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Glanz&Elend

Literatur und Zeitkritik

Letzter Stand: 02.12.2012, 20:00

Lesetipps
Artikel online seit 02.12.12

Diese Auswahl literarischer Geschenktipps folgt ausschließlich persönlichen Neigungen zu Autoren & Bücher und dem damit verbundenen missionarischen Eifer.


Eine literarische Delikatesse

Daß Honoré de Balzac Asket und Gourmet in einer Person war, Hungerleider wie Vielfraß, ist gern erzählte Legende. Phasen strengster Arbeitsdisziplin und Abstinenz wechselten sich ab mit orgiastischen Fresszügen durch die Pariser Feinkostläden, Märkte und Bäckereien. Dabei entdeckte er auch eine Einrichtung für sich, die damals als öffentlicher Ort des kulinarischen Genusses gerade in Mode kam, das Restaurant. Und fortan diente es ihm nicht nur als eine ideale Bühne zur Inszenierung seiner Sittenbilder, sondern auch als perfekter Lokation für seine Lust am exzessiven Essen. Mit Die Austern des Monsieur Balzac hat Anka Muhlstein eine wunderbare Liebeserklärung an das Paris des 19. Jahrhunderts geschrieben, die gespickt ist mit biographischen Anekdoten und süffisanten Details aus dem Leben Balzacs und seiner Romane. Ein kulinarisch-literarisches Geschenkbuch erster Güte. HD
Anka Muhlstein -
Die Austern des Monsieur Balzac - Eine delikate Biografie - Aus dem Französischen von Grete Osterwald
insel taschenbuch 4103 - Broschur, 164 Seiten - 8,99 €


»So wurde ihnen die Flucht zur Heimat«

Unter diesem Motto zeigt die Ausstellung des Deutschen Exilarchivs der Deutschen Nationalbibliothek 1933-1945 in Frankfurt/Main, kuratiert von Victoria Lunzer-Talos und Heinz Lunzer, Materialien, welche die Freundschaft von Soma Morgenstern und Joseph Roth eindrucksvoll dokumentieren. Dazu ist im Weidle Verlag ein großformatiger Band erschienen, der neben bisher unbekannten Briefe und Notizen zu Morgensterns Texten und zu den jeweiligen Biographien der Schriftsteller auch zahlreiche Fotos und Faksimiles birgt, die den Leser in die düsterste Epoche deutscher Kulturgeschichte eintauchen lassen, in der einzig die Freundschaften der Verlorenen Lichter im Dunkel der Barbarei waren.
»Eigentlich sollte das, was ich seit Jahren schreibe, den Titel haben: Ein Leben mit Freunden. Aber leider kann ich diesen Titel nicht verwenden, weil ich zu der unglücklichen Generation gehöre, die in einer Flut von Weltgeschichte verunglückte, aus der nur einige ihr Leben gerettet haben, aber keinesfalls ohne Schaden davongekommen sind.«  Soma Morgenstern
Die Ausstellung geht vom 7. November 2012 – 19. Januar 2013
Soma Morgenstern und Joseph Roth. Eine Freundschaft.
120 Seiten, zahlreiche Abbildungen - Weidle Verlag - fadengeheftete Broschur - € 25 - 978-3-938803-47-9


Géza von Cziffra
Erinnerungen an Joseph Roth


Der 1900 im ungarischen Arad geborene Géza von Cziffra wurde als Regisseur erfolgreicher Unterhaltungsfilme bekannt. Er war aber auch Reporter, Dramaturg, Bühnen- und Drehbuchautor und veröffentlichte eine Reihe Bücher, darunter mehrere Memoirenbände. Als Flaneur durch die literarischen Cafés von Wien und Berlin lernte er dort neben Else Lasker-Schüler, Egon Erwin Kisch, Kurt Tucholsky und Bertolt Brecht auch Joseph Roth kennen.
Daß, wer sich kurz faßt, häufig mehr mitzuteilen hat als weitschweifige Memoirenverfasser, beweisen diese in bestem Sinne herzzerreißenden Erinnerungen eines Maitre der leichten Muse an einen der ganz großen Dichter des Zwanzigsten Jahrhunderts. Sie sind kurz und doch endlos unterhaltsam. Dabei läßt ihr federleichter Ton nie vergessen, daß hier ein tragisches Leben in sich rasch verfinsternden Zeiten im Mittelpunkt steht: Joseph Roth, der Dichter des »Radetzkymarschs« und scharfzüngige Journalist, ein von, oft selbst fabrizierten, Geheimnissen umgebener Spötter und Abkömmling des verschwundenen ostjüdischen Kosmos, berühmter Trinker, Hotel- und Caféhausbewohner, Zeitgenosse, Freund und Feind von Egon Erwin Kisch, Alfred Polgar, Bertold Brecht, Heinrich Mann, Irmgard Keun, Ödön von Horváth, expressionistischen Malern – ihnen allen setzt dieser wundervoll gestaltete Halbleinenband von Berenberg ein stilvolles Denkmal. HD

Géza von Cziffra - Der heilige Trinker - Berenberg Verlag - 140 Seiten · Halbleinen, fadengeheftet - EUR 19,00


»Auf Ozeanen und im Wartesaal«

Einer dieser Verlorenen war auch der 1902 geborene Schriftsteller und Publizist Hans Sahl, der als jüdischer Autor 1933 von Berlin aus über Prag und Zürich nach Frankreich flüchten mußte. Von Marseille aus organisierte er mit dem Amerikaner Varian Fry die Flucht von 2400 Intellektuellen vor den Nazis, ehe er selbst über Portugal in die USA entkam. Dort arbeitete er als Schriftsteller, Übersetzer und Journalist.
»Die hellen Nächte« war sein erster Gedichtband, er erschien 1942 im Verlag von Barthold Fles, nachdem es gelungen war, 250 Subskribenten zu werben. Die hier vorliegende Ausgabe bringt die Gedichte erstmals wieder in der von ihm bestimmten Ordnung.
Ebenfalls in diesem Herbst erschien der vierte Band der Werkausgabe, der unter dem Titel »Der Mann, der sich selbst besuchte«, die Erzählungen und Glossen Sahls wieder zugänglich macht. HD
Hans Sahl - Die hellen Nächte - Gedichte aus Frankreich - Mit Beiträgen von Burkhard Baltzer, Momme Brodersen, Stéphane Hessel und Ralph Schock. Weidle Verlag - 100 Seiten - € 16,90 - 978-3-938803-54-7
Hans Sahl - Der Mann, der sich selbst besuchte - Erzählungen - Luchterhand Literaturverlag - 416 Seiten - € 22,99 978-3-630-87293-3
 

Eine starke Frau in der Stunde Null

»Ein Bett war nichts gegen eine Tür. Übermäßig hatte sich das Bett in der Wertschätzung des Menschen gespreizt, es hatte eine ganz unangemessene Ausdehnung in seinem Wunschdenken eingenommen. Dabei war wesentlicher Besitz des Menschen die Tür.«
April 1945: Die 27-jährige Elsa Lewinsky ist alleine in der großbürgerlichen Wohnung ihrer Eltern zurückgeblieben und wartet auf das Kriegsende. Der Einmarsch der Russen steht kurz bevor, doch die Zukunft ist ungewiss. Elsa ist eine mutige Einzelkämpferin, die trotz der Schrecken um sie herum mit Hoffnung nach vorne schaut. Lakonisch beschreibt Anemarie Weber die alltäglich gewordenen Erfahrungen von Hunger, Angst, Vergewaltigung und der Auseinandersetzung mit den Alliierten. Ihr präzises Psychogramm der Typen und Charaktere bricht mit den stereotypen Bildern der knoppschen Betrachtung von Geschichte. HD
Annemarie Weber - Westend - Roman - aviva Verlag - 318 Seiten - 19,90 EUR - 978-3-932338-52-6


»Nicht verflogen ist der Zauber...« Schukowski

In einem sowjetischen Lazarettzug auf dem Weg von einer Front zur anderen befindet sich auch ein Petersburger Intellektueller, der von Herzanfällen und Todesangst gequält, den Werther liest - und zwar auf deutsch.
Es ist eine jener seltsamen zufälligen Gemeinschaften, wie sie nur Kriege und Naturkatastrophen hervorbringen.
Bei einem längeren Aufenthalt trifft er auf Vera, ein Mädchen, ruhelos und romantisch, grazil und ungestüm – und sie ist jederzeit zur Liebe bereit.
Petrows Erzählung, hat ihre besondere Geschichte: Jedes Jahr an seinem Geburtstag, zu dem die ganze kulturelle Elite Leningrads kam, begann die Feier damit, daß der Gastgeber Auszüge aus seiner Manon vorlas. Er verheimlichte seinen Text nicht, er reichte ihn nur nicht zur Publikation in sowjetischen Zeitschriften und Verlagen ein. So blieb einer der schönsten Prosatexte der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts im klandestinen Raum der Poesie geborgen.« HD
Wsewolod Petrow - Die Manon Lescaut von Turdej - Aus dem Russischen von Daniel Jurjew - Mit einem Kommentar von Olga Martynova & einem Nachwort von Oleg Jurjew - Weidle Verlag - 128 Seiten - Broschur - € 16,90 - 978-3-938803-48-6


Krauts & Tommies in Afrika

Wer Boyds letzten Klopper, seine im Januar dieses Jahres als TB erschienen »Neuen Bekenntnisse« gelesen hat, dem ist nicht nur aufgefallen, daß bloomsbury auf der Welle seines momentanen Erfolges gnadenlos seine frühen Werke raushaut, sondern auch, daß Boyd mit den Jahrzehnten einen markanten Reifeprozess durchlaufen hat. In den Bekenntnissen und jetzt auch wieder im soeben erschienenen Band »Der Eiskrem-Krieg«, dessen Originalausgabe bereits 1982 erschienen ist, erkennt man noch deutlich Einflüsse seiner großen Vorbilder, Greene und Somerset-Maugham. Damit einher gehen gelegentlich durchaus Längen, den Plot verkomplizierende Nebenlinien und eine ausgeprägtes Bedürfnis zur Erklärung historischer Zusammenhänge. Aber, und das ist das Bemerkenswerte bei Boyd, es stört das dadurch lehrreicher gewordene Lesevergnügen nicht, und man wartet auf weitere naturbelassene Perlen aus dem Frühwerk des Meisters. HD
William Boyd - Der Eiskrem-Krieg - Roman - Übersetzt von Hermann Stiehl - Berlin Verlag - 590 Seiten - 9,99 € - 9783833308192


Ein zeitlos gültiges Zeugnis

»Die Welt ist so voller Schwachköpfe und Narren, daß man nicht nötig hat, sie im Tollhause zu suchen.«
Die Niederschrift seiner »Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens« haben Johann Peter Eckermann, den Sohn eines umherziehenden Händlers, aus Winsen an der Luhe literarisch unsterblich gemacht. Obwohl sie bis heute nur zu gerne als eigenes Werk »unseres größten Dichters« angesehen werden, sind Eckermanns Gespräche mit Goethe ein eigenständiges Werk mit großer Wirkung und unerlässliche Quelle für das Verständnis von Goethes Schaffen und Persönlichkeit, ein Monument seines Nachruhms. Nun sind Eckermanns »Gespräche mit Goethe« endlich auch als erschwinglicher Band 50 der Taschenbuchausgabe des Deutschen Klassiker Verlags erschienen. Diese Ausgabe bietet den vollständigen Text nach den Erstausgaben und wertet Eckermanns Vorarbeiten, Fassungen, Fragmente und Pläne, Tagebücher und Korrespondenzen aus. Alle Texte werden durch einen umfangreichen Kommentar erschlossen.
Eckermanns »
unmittelbaren Skizzen« haben ihre Originalität und Gültigkeit auch für heutige Leser behalten. Viele Textstellen können als Leitsätze und Lebensweisheiten auch ohne den weiteren Textzusammenhang, für sich genommen, stehen, und nicht wenige dürfen als treffende Kommentare oder kritische Anmerkungen zu Phänomenen unserer Gegenwart gelesen werden und stehenbleiben. Nachfolgende Zitate sollen einen kleinen Eindruck von Themenvielfalt, Orginalität und Witz der Aufzeichnungen Eckermanns vermitteln. HD

Johann Peter Eckermann - Gespräche mit Goethe Herausgegeben von Christoph Michel unter Mitwirkung von Hans Grüters - Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 50, Broschur - 1390 Seiten - 20,00 € - 978-3-618-68050-5
 


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