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Die komplexe Struktur der Systemtheorie

Jürgen Nielsen Sikoras Begegnung mit
Frank Witzels »Komplexen Strukturen«
 

»Unser Denken wird ganz grundsätzlich durch gewisse, nicht genauer nachvollziehbare Voraussetzungen bestimmt, die erschweren, dass man einfach mit einem Gedanken beginnt und diesen dann entsprechend fortspinnt.« (Frank Witzel)

Anfang November ging ich mit einem emeritierten Kollegen über den wunderschönen Campus der Universität Erfurt, wohin wir mit dem Zug angereist waren. Die Tagungsräume der Villa Martin, in denen einst ein Samenzüchter sein Quartier bezogen hatte und nun die Theologische Fakultät untergebracht ist, waren noch verschlossen. Raureif lag über den Grasflächen, und die Sonne fiel in das bunte Blätterwerk der Laubbäume, die rund um die Bibliothek und den Alfred-Weber-Platz versammelt sind. Von dem gebürtigen Erfurter Soziologen, dem jüngeren Bruder Max Webers, kamen wir zu anderen Denkern der Soziologie. 
Einst, so erzählte der Kollege beiläufig, sei Niklas Luhmann sein Vorgesetzter in Bielefeld gewesen und habe verstanden, die Dinge stets zu seinen Gunsten zu organisieren. Wir kamen überein, dass Luhmanns Systemtheorie, die die Struktur der Gesellschaft unabhängig von handelnden Individuen zu beschreiben versucht, ein immer noch aktuelles und verblüffendes Projekt darstelle. Irgendwann in diesem Gespräch zwischen dem Kommunikations- und Informationszentrum und der Nordhäuser Straße fiel dann der Begriff »Komplexe Strukturen«.

Unter Komplexität verstand Luhmann »die Gesamtheit der Möglichkeiten des Erlebens und Handelns.« Doch die Komplexität ist unüberschaubar und lässt den Menschen zum Brotgelehrten im Sinne Schillers werden: Es gibt stets mehr Möglichkeiten, als aktualisiert werden können. Komplexität bedeute deshalb: Selektionszwang. Strukturen hingegen sind zwischen Akteuren vermittelnde Kräfte und Beziehungen. Sie beeinflussen sich wiederholende Handlungsmuster.
Es gab in der Geistesgeschichte etliche Denkströmungen, die sich der Erforschung von Strukturen gewidmet und darum bemüht haben, einen logischen Primat des Ganzen gegenüber den Teilen sowie einen immanenten Bezugsrahmen von Phänomenen als Struktur nachzuweisen, bis schließlich die Poststrukturalisten alle Texte als Zitate früherer Arbeiten gelesen haben und die Diskurse auf eigentümliche Weise für einige Zeit beendeten.

Ich läse gerade, so lenkte ich von unserem Diskurs ab, ein Buch, das eben jenen Titel trüge: »Komplexe Strukturen«. Es sei jedoch kein Buch, das auf irgendeine Weise mit der Systemtheorie zu tun habe, sondern ein literarischer Text des Schriftstellers Frank Witzel.
Ehrlich gesagt hoffte ich, dass das stimmte, denn ich hatte noch nicht mit der Lektüre begonnen, da der Zeitplan der Erfurter Tagung mir bis dato noch keine Gelegenheit bot, hineinzuschauen und ich abends zu müde war, um im Hotelzimmer abermals ein Buch aufzuschlagen. Aber ich trug es im Rucksack mit mir herum und machte mir Gedanken, was wohl der Inhalt des Buches sein könnte, dessen Titel mich doch so sehr an Luhmann erinnerte.
Erst, als ich zurück in Köln war und mich einige Tage später eine heftige Erkältung erwischte, bot sich am Morgen des 12. November die Gelegenheit, mit der Lektüre der 80 kurzen Kapitel zu beginnen.

Allerdings kam ich zunächst nicht weit. Denn nicht allzu lange, nachdem ich zu lesen angefangen und mich lediglich bis zu der Stelle vorgearbeitet hatte, in der es um die komplexe Struktur der Universalgeschichte geht, rief mich der ältere Kollege, mit dem ich in Erfurt über den Campus spaziert war, ganz aufgeregt an. Mir ging in diesem Moment noch durch den Kopf, dass man nach Schiller, der sich am Ende des 18. Jahrhunderts ebenfalls mehrmals in Erfurt aufhielt, Universalgeschichte studiere, um wahre Unsterblichkeit bei dem Versuch zu erlangen, »das Problem der Weltordnung aufzulösen und dem höchsten Geist in seiner schönsten Wirkung zu begegnen« –und nun las ich bei Witzel, Universalgeschichte müsse zeigen, wie Unruhe in die Welt kommt und ob sie mit dem Bösen gleichzusetzen sei.

Da brach es aus dem Kollegen auch schon hervor: Er sei vergangene Nacht im Traum mit dem ICE Niklas Luhmann (400 Meter lang, 759 Sitzplätze, 13.000 PS) durch unbekanntes Terrain gereist, die Abteile menschenleer. Die Räder der Waggons hätten wie die Hiebe einer Ochsenpeitsche auf nackter Haut geknallt. Angeschwitzt und zittrig habe er auf einem für überteuertes Geld reservierten Platz gesessen. Und eigenartige Wesen seien durch sein Abteil geschwirrt. Als er an einem ihm unbekannten Ort ausgestiegen sei, habe er noch immer keine Menschenseele erblicken können, nur eine Zahlenfolge: 16051000. Und diese sonderbaren Gestalten seien hinter ihm hergelaufen, berichtete er ein wenig außer Atem. Er habe eine Zeitlang gebraucht, um festzustellen, dass es sich hierbei bloß um all jene Worte handelte, die er gesprochen, sämtliche Sätze, die er je geschrieben hatte. Sie hätten ihn verfolgt wie einst die Erinnyen den bemitleidenswerten Orest. Daraufhin habe er schreckliche Angst, ja Panik bekommen und lautstark um Hilfe gerufen. Doch mit jedem Laut, den er von sich gegeben habe, sei auch die Anzahl der Verfolger gewachsen. Also habe er notgedrungen geschwiegen. Mit einem Mal jedoch seien auch all seine Gedanken, die je durch seinen Kopf gegangen sind, hinzugekommen. Im Verbund seien sie über ihn hergefallen: die Worte, die Sätze, die Gedanken – und hätten genüsslich an ihm zu fressen begonnen. Sein Fleisch, seine Knochen, sein Blut: Bloß noch Futter für das Echo der Sprache. Kurz bevor es im Traum mit ihm zu Ende gegangen sei, habe er den Namen des übergroßen Bahnwärters dunkel entziffern können: »Witzel«.

Zugegeben hat mich die Offenheit des Kollegen – ein Ökonom mit philosophischem Einschlag – überrascht, da wir doch sonst nur theoretisieren. Es kostete mich einige Minuten, ihn wieder zu beruhigen. Aber ich bin kein Therapeut und wusste nicht, wie der Traum zu deuten war. Ich fand ihn seltsam, zumal wir nur kurz über »Komplexe Strukturen« sprachen. »Vielleicht«, gab ich dem Kollegen zu verstehen, »vielleicht sind Träume ja so etwas wie die Null-Serie der Theorieproduktion und besitzen ganz eigene komplexe Strukturen.« Kaum hatte ich das gesagt, fand ich es albern und schämte mich für meine Aussage.

Nach dem Telefonat stellte ich das Radio an, um mich abzulenken. Jemand sprach: »… ein skurriles Ereignis bedingt das nächste, ein Handlungssprung leitet über zum anderen … Anekdoten finden sich neben Kurzprosa, sachlichen Berichten, Skizzen oder halbwegs durchgearbeiteten Erzählungen … eine philosophiegesättigte Prosa. Sie lotet die Bedingungen der menschlichen Existenz aus und befasst sich multiperspektivisch mit dem, was wir für unsere Wirklichkeit halten …«
Ich ging in die Küche, wo das Buch lag, brühte einen starken Kaffee auf und las schließlich doch weiter, wenn auch mit einer gewissen Hypervigilanz, die der Traum des Kollegen in mir ausgelöst hatte: »Ich kam mir vor wie eines dieser kleinen Pferdchen, die selbstbewusst auf ihrem korkengroßen Podest stehen und sich den Marionettenpferden, die an sichtbaren Fäden vorübergeführt werden, überlegen fühlen, weil sie nicht ahnen, dass ein Druck des Daumens gegen die Unterseite ihres Sockels die Spannung ihrer Sehnen lösen und ihren Körper in sich zusammensacken lassen würde, wie bei einem Menschen, den nach der Gedankenkraft unmittelbar die Kraft des Willens verlässt.«

Ich muss mich dann aber doch sehr in das Buch vertieft und den Zustand erhöhter Wachsamkeit irgendwann abgelegt haben, denn ich hatte jegliches Gefühl für die Zeit verloren. Auch bemerkte ich gar nicht, was um mich herum geschah. Als ich nach langer Zeit wieder den Kopf hob und mich umsah, bemerkte ich, dass ich längst nicht mehr allein im Raum war. Der Schriftsteller Yurivenko hatte sich ebenso zu mir gesellt wie der Regisseur Martin Giebert. Neben ihnen saßen der Historiker Prof. Mohlenbrink und der Philosoph Ronald Mantzberger.
In meiner Küche gibt es eine Tür zum Garten. Dort standen der Psychoanalytiker Martin Sádek und die Schauspielerin Olga Pelsius. Der Medientheoretiker Luc Malbont befand sich hinter mir und sprach mit dem Kollegen, der mich vorhin angerufen hatte. Alles wirkte wie auf den Hauspartys, bei denen sich die Gäste stets in der Küche zusammenfinden.

Später klingelte es an der Haustür. Es war Witzel. Sein Zustand hatte beängstigende Formen angenommen, so dass man ihn, wie er berichtete, vor einiger Zeit an einer befahrenen Straße ausgesetzt hatte, von der aus er eine längere Strecke zu Fuß bis zu meinem Haus gelaufen war. »Wahrscheinlich«, keuchte er, »geht es überhaupt darum, Gegensätzliches gleichzeitig denken zu wollen, genau das aber nicht zu können. Tatsächlich gleichzeitig und nicht in einer schnellen, fast unmerklichen Abfolge.«

Ich verstand nicht ganz, schlug das noch offene Buch endgültig zu und spürte einen starken Schwindel, »ganz so, als hätte irgendwo eine Struktur wenigstens für einen kurzen Moment einen winzigen Riss bekommen.«


Artikel online seit 12.11.25
 






Frank Witzel
Komplexe Strukturen
Matthes & seitz, Berlin
362 Seiten
26,00 €
978-3-7518-1033-3

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