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Politische Begriffsverwirrung und Palimpsest

Volker Weiß über die neuen alten geschichtsverdrehenden Diskurse

Von Wolfgang Bock

Der Historiker und Kenner des deutschen Rechtsradikalismus Volker Weiß beschäftigt sich in seinem neuen Buch mit einem irritierenden Phänomen: der Überschreibung linker kritischer Narrative durch die rechten Bewegungen. Er geht den Windungen der Diskurse in aktuellen politischen Debatten nach. Die herrschenden Politiker machen es ihm einfach, diese rhetorischen Figuren der Synekdoche, bei der ein Teil für das Ganze steht, und der Katachrese, bei der das Verhältnis von Zeichen und Bedeutung ruiniert wird, nachzuweisen. Donald Trump reckt nach den Schüssen auf ihn wie ein Arbeiterführer oder Anhänger der Black Panther die Faust in die Höhe, Wladimir Putin spricht von der Demokratiebewegung in der Ukraine als Nazis oder G.D. Vance und Alice Weidel – letztere lesbisch und Chefin der queerfeindlichen AfD – wollen Hitler und Goebbels als Kommunisten identifizieren. Sprach- und Sinnverwirrung also allenthalben. »Zeichen müssen sich verwirren, wo sich die Dinge verwickeln.« Das schreibt Walter Benjamin in seiner ersten Sprachtheorie von 1917.[1]

Das Phänomen ist allerdings nicht neu. Bereits die völkische Rechte am Ausgang des 19. Jahrhunderts bedient sich marxistischer Elemente, um ihre reaktionären Ansprüche anzumelden. Weiß untersucht das an aktuellen Beispielen in seinem 4. Kapitel unter dem Stichwort »Klasse statt Rasse«. Der Historiker, dem die Bewahrung der wirklichen Geschichte am Herzen liegt, bringt in seinem Buch zeitgenössische Beispiele. In fünf Kapiteln handelt er über die Umdeutung des großen vaterländischen Krieges im heutigen Russland, insbesondere im Verhältnis zur Ukraine und auch über die DDR als Objekt einer neuen antikommunistischen Nostalgie. Die deutsche Rechte, die sich auch in der AfD organisiert, besitzt heute allerdings ein affirmatives Verhältnis zu Putins Russland. Dagegen versuchen die scheinbar gemäßigten Rechten und Bundeswehrlobbyisten wie Norbert Röttgen oder Roderich Kiesewetter die Formeln aus dem kalten Krieg wieder aufzuwärmen – mit großem Erfolg, wie es scheint.

Das Verdienst, die Verwirrung von Zeichen und Bedeutung sowohl im historischen als auch im ästhetischen Kontext gründlich untersucht zu haben, geht auf Walter Benjamins Arbeit Der Ursprung des deutschen Trauerspiels von 1928 zurück. Für die Barockzeit des 17. Jahrhunderts gilt, dass die traditionelle Bedeutung beispielsweise des Kaisers als Symbol für Gerechtigkeit nun offen mit dem Gegensatz Korruption und Vergewaltigung konnotiert wird. Das Verfahren ist bekannt aus William Shakespeares und Pedro Calderón de la Barca Dramen, die allerdings in Deutschland, so lautet Benjamins These, kaum ebenbürtige Nachfolger gefunden haben. Ja, die Lüge wird auch in den Zehn Geboten nicht explizit verboten. Und ebensowenig wird der Diskurs über die Wahrheit der geschichtlichen Begriffe von keiner dem Verfassungsgericht ähnlichen Instanz überwacht. Bereits das Verfassungsgericht der Bundesrepublik Deutschland war seit seiner Einsetzung dominiert von antidemokratischen Kräften in der CDU ebenso wie in der SPD. Vom langjährigen Präsidenten des Verfassungsgerichts (von 1983 bis 1996) Ernst-Wolfgang Böckenförde (1930–2019) ist immerhin der Satz übermittelt,
wonach der liberale, säkularisierte Staat von Bedingungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne.[2] Das zielt auf die Politik und die Position seines verehrten Lehrers Carl Schmitt, für den die Souveränität untrennbar mit der Ausrufung des Ausnahmezustands verbunden war. Diese »Weisheit« ist bekanntlich auch in die Notstandsgesetzgebung der Bundesrepublik eingegangen.

Schmitt war Kronjurist des Dritten Reichs und bekam nach 1945 Berufsverbot, aber sein Arm und sein Schatten reichen noch weit in die politische Landschaft der Bundesrepublik hinein. Götz Kubitschek aus Schnellroda lässt Schmitts Texte zur Bekämpfung der Demokratie aus den zwanziger Jahren aktuell ins Internet einstellen. Schmitt ist einer der intelligentesten Rechten, der von Anfang an auf diese Art von Begriffsverwirrung als gezieltes politisches Mittel gesetzt hat. Und so will auch Volker Weiß für seine These der Disruption der politischen Begriffe nicht nur Steward Hall und Judith Butler anführen. Deren dekonstruktivistische Methoden weisen in ihren Theorien des Postkolonialismus und des Genderkampfes Ähnlichkeiten mit dem Umwidmungsverfahren der neuen Rechten auf. Sondern an zentralen Stellen verweist Weiß auf den Bielefelder Historiker Reinhart Koselleck und sein Projekt der Untersuchung des sprachgeschichtlichen Wandels historische Begriffe.[4] Dabei verkennt Weiß, dass es gerade der Schmitt-Schüler Koselleck ist, der noch stärker als Böckenförde das Erbe der Schmitt’schen Rabulistik in dem Diskurs über die Geschichte in der Bundesrepublik bewahrt. Kosellecks Initiationserlebnis war es, als deutscher Frontsoldat, von den Russen in dem ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz inhaftiert worden zu sein. Bis zu seinem Tod 2006 leugnete Koselleck die Realität des NS-Lagers Auschwitz und lebte von dessen Überschreibung mit dem, was er selbst als russischer Kriegsgefangener erlebt hatte. Daraus leitet er eine Minderwertigkeit der historischen Begriffe und eine Höherwertigkeit des eigenen Erlebens ab. Koselleck ist gleichsam der moderne Urvater des Palimpsests und der Umdeutung historischer Begriffe in der Bundesrepublik. Bereits seine viel gelesene Doktorarbeit Kritik und Krise von 1954 will die Französische Revolution als Ursache der Krise der Moderne ansehen, und nicht als eine freilich aus dem Ruder laufende Reaktion auf das Ende des Feudalismus.[3] Und so ist auch Kosellecks Lexikonprojekt der Begriffsgeschichte, welches Weiß zur Unterstützung seiner These heranziehen möchte, durch und durch tingiert von dem Phänomen, das Weiß mit Recht anprangert. Hinter die Aufklärung sollte man nicht zurückfallen. Schon der Hamburger Kunsthistoriker Abby Warburg wusste, dass Athen immer wieder aus Alexandrien zurückerobert werden muss.

[1] Walter Benjamin, Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, Gesammelte Schriften Bd. II, S. 156.
[2] Ernst-Wolfgang Böckenförde, »Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation«, in: Säkularisation und Utopie. Ebracher Studien, Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag. Stuttgart: Kohlhammer 1967, S. 75–94. Vgl. vom Verfasser: Gewaltkritik. Politik, Populismus und Parlamentarismus bei Walter Benjamin, Carl Schmitt, Georges Sorel und Giorgio Agamben, Würzburg: K&N 2021, S. 49.
[3] Vgl.  https://www.glanzundelend.de/Red23/J-L/reinhart_koselleck_krise_und_kritik.htm
[4] Vgl. Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichten, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006

Artikel online seit 21.06.25
 

Volker Weiß
Das Deutsche Demokratische Reich
Wie die extreme Rechte Geschichte und Demokratie zerstört
Klett-Cotta
288 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
25,00 €
978-3-608-96667-1

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