zwischenfassungen sind farbig markiert. Dies lässt einen unmittelbaren Vergleich der Texte zu. Helmuth Kiesel zeigt auf, wann Jünger an welchen Stellen den Roman überarbeitet, wo er etwas hinzugefügt, wo er Abschnitte wieder gestrichen hat. Seit 2010 ist ebenfalls ein Vergleich des Romans mit der Vorlage, den 15 Notizbüchern, die Jünger während des Krieges schrieb, möglich. Kiesel hat sie bei Klett-Cotta als Kriegstagebuch 1914-1918 publiziert. Alle drei Bände zusammen ergeben einen faszinierenden Einblick in jenen Produktionsprozess, der Jünger zum Kriegsschriftsteller par excellence werden ließ.

Der zweite Band der historisch-kritischen Ausgabe der Stahlgewitter beginnt mit einer rund 110 Seiten langen Einleitung in die Thematik. Kiesel kontextualisiert Buch und Autor, nennt Vorbilder für Jüngers Herangehensweise und nimmt mehrmals Bezug auf den großen Gegenentwurf, Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues (1928). Jünger wird als Kriegsteilnehmer präsentiert, der nicht unbedingt begeistert vom Ausbruch des Großen Krieges, wohl aber froh war, der Schule Valet sagen zu können. Im Kriegstagebuch behauptet Jünger gar, der Krieg sei besser als in stinkenden Kneipen herumzuhängen.

Ausführlich geht Kiesel auch auf die Geschichte und die Bedeutung von Jüngers renommiertem 73. Hannoveraner Regiment ein. Schon in der Umschlagillustration der Erstausgabe von 1920 spiegelt sich die Zugehörigkeit zum Füsilier-Regiment im Gibraltarband wider. Kaiser Wilhelm II. hat 1901 erlaubt, den Regimentsangehörigen am rechten Ärmel ein hellblaues Band mit der Inschrift Gibraltar anbringen zu dürfen, weil sich die Einheit bereits 1775 in Gibraltar rühmlich hervorgetan hatte.

Die Einleitung reflektiert darüber hinaus sehr detailreich den aktuellen Forschungsstand bis hin zu Christopher Clarks viel diskutierter, einen Romantitel Hermann Brochs aufgreifende, Studie Die Schlafwandler, die in Deutschland zeitgleich mit der historisch-kritischen Ausgabe von Jüngers Stahlgewittern erschien. Clark arbeitet in diesem erhellenden Buch die Vorgeschichte des Krieges auf und weist nach, dass insbesondere die Generalmobilmachung Russlands unmittelbar nach Ablauf des österreichischen Ultimatums am 25.7. 1914 die Krise in Europa massiv verschärft hat. Ohne Deutschland völlig von der Kriegsschuld freisprechen zu wollen, stellt Clark darüber hinaus fest, dass alle beteiligten Nationen einschließlich Serbien einen wesentlichen Anteil am Ausbruch des Krieges gehabt haben.

Nach der Auseinandersetzung mit aktuellen Forschungsergebnissen liefert Kiesel eine Chronik der Kriegseinsätze Jüngers, der anschließend als Tagebuchschreiber, Draufgänger und Abenteurer vom Herausgeber äußerst facettenreich vorgestellt wird. Die Einleitung schließt mit einer inhaltlichen Auseinandersetzung sowie einer Erklärung der Bedeutung des Romans.

Den größten Teil des zweiten Bandes macht das Variantenverzeichnis aus. Kapitel für Kapitel, Seite für Seite, Zeile für Zeile werden die Änderungen der unterschiedlichen Fassungen minutiös aufgelistet, ehe der Band mit den Materialien schließt. Dieser letzte Teil geht zunächst auf die Rezeption des Romans ein und präsentiert dessen Absatzzahlen, die bis heute weit unter denen von Remarques Antikriegsbuch liegen. Die frühen Besprechungen der Stahlgewitter leitet Kiesel mit wenigen Worten ein. Ein Bildteil, der die Korrekturbücher und die Cover der verschiedenen Ausgaben präsentiert, folgt. Das Cover der historisch-kritischen Ausgabe adaptiert die Illustration der Erstausgabe. Sie zeigt ein paar explodierende Schrappnells, die als Comicstrip gezeichnet in unterschiedlichen Größen quer über den Einband laufen.

Es folgt der Abdruck der englischen und französischen Ausgabe von 1929/30 und eine Erläuterung der von Jünger in dem Roman verwendeten Zitate und Anspielungen, eine Darstellung der Lage- und Gefechtskarten des 73er-Regiments sowie Sach- und Ortserklärungen. Zudem bietet Kiesel ein Register und Literaturverzeichnis.

Die historisch-kritische Ausgabe ist in erster Linie an Fachkollegen gerichtet. Sie genügt höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen und ist exzellent kommentiert. Kiesels klare Sprache, die gut verständliche Kontextualisierung und seine akribische Aufarbeitung des Jünger-Textes machen das Buch ohne Zweifel zu einem echten Leseerlebnis. 

Der Krieg war, um mit Iron Maiden zu reden, nothing but a bloody tomb. Nur die Literatur lässt die Toten wieder auferstehen.

Artikel online seit 19.10.13
 

Ernst Jünger
In Stahlgewittern

Historisch-kritische Ausgabe

Herausgegeben von Helmuth Kiesel
Klett-Cotta
Einführungspreis bis 31.1.2014 68,-€, ab 1.2.2014: EUR (D) 84,-
1. Aufl. 2013, 1245 Seiten, gebunden,
2 Bände im Schuber, mit zahlreichen Abbildungen
978-3-608-93946-0
 


 


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