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Glanz&Elend Magazin für Literatur und Zeitkritik

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Die menschliche Komödie
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in limitierter Auflage von 1.000 Exemplaren
mit 176 Seiten, die es in sich haben.

 

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Foto: Barbara Niggl Radloff
Hannahs Lachen


Hannah Arendts Denkwege des Verlernens bieten  uns heute dringend notwendige Anstöße zu einem vorurteilsfreien politischen Handeln und Urteilen.



Von Jürgen Nielsen-Sikora


Zwei Zitate sind dem Titelblatt ihrer unvollendet gebliebenen Abhandlung Das Urteilen zu entnehmen: Einem Spruch aus dem Pharsalia-Epos des römischen Dichters Lukan folgt der entscheidende Vers aus dem Faust:
 

Könnt ich Magie von meinem Pfad entfernen,
Die Zaubersprüche ganz und gar verlernen,
Stünd ich, Natur, vor Dir, ein Mann allein, 
Da wär´s der Mühe wert, ein Mensch zu sein.
 

Die Magie von jenem Pfad entfernen, auf dem man sich irrtümlich befindet; die Zaubersprüche verlernen, um wirklich Mensch zu werden: Hannah Arendt hat wohlüberlegt Goethes Vers als Motto für den letzten Teil ihrer Trilogie Vom Leben des Geistes ausgesucht, denn es trifft exakt den Kern ihrer eigenen Politischen Theorie, die um die Bedingungen der Möglichkeit einer humanen Gesellschaft kreist und das »Faktum menschlicher Pluralität« fokussiert.
Die
»grundsätzliche Bedingung des Handelns wie des Sprechens«, sagt Arendt, manifestiere sich unter den Menschen »auf zweierlei Art, als Gleichheit und als Verschiedenheit.« In Hannah Arendts Schrift Vita activa, erstmals 1958 auf Englisch erschienen, heißt es hierzu erläuternd: »Ohne Gleichartigkeit gäbe es keine Verständigung unter Lebenden, kein Verstehen der Toten und kein Planen für eine Welt, die nicht mehr von uns, aber doch immer noch von unseresgleichen bevölkert sein wird. Ohne Verschiedenheit … bedürfte es weder der Sprache noch des Handelns für eine Verständigung.« Die Welt, die wir bewohnen, so Arendt weiter, sei deshalb nur in der Vielfalt der Perspektiven überlebensfähig. Die Mehrzahl sei »das Gesetz der Erde«.
Von dieser Prämisse ausgehend fordert Hannah Arendt in ihren Schriften auch immer wieder eine pluralistische Diskussion im politischen Raum, die sie in Anschluss an Edmund Burke »acting in concert« nennt. Einer solchen Diskussion liegt die Idee der όμόνοια zu Grunde, die Idee einer Gemeinschaft der Vernunft. Die όμόνοια bildet zugleich den kritischen Maßstab für Arendts politische Theorie, in der sie vor allem mit dem modernen Mensch ins Gericht geht. Denn das Ausmaß an Krieg und Gewalt im 20. Jahrhundert wurde in ihren Augen nur möglich durch einen besonderen Typus: den weltlosen Menschen, der den Bezug zu der von Menschen bewohnten Welt, als deren Teil er geboren ist, verloren hat. Ein Menschentypus, der den Anderen zum Material degradiert und die Grundlagen des Gemeinwesens angegriffen hat. Zu diesen Grundlagen gehören insbesondere die Urteils- und Handlungsfähigkeit. Arendt bezeichnet diese Art von Weltverlust als »Banalität des Bösen«, die sie an Adolf Eichmann, dem Organisator der Judendeportationen, exemplifiziert. Eichmann, der nach 1945 unter verschiedenen Pseudonymen (Adolf Barth, Otto Eckmann, Otto Heninger sowie Richard bzw. Ricardo Klement) in Deutschland und Argentinien zunächst unbehelligt lebte, wurde im Mai 1960 vom israelischen Geheimdienst entführt und bald darauf in Jerusalem der Prozess gemacht. Rund zwei Jahre nach seiner Festnahme wurde er verurteilt und hingerichtet.
Die Banalität des Bösen, die Eichmann verkörpere, so Arendt in ihrem Prozessbericht, zeichne sich durch Realitätsferne und Gedankenlosigkeit aus. Arendt bemerkt darüber hinaus, grundsätzlich sehe der Mensch des 20. Jahrhunderts im Akt des Herstellens die höchste Stufe seiner Möglichkeiten aufscheinen. Sein Vertrauen in Maschinen, die reine Zweck-Nutzen-Kalkulation sind Charakteristika dieses neuen Menschentyps. Gegenstände und die Natur behandelt er als bloßes Material, als ein großes Stück Stoff, aus dem man vermeintlich herausschneiden dürfe, was man wolle, und das man wieder zusammenflicken könne, wie man möchte.

Mit Arendts Kritik am Mensch der Moderne geht eine Kritik an der modernen Gesellschaft einher, die allenthalben noch das reine Funktionieren goutiere. Gerade Anforderungen dieser Art aber beraubten den Mensch seiner Fähigkeit, eine Sache auch vom Standpunkt eines Anderen zu betrachten; es beraube ihn der Fähigkeit, sich die Folgen seines Tuns überhaupt vorstellen zu können. So kannte Eichmann bloß noch den »Kadavergehorsam«, das unhinterfragte Ausführen von Befehlen, gleich, wie absurd und bestialisch diese auch sein mochten.
Arendt kommt in der Analyse Eichmanns zu der Auffassung, dass uns nur das Denken und Nachdenken davon abhält, Böses zu tun. Nur indem wir selber denken und nicht bloß gehorchen, können wir es vermeiden, böse zu sein, Kriege zu führen und Verbrechen zu begehen.
Denken hat für sie eine diskursive Struktur — es ist auf Andere angewiesen. Ein Mensch, der nicht denkt ist wie ein Schlafwandler. Er wird nie eine verantwortungsvolle Rolle als Bürger innerhalb der Gemeinschaft einnehmen, geschweige denn Welt gestalten können. Für Arendt ist es diese kommunikative Macht des Menschen, der vor allem in der Politik eine herausragende Rolle zukommt: Politik ist gemeinsames Sprechen und Abgleichen von Interessen, weil die Welt in erster Linie ein Gebilde von Menschenhand ist. Wo kein Diskurs stattfindet, wo im Gegenteil alles daran gesetzt wird, zu unterdrücken und zu knechten, dort ist den Säulen der Hölle der Weg geebnet. Das 20. Jahrhundert hat sie auf perfide Weise errichtet: Antisemitismus, Imperialismus und Rassismus sind ihre Namen, verwirklicht durch die totalitären Bewegungen des Nationalsozialismus und des Stalinismus. Vorbereitet wurden sie allerdings schon durch die Ideologien des 19. Jahrhunderts.
Arendt wirft vor allem diesem Jahrhundert Geschichtsbesessenheit und Ideologieverschworenheit, Nationalismus, bürgerliche Wissenschaftsgläubigkeit und geschichtsphilosophischen Fortschrittsoptimismus vor. Elemente des Totalitarismus sind Arendt zufolge die Überbevölkerung, die Expansion, der wirtschaftliche Überfluss, die soziale Wurzellosigkeit sowie der Verfall des Politischen. Die Konzentrationslager des 20. Jahrhunderts hingegen symbolisieren das Gesellschaftsideal der totalen Herrschaft, wobei sich totalitäre Bewegungen grundsätzlich jeder Weltanschauung und Ideologie bemächtigen und sie mit Hilfe von Terror in eine neue Staatsform überführen können. So waren Verbrechen und Massenmorde im Nationalsozialismus und den Gulags keine Ausnahmen, sondern die Regel.
Der Totalitarismus, so Arendt, degradiere den Mensch zur Sache. Die Politik der Vernichtung eliminiere jegliches politische Handeln; die Pluralität der Menschen und ihrer Weltbezüge werde auf diese Weise ausgelöscht. Der Terror totalitaristischer Systeme verfolge hierbei das Ziel, den Menschen so zu organisieren als gäbe es ihn nicht im Plural, sondern nur im Singular.
Menschsein bedeutet für sie insofern, in der von Menschen geteilten Welt zu erscheinen, von Anderen wahrgenommen zu werden, sich mit ihnen zu verständigen. Ohne ein Verstehenwollen kann es keine Verschiedenheit geben; ohne Verstehen und Verständigung ist der Mensch unfähig, sich in der Welt zu orientieren. Und wenn er auf der Erde zu Hause sein will, muss er versuchen, sich an dem nicht endenden Dialog der Menschen zu beteiligen.
Handeln ist in diesem fortwährenden Dialog die Bedingung für eine Kontinuität der Generationen sowie für Erinnerung und Geschichte; zu handeln und die Kompetenz, Verschiedenheit zu artikulieren, sei ein Vorrecht des Menschen, meint Arendt. Gefahr für die Gemeinschaft drohe vor allem dann, wenn das (politische) Handeln durch ein bloßes Sich-Verhalten ersetzt werde, sprich: wenn die »Herrschaft des Niemand« um sich greife. Vernünftiges politisches Handeln sei dagegen die Antwort auf das Geborensein des Menschen. Die menschliche Natalität – so Arendt im Anschluss an Augustinus (354-430) – bezeuge, dass der Mensch ein Anfang sei und immer wieder einen Neuanfang machen könne.

Diesen Weg des Neubeginns hat sie, so Marie Luise Knott, freie Publizistin in Berlin und ehemalige Chefredakteurin der deutschen Le Monde diplomatique, in ihrem überaus klugen Buch zu Hannah Arendts Denkwegen, selber eingeschlagen. In Knotts Buch geht es um die verschiedenen, doch im politischen Kontext miteinander verwobenen Denkwege, »darum, wie und warum« Arendt einem bestimmten Begriff, »dessen tradierte Vorstellung in der Gegenwart nicht mehr trug, eine neue Gegenwart schuf.« Arendt spricht von »gefrorenen Gedanken«, die das Denken auftauen müsse. Knott veranschaulicht Arendts Auftauversuche, das heißt ihre Neuerfindung sinngeronnener Begriffe anhand von vier Kapiteln über das Lachen, das Übersetzen, das Verzeihen und das Dramatisieren. Sie erläutert: »Kein Maler steht, wie der französische Philosoph Gilles Deleuze es einmal formulierte, vor einer weißen Leinwand. Kein Autor sitzt einfach vor einem weißen Blatt. Tatsächlich ist die Fläche, wenn der moderne Künstler vor sie tritt, voller überkommener Bilder, so dass er die Leinwand seiner Imagination erst einmal leeren, »reinigen« muss, um selbst ein Bild zu entwerfen. Deleuze beschreibt diese Arbeit als einen »verzweifelten Kampf«, der mitunter Jahre oder Jahrzehnte dauere. Einen solchen »verzweifelten Kampf« hat auch Hannah Arendt geführt.«
In ihrem Ringen um eine Neudefinition politischer Begriffe habe sie gezeigt, dass »die in Floskeln, Klischees und Redewendungen verwaltete Sprache durch die Erfahrung der Menschen neu aufgebrochen werden muss, und dass es darum geht, die Dimension des Handelns wieder in die Vorstellung der Lesenden zurückzuholen … Durch eine derartige Rückkehr zu den Quellen, durch eine Neulektüre des alten Textes also, kann die (ursprüngliche) Erfahrung hinter dem Begriff reaktualisiert und zurückgewonnen werden.«  Es ging Arendt, so Knott, letztlich darum, »Vorurteile [zu] vergessen, die am Denken hindern.« Erst, wenn es gelingt, scheinbar Selbstverständliches zu verlernen, das heißt die ausgetrampelten Pfade der Sprache zu verlassen, die Sprache von ihren Verkrustungen zu befreien, ist der Weg für ein neues Denken bereitet.

Radikal geht Arendt diesen Weg im Eichmann-Buch. Darin heißt es: »In Eichmanns Mund wirkt das Grauenhafte oft nicht einmal mehr makaber, sondern ausgesprochen komisch.« Etwa dann, wenn er sich auf Kants kategorischen Imperativ beruft und ihn sich, so Arendt, »für den Hausgebrauch des kleinen Mannes« zurechtbiegt. Komisch muss Eichmann auf Arendt aber auch deshalb gewirkt haben, weil er sich in einem Umfeld artikulierte, das ihm völlig fremd war: Das Ethos eines »SS-Obersturmbannführers« und Leiter des »Referats für Juden- und Räumungsangelegenheiten« war das israelische Gericht eben nicht, im Gegenteil musste er sich zum ersten Mal in seinem Leben rechtfertigen. Das war mehr als ungewohnt für einen, der nie selber gedacht hat.

Wenn Knott Arendts noch immer umstrittenes Eichmann-Buch verteidigt und hierbei auf ihre Ironie und das Lachen, das in diesem Buch stecke, zu sprechen kommt, so scheinen darin immer wieder indirekt auch Henri Bergsons Reflexionen aus dem im Jahre 1900 erschienenen Buch Le rire. Essai sur la signification du comique auf. Darin definierte Bergson das Lachen als Angriff auf Stereotypenbildung unseres Verhaltens. Wenn wir uns durch Isolierung in einer zwanghaft gelenkten Kollektivität einander gleich geworden sind und uns kein Raum mehr für Individualität und Freiheit bleibt, werden wir zu solchen Stereotypen. So wirke ein Mensch genau dann komisch, wenn er sich in eine Sache verwandelt habe oder wie eine Sache funktioniere. Bergson bemerkte ferner, das Komische brauche etwas, das er die »Anästhesie des Herzens«, sprich: Gefühllosigkeit, nannte. Beide Aspekte wird Hannah Arendt in Eichmann wiederfinden: Die Verwandlung der Person in eine Sache sowie die Gefühllosigkeit, die Unfähigkeit, sich in die Welt eines Anderen hineinversetzen zu können.

Wenn wir uns mit Bergson nun fragen, worüber wir eigentlich lachen, so ist die recht triviale Antwort: Über das Komische. Aber was ist das? Komisch ist nach Bergson vor allem ein mechanisch-sinnloser Ablauf von Bewegungen und Handlungen. Fehlt dem Menschen die nötige Aufmerksamkeit oder Flexibilität, dann kommt es, so Bergson, entweder zur Krankheit (physisches Fehlen von Geschmeidigkeit), zur Torheit (fehlender Verstand/Vernunft) oder gar zum Verbrechen (wenn die entsprechende moralische Gesinnung fehlt).
Man muss sich meines Erachtens diesen Gedankengang Bergsons vor Augen halten, um zu verstehen, warum Marie Luise Knott einer scheinbar nebensächlichen Bemerkung in Hannah Arendts Eichmann-Buch so große Aufmerksamkeit schenkt: Das Lachen Arendts über diesen »Hanswurst« der Nazis ist für das Verständnis des Berichts über die Banalität des Bösen von zentraler Bedeutung. Es ist das Verdienst Knotts, diesen Aspekt anschaulich herausgearbeitet zu haben. Sie zeigt, wie Arendt die üblichen Deutungsversuche des Bösen, verkörpert durch Eichmann, gegen den Strich bürstet und jegliche Vorurteile außer Acht lässt, die am Denken, an der unbedingten Tätigkeit des Geistes, nur hindern.

Begeben wir uns mit Knott auf Arendts Denkwege, so zeigt sich, dass die jüdische Philosophin zahlreiche Denktraditionen und -wege vom Gestrüpp, das auf ihnen wucherte, befreit und nicht selten einen verstörenden Perspektivenwechsel gewagt hat. Die Geistestätigkeit, so Arendt, sei als solche durch einen Rückzug von der Welt der Erscheinungen gekennzeichnet. Der menschliche Geist vergegenwärtige, was die Sinne auf Grund mangelnder Synthesisleistung nicht vergegenwärtigen könnten: Der Geist stellt (sich) die Dinge vor. Diese Vor-Stellung nennt Arendt mit Kant auch »Einbildungskraft«. Es ist das Vermögen der Anschauungen auch ohne die Anwesenheit des Reflexionsobjektes. Damit wird Denken durch Vor-Stellen vorrangig ein Nach-Denken, ein kritisch-reflexiver Akt. Die Vergegenwärtigung des nicht sinnlich Gegebenen kann sich nun entweder auf das Nicht-mehr oder aber auf das Noch-nicht des Seienden beziehen. Im ersten Fall sprechen wir von Erinnerung (des Vergangenen), im zweiten von Antizipation. Alle geistigen Tätigkeiten sind selbstständig, autark und un-bedingt, da die geistige Tätigkeit Ermöglichungsgrund alles Seienden ist in dem Sinne, dass nur durch die Vor-Stellung »etwas« ist. Die Haupteigenschaft des Geistes ist seine Unsichtbarkeit; er erscheint nicht in Welt, sondern zeigt sich allenthalben dem denkenden, wollenden und urteilenden Ich selbst, und zwar durch einen Akt der bewussten Reflexion auf die Welt der Erscheinungen.
Die Auseinandersetzung mit Adolf Eichmann als Berichterstatterin für William Shawn und den New Yorker 1960/61 hat ihr Denken selbst nachhaltig geprägt. Sie schrieb damals, nicht Dummheit habe Eichmann dazu veranlasst zum Organisator der Judenvernichtung zu werden, sondern seine Weigerung, über sein Tun nachzudenken.
Gedankenlosigkeit sieht sie auch in ihrer Zeit vorherrschen. Denn der Mensch nähme sich kaum noch Zeit zu reflektieren. »Das Bedenklichste«, schrieb schon ihr Lehrer Martin Heidegger, »in unserer bedenklichen Zeit, ist, dass wir noch nicht denken.« (Heidegger, Was heißt Denken?) Arendts Kernfrage lautet diesbezüglich, ob unsere Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, mit unserem Denkvermögen zusammenhängt. Anlass für diese Überlegung war zunächst die Beschäftigung mit dem tätigen Leben, das sie dazu führte, sich auch dem contemplativen Aspekt der menschlichen Tätigkeit zu widmen: Warum wurde der Begriff des tätigen Lebens gerade von Menschen geprägt, die sich nahezu ausschließlich dem räsonierenden Leben zuwandten und alles Seiende aus dieser Haltung heraus beurteilten? Was tun wir eigentlich, wenn wir denken? Und wo sind wir, wenn wir denken?

Nicht Denkfähigkeit als solche steht dabei zur Disposition – denn der Mensch ist ein denkendes Wesen –, vielmehr fragt Arendt, ob das Denken und Nach-Denken uns davon abhalten könne, Böses zu tun. Sapere aude sagte Kant: Wir müssen uns unseres eigenen Verstandes bedienen, um tradierte Gedanken und Ideen zu verlernen und somit allererst das Denken erlernen zu können. Genau hierauf zielt Marie Luise Knotts Buch in der Auseinandersetzung mit der Denkerin Hannah Arendt.

Für Arendt, so Knott, bedeutet Verlernen den Verzicht auf die üblichen Tätigkeiten des menschlichen Alltags, es meint den Rückzug aus der Welt des Offensichtlichen, meint Einlassen in die innere Welt der Gedanken, die für sie schlechthin die Bedingung für das Verstehen von Sinn ist: Alles Denken ist ein Nach-Sinn-Streben des Menschen, ein Bedürfnis der Vernunft. Denken wird für Arendt somit zur ausgezeichneten Möglichkeit, hinter die Erscheinungen zu dringen, sie als Schein überhaupt erst entlarven zu können. Das ist vornehmlich das Geschäft der Philosophie: In der Geistestätigkeit des Philosophen wird alles Gegenwärtige abwesend. Der Denkende ist im Vollzug seines Denkens mit sich allein ohne einsam zu sein. Denn er verkehrt mit sich wie mit einem Anderen: Denken heißt, sich selbst Gesellschaft leisten.
Das Denken ist geprägt von Reflexion und Dualität, von einem Rückbezug auf das Selbst. Heißt es bei Platon noch, Denken sei das Gespräch der Seele mit sich selbst – ‘ο εντος τής ψυχής προς διάλογος –, so sagt Arendt, Denken sei das Gespräch des Geistes mit sich selbst: Es ist ein Gespräch im Diesseits, weil ein Leben ohne Denken sinnlos bliebe.
Das Gespräch, der Dialog mit Anderen ist die Voraussetzung für das Selberdenken. Ohne das Gespräch mit dem Anderen komme ich nicht zur Sprache. Mein Zuhause ist die mit Anderen geteilte Welt. Geistige Tätigkeit wird also nur offenbar im Sich-Aussprechen. Deshalb habe der Mensch, so Arendt, auch den Drang, sich mitzuteilen. In diesem Drang sieht Arendt zugleich ein Streben nach Sinn eingelassen. Denken wird für sie zur Sinnsuche: Das Bedürfnis der Vernunft ist ein diskursives Denken, ein Rechenschaftsbericht des Denkens über das Gedachte – eben: logon didonai. Die Sprache ist Arendt Brücke über dem Abgrund zwischen mir und dem Anderen, zwischen der Welt des nicht sichtbaren Geistes und der Welt der Erscheinungen.

Im Kapitel über das Übersetzen macht Marie Luise Knott auf Arendts Sprachverständnis aufmerksam: Auch die bereits beherrschte Sprache muss verlernt werden, um ihr neuen Sinn abzugewinnen. Arendt will, so Knott einleitend, einen »neuen Pakt der Sprache mit dem Leben.« Denn schließlich sprechen wir, um zu überleben, schreiben wir, um nicht zu sterben. Sprechen und Schreiben sind existenzielle Aufgaben des Menschen. Als sprachbegabtes und schreibendes Wesen, als homo loquens und homo scriptor weiß der Mensch: Was er ist, das ist er nur durch Sprache, durch ein schier unerschöpfliches System der Zeichen, der Wörter und Symbole. Die Grenzen des Sprachsystems bilden zugleich die Grenzen seines Weltverständnisses. Wer wie Hannah Arendt, die fast zwei Jahrzehnte lang Staatenlose, diese Grenzen immer wieder überschreitet, der wird sich selbst neu erfinden, ja der wird das Land hinter sich abbrechen und Grenzen überschreiben müssen. Arendt kannte beide Arten von Grenzüberschreitungen – die territoriale und die sprachliche. Und sie wusste, dass Migration die Welt ein wenig aus dem Gleichgewicht bringt: »Zu den kulturellen Leistungen, die ein Exilant in der Fremde absolvieren muss«, schreibt Knott, »gehört das schrittweise Hineingelangen in Sprache, Kultur und Politik des neuen Landes, eine Anpassungsleistung, die nicht mit Assimilation zu verwechseln ist.« Der indische Kulturtheoretiker Homi Bhabha glaubt gar, es wären die transnationalen Räume der Migranten und der Flüchtlinge sowie ihre Vorstellungswelten, die die Wiege der europäischen Kultur bilden. Das stimmt zumindest dann, wenn Kultur die Organisation der Dinge in Bewegung ist. Genau dann bilden Flüchtlinge wie Hannah Arendt das Salz der Erde, das die ansonsten so fest am Boden klebende Kultur über den Planeten verbreitet.

Wer es auf sich nimmt, die gewohnte Sprache wieder zu verlernen und Grenzen zu überschreiten, dem fallen unzählige Bibliotheken entgegen; Bücher, deren Sprache zu verstehen eine große und ehrfürchtige Herausforderung bedeutet. Denn im Anfang jeder Grenzüberschreitung ist das Wort: Nomina ante res. Und es gilt hierbei zu bedenken, dass wir die Grenzen mitnehmen, die wir überschreiten, das heißt die Zäsur, den Schock, den Schnitt in unserer Biografie. Mit uns und in uns wandern die Grenzen selbst. Bezogen auf Hannah Arendt schreibt Marie Luise Knott: »Arendts Texte verausgaben sich nicht, sie entfalten sich mit jedem Wiederlesen. In dem Maße, in dem sich unsere Gegenwart von den ursprünglichen Zeitumständen und Denkanstößen entfernt … stellt sich heraus, dass Arendts Werk ganz andere neuartige Dinge zu sagen hat.« In ihrem Werk zeigt sich die Sprache, eine neu durchdachte Sprache, als das einzige Medium für die Tätigkeit des Geistes. Durch Sprache »zeigt« sich der Geist des Menschen.

Sich-Zeigen ist eine Form der Selbstdarstellung: Ich entscheide, was erscheinen soll und wie ich als »Jemand« erscheinen will. Ich bringe mich durch mein Erscheinen allererst zur Geltung. In der Welt sind Sein und Erscheinen dasselbe. Mein Erscheinen in Welt setzt jedoch einen Zuschauer voraus, der mich als Erscheinenden wahrnimmt. Erinnern wir uns: Pluralität ist das Gesetz der Erde.

Diesen Gedanken aus »Vita activa« aufgreifend, konstatiert sie, dass die »res cogitans«, die Sphäre des reinen Denkens, nicht erscheine, doch müssen die cogitationes, wenn sie sich in und als Sprache äußern, Hörer und Zuschauer voraussetzen: Der Mensch ist somit Wahrnehmender und Wahrgenommener zugleich, er ist erscheinend in einer erscheinenden Welt, wobei Welt das tertium comparationis des Menschseins bildet.

Das Leben des Menschen hat den Drang zur Selbstdarstellung als Reaktion auf die eigene Erscheinungshaftigkeit: Alle Lebewesen haben ihren Auftritt. Das ist der Moment, den Marie Luise Knott im letzten Kapitel ihres Buches untersucht und unter dem Stichwort der Dramatisierung analysiert.

Da der Mensch in einer erscheinenden Welt »haust«, sind Sinn und Bedeutung allem voran in dieser zu suchen. Die Sinnsuche des Denkens bezieht sich damit unweigerlich auf die erscheinende Welt als dem Aufenthaltsraum des Menschen. Nun wird nicht das, was ist, sondern das, was erscheint zum vorrangigen Forschungsproblem der Philosophin. Für sie ist das Sich-Zeigen-Wollen genuin menschlich. Das philosophische Problem hierbei: Der Schein gehört unleugbar zur Welt der Erscheinungen. Das Denken kann diesen Schein entlarven. Als Grund der Erscheinung erscheint es selber jedoch nicht, kann aber durch Sprache ans Licht gebracht werden. Das Denken kann kein reines Ding an sich bleiben, sondern zeigt sich als Gespräch in Welt, wenngleich der Akt des Denkens unsichtbar bleibt. Denn aus dem reinen Denken kann nur auf die Existenz der cogitationes selbst geschlossen werden.

Arendt unterscheidet des Weiteren mit Kant zwischen Vernunft und Verstand. Welche Eigenschaften kommen in diesem Zusammenhang dem Verstand zu, was trennt ihn von der Vernunft?

Zunächst zieht sie Thomas´ Idee eines »sensus communis« heran. Darunter versteht der Aquiner einen alle Sinne übergreifenden Sinn des Menschen. Arendt spricht vom »Kontext«, in dem uns etwas überhaupt erst erscheinen kann. Dieser Kontext sei für alle Menschen derselbe, wenn auch aus je unterschiedlicher Perspektive wahrgenommen. Sie entdeckt hier eine dreifache Gemeinsamkeit des Menschen, die sich durch Wahrnehmung, Beobachtung und Kommunikation als Kontext konstituiert. Wahrnehmung bezieht sich auf Innenweltliches, Beobachtung auf Außenweltliches, Kommunikation auf Mitweltliches. Innen-, Außen- und Mitwelt bilden das, was Arendt »Intersubjektivität« nennt. Intersubjektivität verleiht dem Gegenstand unter einer je eigenen Perspektive eine besondere Bedeutung. Diese besondere Bedeutung heißt bei ihr »Wirklichkeitsempfindung«. In diesen »Kontext« eingebettet vollziehen sich Denken und Erkenntnis, Sinnsuche und Erkenntnisstreben.

Der sensus communis oder Gemeinschaftssinn ist ein »innerer Sinn« und bezieht sich im Gegensatz zur Vernunft (als Denkvermögen) auf das Erkenntnisvermögen des Menschen. Er dient dem Verstehen der Wahrnehmungen im Gegensatz zum Begreifen der Frage nach Sinn und Bedeutung des Denkvermögens. Da die Vernunft noch bei Kant die je spezifischen Verstandesleistungen bündeln musste, so wie der Verstand die Sinne bündelte, geriet sie in Antinomien und Paralogismen, weil Erkenntnis eine Sache des Verstandes, Sinn eine Sache der Vernunft war, diese Sinnsuche aber zugleich ihre eigenen Grenzen übersteigen musste. Nur weil für Kant aus diesem Grunde auch die Wahrheit und eben nicht der Sinn das letzte Kriterium der Erkenntnis war, geriet die Vernunft in Widerstreit mit sich selbst. Damit herrschte schon im Denken des Philosophen selbst ein Widerstreit zwischen gemeinem Verstand (sensus communis) und spekulativem Denken vor. Denken und Erkennen seien nicht dasselbe, meint aus diesem Grunde Hannah Arendt. Denken manifestiere sich in aller großen Philosophie, während Erkennen Wissen vermittele, Gewusstes ansammele und ordne. Erkennen schlüge sich deshalb in erster Linie in den Wissenschaften nieder, heißt es in ihrem Buch über das Denken. Für Arendt entspricht dem Erkenntnisvorgang dann auch primär das, was in der praktischen Tätigkeit unter die Sphäre des Herstellens fällt, während Vernunftdenken auf Verstehen (Handeln) ausgerichtet ist. Um es kurz zu fassen: Dem Verstand korrespondiert das Selberdenken, der Vernunft das mit sich selbst in Übereinstimmung denken.

Arendt hat bezüglich der Sphäre des Denkens klargemacht, inwieweit wir im Denken nicht dort sind, wo wir eigentlich sind, weil das Denken die raumzeitliche Dimension des Menschen und dessen Erfahrungen gewissermaßen aufhebt. Heidegger nannte dies »Seinsvergessenheit«. Der topos noetos deckt sich damit in gewisser Weise mit dem, was schon die Griechen mit λαθε βίώσας forderten – ein Leben im Verborgenen, das nur den »Zugwind des Denkens« (Heidegger) an sich vorübereilen lässt. Demgegenüber besitzt das Wollen/der Wille — so der zweite Teil des Doppelbandes Vom Leben des Geistes — weitaus mehr Freiheiten, zumal er nicht den streng logischen Maßstäben des Denkens (Widerspruchsfreiheit etc.) unterworfen ist. Arendt fasst den Willen zunächst – mit Aristoteles – als Prüfstein einer freien Handlung, als Wissen um das Unterlassen und Tun-Können von etwas. Diese Wahlfreiheit verbürgt allererst den größeren Freiheitsraum des Wollens.
Da wir grundsätzlich frei sind zu wählen, was wir tun (liberum arbitrium) – und das selbst in scheinbar ausweglosen Situationen – nennt Arendt den Vollzug, sich für eine bestimmte Handlung zu entscheiden auch das Wagnis des Neuanfangs. Mit Augustinus: Initium ut esset creatus est homo.
Somit aber ist auch Wahlfreiheit eine geistige Tätigkeit im Sinne des Entscheidens. Arendt greift hierbei auf die aristotelische πρo‛αίρέσίς zurück, die Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten (bei Aristoteles insbesondere zwischen Vernunft und Begierde).
Anders als bei Kant, für den der Wille weder geistige Fähigkeit noch liberum arbitrium, sondern praktische Vernunft ist, wird der Mensch qua Wahlvermögen und dem Vermögen neu anzufangen selber zu einem Neuanfang. Für diesen Neuanfang antizipiert der Wille Zukünftiges, er ist das »Organ der Zukunft« – so wie andererseits das Gedächtnis das »Organ der Vergangenheit« ist. Der Wille will etwas, was noch nicht ist; er bezieht sich somit nicht auf konkrete Objekte, sondern auf Unsicheres, auf Projekte, an die er bestimmte Erwartungen heranträgt (und die von Hoffnung oder Furcht begleitet werden).

Diese Erwartungshaltung des Willens ist eine, wie Arendt behauptet, neue Errungenschaft des philosophischen Denkens. So gab es ihr zufolge in der griechischen Literatur keinen äquivalenten Begriff für das, was wir als »Wille« bezeichnen. Erst mit Kant, heißt es ferner, konnte es zu einer Gleichsetzung von Wollen und Sein (Kants »guter Wille«) kommen. Damit erst habe sich dem Menschen die Zukunft eröffnet. Von nun an sei es geradezu fatalistisch und töricht gewesen, dem eigenen Willen nichts zuzutrauen, ihn wie Eichmann einschläfern zu lassen, weil man sich dadurch auch seiner eigenen Handlungsoptionen beraubte. Mag dies eingedenk aktueller neurobiologischer Theorien altmodisch klingen, doch: So sehr der Wille als Motor des Handelns betrachtet wurde, so sehr musste nach Arendt auch klar sein, dass der Willensakt sein eigenes Ende in sich trägt, und zwar genau dann, wenn das Wollen ins Tun übergehe. Denn dort, wo eine Handlung vollzogen würde, erlösche der Wille automatisch, weil er nur prospektiv orientiert sei und dementsprechend agiere. Damit aber nichte er gewissermaßen die Gegenwart.

Die Stimmung des wollenden Ichs sei vornehmlich Ungeduld, Unruhe und Sorge. So setze nämlich der Plan des Willens ein Ich kann voraus, das keinesfalls gesichert sei. Unruhe sei mithin der Grund allen Seins; der Wille »lebe« in steter Anspannung. Das Heilmittel dieser Anspannung heißt bei Arendt: Versprechen. Denn ich kann die Sorge und Unruhe durch meine Macht, ein Versprechen zu geben, lindern, indem ich sie in Absehbares/Voraussagbares verwandle. Hier zeigt sich umso deutlicher, dass der Wille Zukunftsbezug hat. Mein Versprechen verhindert, dass meine private Welt zur Hölle wird. Das Pendant des Versprechens in Bezug auf die Vergangenheit ist das Verzeihen: »Verzeihen«, interpretiert Marie Luise Knott Hannah Arendts Begriff, »Verzeihen … kann nur derjenige, der das Unrecht erlitten hat. Außerdem braucht Verzeihen den Dialog, nämlich die geäußerte Sinnesänderung von Seiten des Unrechttuenden. Und schließlich mündet Verzeihen im »frei gehen lassen«, also darin, dem anderen die Freiheit zu seinem Neuanfang zu gewähren.«
Arendt hat in Vita activa das Verzeihen als »Heilmittel gegen Unwiderruflichkeit« ausgegeben und erklärt: »Verzeihen ist die einzige Reaktion, auf die man nicht gefaßt sein kann, die unerwartet ist, und die daher, wiewohl ein Reagieren, selber ein dem ursprünglichen Handeln ebenbürtiges Tun ist«, das in der Liebe des Menschen seinen Urgrund habe. Demgegenüber sei das »Vermögen, Versprechen zu geben und zu halten« wie eine Insel »in einem Meer der Ungewissheit. Für Arendt stand fest, dass wir vor allem wegen dieser Ungewissheit in Bezug auf unsere Zukunft, ja wegen der Ruhelosigkeit unseres Willens unseren Geist lebendig halten: Der Wille ist der eigentliche Motor des Geisteslebens. Um Zukunft zu wollen, müsse allerdings Vergangenes auch zerstört werden; wir müssten Vergangenes auch vergessen/verlernen können, um Raum für Neues zu schaffen. Heidegger und Nietzsche sprachen dieshinsichtlich von der »Verwüstung«. Nur eine Verwüstung des Althergebrachten ermögliche es, dass wir uns als die entgegenkommen, die wir sind. Das Wollen schafft den Freiraum für dieses Sich-zu-sich-selbst-Bringen (Heidegger).
Um schließlich Denken und Wollen als geistige Tätigkeiten zu vereinen, d.h. den Rückzug vom Lärm der Welt auf die innere Stimme und das Sich-selbst-zur-Geltung-Bringen des Willens miteinander in Einklang zu bringen, wollte Arendt – angelehnt an Kants dritte Kritik – einen letzten Teil ihres Werkes vorlegen. Dieser ist auf Grund ihres vorzeitigen Todes 1975 nur Fragment geblieben. In diesem Fragment, dessen Titelblatt ich eingangs zitierte, handelt sie hauptsächlich von Kants »Kritik der Urteilskraft«.
Wie grob skizziert stellte Kant als Maximen des Urteilsvermögens das Selberdenken, die erweiterte Denkungsart und die Widerspruchsfreiheit heraus. Behandelt das Denken das Allgemeine, so handeln Wollen und Urteilen vom Besonderen.
Arendt hält mit Kant fest, dass das Urteil das Besondere unter einem allgemeinen Begriff denkt. Dabei meint Urteilskraft nicht bloß den Vollzug logischer Operationen; vielmehr ist es für Arendt die Suche nach dem »stummen Sinn« und dem, was Kant »Geschmack« nannte. Im ersten Teil der Kritik der Urteilskraft ist dieser insbesondere unter ästhetischen Gesichtspunkten abgehandelt (das Schöne etc.), weniger geht es dabei um moralische und rechtliche Probleme, über die zu entscheiden allein der Vernunft vorbehalten bleibt, die der Urteilskraft als solche beiseite zu treten hat. Doch auch in Sachen des Geschmacks müssen wir uns »gleichsam anderen zu gefallen entsagen«, so dass bereits im Geschmack der reine Egoismus überwunden wird, und zwar durch Bezug auf andere Meinungen und Gefühle: Das pure Gewissen urteilt eben nicht; es vermittelt uns allenthalben ein Gefühl, was zu tun sein könnte. Dagegen müssen wir im Geschmacksurteil unseren eigenen subjektiven Standpunkt zu Gunsten des Gemeinwillens überwinden, weshalb Arendt davon spricht, Geschmack sei intersubjektiv vermittelt, wiewohl das Urteil bei Kant aus »contemplativer Lust« und »unthätigem Wohlgefallen« entsteht.

Für Arendt bedeutet Urteilen Rechenschaft ablegen über das, was man denkt; es heißt, eine Brücke zwischen Contemplation und Praxis zu schlagen und zu sagen, welche Gründe unserer Meinung zu Grunde liegen; es bedeutet eine Pflicht zur Antwort, und besagt, kritische Maßstäbe auch auf das eigene Denken anzuwenden.
Das Urteilen erfordert ein Interesse an Mitmenschen und das Vermögen, Recht und Unrecht zu trennen. Darum auch ist die Urteilskraft gewissermaßen ein Regulativ des geistigen Lebens, nicht zuletzt, weil sie als Synthese von Denken und Wollen konzipiert ist — auch wenn Arendt freilich manchmal dazu neigt, ein Urteilsvermögen nur dem zurückgezogenen Beobachter zuzusprechen.
Dennoch will sie dem contemplativen keine grundsätzliche Priorität vor dem aktiven Leben einräumen. Sowohl geistiges als praktisches Leben gehören gleichursprünglich zum Menschsein. Damit kehrt sie sich freilich von ihrem »Lehrer« Aristoteles ab, der in der Nikomachischen Ethik (X, 7) feststellte, dass das contemplative Leben in Bezug auf Autarkie und Selbstgenügsamkeit höherwertig sei. Da aber für Arendt das Dasein einen pluralen Charakter besitzt, wird das tätige Leben ebenso zentral wie das contemplative. Hierbei unterscheidet sie wie schon in der Sphäre des Geistes drei Modi des Tätigseins im aktiven Leben: Arbeit, Herstellen und Handeln.

Das Handeln ist als einzige Tätigkeit auf Pluralität angewiesen. Es ist ein Vorrecht des Menschen, denn Tiere handeln nicht, sie verhalten sich allenfalls. So heißt Handeln vor allem Frei-sein (von den Zwängen unserer Umwelt). Tragisches Kennzeichen unserer heutigen Welt aber ist gerade das uniforme und berechenbare Sich-Verhalten, das das Handeln außer Kraft setzt; es ist die totale Bürokratie und das bloße Verwalten sowie die Steigerung der Arbeitsproduktivität zu Ungunsten der Muße und des Miteinander-Handelns.
Das Handeln hat einen Anfang, ist aber endlos. Es läutet den Verstehensprozess ein, und ist aktives In-Erscheinung-Treten. Handeln erschließt sich letztlich im Miteinandersprechen. Freilich schafft das Handeln nicht nur einen Erscheinungsraum für den Menschen, es ist zugleich von Machtbeziehungen zwischen den Menschen subvertiert. Aber erst diese Machtstrukturen vermögen es, eine Gruppe von Menschen auch zusammenzuhalten. Gleichzeitig begrenzt die Pluralität die totale Ausdehnung von Macht. Erst wenn an ihre Stelle Allmacht und Gewalt treten, ist es um den Menschen schlecht bestellt.
Arbeit meint demgegenüber vorrangig das Sich-Kümmern um den biologischen Prozess des menschlichen Körpers und die Lebensnotwendigkeiten. Arbeit behandelt die Welt des Verschleißes und des Gebrauchs. Kennzeichen der Arbeit ist, dass sie nie an ein Ende kommt. In philosophisch-anthropologischer Sicht ist der Mensch als arbeitendes Wesen das animal laborans, das sich in engem Bezug zu der Welt des Verbrauchs und des Überflusses weiß. Arendt meint, das animal laborans beherrsche die Öffentlichkeit, in der es statt Vielfalt (Handeln) nur um Vervielfältigung gehe. Das aber sei die Zeit des arbeitenden Tieres.
Herstellen schließlich meint Produktion einer künstlichen Welt von Dingen. Diese Dinge sind jedoch zugleich das Zuhause des Menschen geworden – durch Schaffen einer zweiten Natur. Das Herstellen hat einen definierbaren Anfang und ein definitives Ende. Der Herstellungsprozess ist irgendwann abgeschlossen.
Der Markt ermöglicht, das Werk der Hände zur Schau zu stellen. Der Mensch gelangt dadurch zur Anerkennung des von ihm Gemachten. Der Prototyp des Herstellens ist aus philosophisch-anthropologischer Sicht der homo faber, der sich im reinen Herstellungsprozess der Welt von seiner Mitwelt isoliert, und die Welt bloß, wie eingangs erwähnt, als das Stück Stoff, das auseinandergeschnitten und wieder zusammengeflickt werden darf, betrachtet.

Dieser Sichtweise hat Hannah Arendt ihr eigenes Denken zeitlebens entgegengesetzt und zu zeigen versucht, warum es der Mühe wert ist, ein Mensch zu sein. Sie hat, wie Marie Luise Knott zu Recht konstatiert, verlernt, die gemeine Sichtweise zu ihrer eigenen zu machen: »Mit den Begriffen«, schreibt Knott weiter, »die wir uns von der Welt machen, leben wir; sie ermöglichen einem Autor den Übergang von der Erschütterung zur Beobachtung und schaffen schließlich einen Raum für das Handeln — für Schreiben und Sprechen. Wie erst die Gesetze den öffentlichen Raum, das Gehege für freies politisches Handeln garantieren, so gewährleistet das begriffliche Denken den Raum … für die Urteilskraft … Neben ihrer Arbeit am begrifflichen Fundament, mit der sie im Labyrinth der Gegenwart den Ariadnefaden spann, nutzte Arendt eine besondere, ihr naheliegende Qualität der englischen Poesie: die Fähigkeit, äußerst prosaischen Worten und idiomatischen Wendungen neues Leben einzuhauchen.«

Arendt entkleidet die Begriffe ihren Selbstverständlichkeiten. Das ist das ureigene Metier der Philosophen, das sie auf besonders eindrucksvolle Weise beherrscht hat. Hier schließt sich zugleich auch der Kreis von Arendts Denkwegen, die darum bemüht sind, die politischen Zaubersprüche zu verlernen.

Marie Luise Knott, deren Buch für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert ist, hat diese Denkwege souverän und fast spielerisch, anschaulich und ungewohnt leicht nachgezeichnet. Auch ohne die wundervollen kleinen Bildgeschichten von Nanne Meyer, Professorin für Visuelle Kommunikation in Berlin, ist »Verlernen« eine Schrift, der ich von ganzem Herzen große Anerkennung und Öffentlichkeit wünsche; mit den Zeichnungen und Sprachspielen der Illustratorin, die den Text auf humorvolle wie nachdenkliche Art widerspiegeln und weiterdenken, wird »Verlernen« ein ganz besonderes Buch, das Hannah Arendt gewiss gefallen hätte.
 

 

Hannah Arendt in New York



Marie Luise Knott
Verlernen
Denkwege bei Hannah Arendt
Mit Zeichnungen von Nanne Meyer
152 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
978-3-88221-605-9
€ 19,90 / CHF 30,50


Hannah Arendt / Gershom Scholem
Der Briefwechsel - 1939-1964
Herausgegeben von Marie Luise Knott unter Mitarbeit von David Heredia
Mit ca. 20 Abbildungen
Suhrkamp
Gebunden, 695 Seiten
39,90 €
ISBN: 978-3-633-54234-5  

Leseprobe

 


 


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