Der Judaist Peter Schäfer, Jahrgang 1943, ist Spezialist für das
mittelalterliche Judentum. Von 2014 bis 2019 war er ein erster nichtjüdischer
Direktor des Jüdischen Museums in Berlin. Er legt in dem kleinen Band bei
Vittorio Klostermann nun eine vielschichtige Interpretation vor, die es durchaus
in sich hat und eine Antwort auf verschiedene Fragen darstellt. Das bescheiden
daherkommende Büchlein enthält nach einer kurzen Einleitung die beiden längeren
Essays „Die Golem-Legende in ihrer geschichtlichen Entfaltung“ und „Das Gedicht:
Einem, der vor der Tür stand“ von Paul Celan. Beide Texte sind durch
Binnenverschränkungen, die anscheinend auch den Interpreten mit einbeziehen,
miteinander verknüpft. Schäfer ist Philologe, er bewahrt sich dabei einen
lebendigen Stil und eine aktuelle Kommentierung. Das verbindende Thema ist also
die Gerechtigkeit.
In dem ersten Essay geht es um die Geschichte der jüdischen Legende vom
künstlichen Menschen, dem Golem. Schäfer stützt sich hier hauptsächlich auf die
einschlägige Motivgeschichte von Gershom Scholems „Die Vorstellung vom Golem in
ihren theologischen und magischen Beziehungen“ von 1953 und Moshe Idels
notorische Kritik daran von 1990.
Er verfolgt die in jüdischen Legenden festgehaltenen Versuche verschiedener
Rabbiner, mithilfe kabbalistischer Magie einen künstlichen Menschen zu
erschaffen. Schäfers Argumentation beginnt mit dem Babylonischen Talmud, führt
über das Sefer Jersira aus dem 4. Jahrhundert und mündet zunächst im
Mittelalter des Buches Sohar und der Texte von Abraham Abulafia aus dem
12. und 13. Jahrhundert in Spanien. Von dort aus geht er weiter durch die
jüdischen Legenden der Renaissance und des frühen Barocks. Die Geschichte
wandert Ende des 17. und im frühen 18. Jahrhundert auch in die deutsche
Literatur ein, sie erscheint unter anderem in Grimms Wörterbuch und in den
Sagenbänden. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird daraus endlich die
bekannte mit dem Prager Rabbi Löw und seiner Altneuschul verbundene Version der
Legende. Diese macht weitere 100 Jahre später im deutschen Expressionismus –
unter anderem 1915 in Gustav Meyrinks Roman Der Golem und 1920 in dem
Film von Paul Wegener Der Golem. Wie er in die Welt kam – Furore. Schäfer
führt, gründlich wie er ist, anschließend weitere Adaptionen des Motivs in der
Literatur auf, unter anderem bei Jorge Luis Borges oder Harry Mulisch. Er
erwähnt auch Opern und selbst entsprechende Adaptionen in der TV-Serie X
-Files.
Diese motivgeschichtliche Untersuchung folgt im wesentlichen Scholem und dessen
einschlägigen Werken zur Geschichte der Kabbala. Sie ist aber auch verwandt mit
ähnlichen Versuchen von Hans Blumenberg oder von Erwin Panofsky, beispielsweise
zum Lachen der Thrakerin oder der Büchse der Pandora.
Wie andere Pathosformeln auch, wandelt sich die Bedeutung der zentralen Elemente
der zauberjüdischen Legende. Geht es zunächst um blasphemische Motive innerhalb
des Judentums, künstliches Leben zu erzeugen und damit die Einzigartigkeit
Gottes infrage zu stellen, so rückt bald die zerstörerische Kraft des Golems in
den Mittelpunkt. Das Wesen wird aus Erde hergestellt und bekommt das Tetragramm
des Gottesnamens an die Stirne geschrieben oder in den Körper eingelegt. Das
bringt es in Bewegung, stoppt den Unhold aber zugleich bei der Auslöschung des
ersten Buchstabens. Die Vergesslichkeit seines Schöpfers führt dazu, dass der
ansonsten ihm Dienende nun zunächst innerhalb der jüdischen Gemeinde
Zerstörungen anrichtet. Schäfer erwähnt hier ganz richtig die ursprüngliche
Verbindung mit Goethes Gedicht vom Zauberlehrling, wo der alleingelassene Besen
eine Überschwemmung auslöst. Im Zusammenhang mit dem Prager Rabbi Löw, der
historisch wohl eher ein aufgeklärter Rabbiner als ein Zauberjude war, entsteht
dann aber eine weitere Version von einem Golem. Diese reagiert auf die Pogrome
an den Juden im Russland und Polen im 19. und frühen 20. Jahrhundert in Odessa
1821, 1881 oder in Kischinew 1903. Hier wird die Figur zu einem Rächer, welcher
in Umkehrung der Wirklichkeit in der Phantasie von einem wehrhaften Messias die
Feinde der Juden erschlägt, bis auch er aufgehalten wird. Augenscheinlich gehört
das ebenfalls in die Sparte der Erfindung des Comic-Helden Supermann 1938
von Jerry Siegel und Joe Shuster oder auch der Marvel-Helden wie den Rächern.
Diese treiben bis heute ihr Wesen oder Unwesen in der Kulturindustrie. Das
erwähnt Schäfer nicht, was man ihm nachsehen kann. Seine entsprechenden
aktuellen Bemerkungen könnten allerdings den Haupttext in einem Katalog zu einer
Ausstellung über die Entwicklung der Golem-Legende stellen.
Der zweite Essay in dem schmalen Band versucht sich dann vor diesem Hintergrund
einer Gerechtigkeitsvorstellung einer Interpretation des enigmatischen Gedichts
„Einem, der vor der Tür stand“ aus Paul Celans Sammlung Die Niemandsrose
vom Oktober 1963. Auch dieser Text ist vielfältig untersucht worden. Der
gründliche Philologe Schuster führt die wichtigsten Versuche auf, darunter eine
prominente Auslegung des Göttinger Germanisten Albrecht Schöne.
Anders als Schöne, der bei Celan eine pantheologische Version ausmachen will,
die Judentum und Christentum miteinander versöhnt, ist es Schäfers Anliegen zu
zeigen, dass solche christlichen Motive in Celans jüdischen Hintergrund keine
Rolle spielen. Er versucht seinerseits eine Auslegung aus einem jüdischen
Kontext heraus. Das mag insofern interessant sein, als Schäfer selber kein Jude
ist, sondern Katholik und man den Ansatz seiner Geschichte des aschkenasischen
Judentums vorwirft, zu sehr eine Versöhnungsperspektive einzunehmen und die
stattgehabten Pogrome zu verharmlosen. Hier sehen wir also den umgekehrten
Versuch einer Verteidigung.
Celan geht es wohl auch um eine Verteidigung. In seinem Gedicht spielt
anscheinend die sogenannte „Goll-Affäre“ eine zentrale Rolle. Claire Goll, die
Witwe des jüdisch-französischen Dichters Ivan Goll (1891–1950), beschuldigte
1960 Celan, Stil und Motive der Gedichte ihres verstorbenen Mannes nachgeahmt zu
haben. Celan hatte Anfang der Fünfzigerjahre drei Gedichtsammlungen des Freundes
aus dem Französischen übertragen. Die Vorwürfe erwiesen sich als haltlos, sie
setzten dem labilen Celan aber sehr zu; einige Interpreten wie Stéphane Mosès
sehen sie letztlich für seinen Freitod 1970 zumindest mitverantwortlich. Schäfer
interpretiert Celans Gedicht vor dem Hintergrund einer Verteidigung gegen Claire
Golls Vorwürfe. Für seine Lesart greift Schäfer auf eine frühere Fassung von
Celans Gedicht zurück. Im Mittelpunkt steht für ihn der dort wörtlich erwähnte
Rabbi Löw, der der Legende nach den außer Kontrolle geratenen Golem schafft und
wieder einfängt. Von diesem wird bei Celan gesagt, dass er seine Pseudoschöpfung
zurücknehmen und die wirklichen Verhältnisse wiederherstellen soll. Im
Hintergrund spielt hier eine Rolle, dass Claire Golls Vorwürfe im Zusammenhang
mit einer antisemitischen Zeitungskampagne um den Bremer NS-Schriftsteller Rolf
Schroers gegen Celan standen. Diese biografische Spur der ersten erscheint in
der Endfassung des Gedichtes nicht mehr. Dennoch sieht Schäfer in der
Golem-Figur, die bei Celan wohl als germanischer Wechselbalg „Kiehlkopf“
auftaucht, eine pervertierte Form des künstlichen Menschen, die er mit dem
NS-Regime identifiziert. Diese aus dem Ruder gelaufene Schöpfungsmonstren solle
nun Rabbi Löw ebenso wie seinen eigenen Golem wieder zurücknehmen.
Damit macht Schäfer die Schutzfunktion des Golems als Rächer der Juden gegen die
Antisemiten stark. Zugleich beharrt er auf der Ursprungsfigur, wonach auch das
Böse des Faschismus eine Folge von aus dem Ruder gelaufenen jüdischen Kräften
darstellt. In einer Art lyrischer Selbstbesinnung verbindet Celan damit den
Kampf gegen die ihn verleumden wollenden äußeren Kräfte, die aber auch mit dem
Innern des Judentums selbst verbunden sind. Das ist eine komplizierte
rhetorische Gestalt, die unter anderem auf der deuteronomistischen Deutung des
Judentums aufbaut, die mit der Versklavung der Juden in Babylon zu tun hat.
Diese Verbindung wurde so interpretiert, dass sie nicht durch einen fremden
bösen Gott geschah, sondern dass es sich um eine Strafe und Aufgabe zugleich für
die Juden handelte, die selbst die Gründe dafür geliefert hätten. Daraus erwuchs
die religionsphilosophisch wichtige Figur der Selbstverantwortung für das äußere
Schicksal, die zwischen Buße und Größenwahn pendelt: Vernichtung und
Auserwählt-Sein fallen hier fast ununterscheidbar zusammen. Dieses Motiv
durchzieht die Geschichte von Juden und Christen bis heute.
Schäfer nimmt in seinem Essay damit die Golem-Legende zum Anlass, um im
Rückgriff auf Scholems Auslegung der Kabbala auf den ursprünglichen und den
fehlgeleiteten Schöpfungsprozess der Welt überhaupt zurückzugreifen. Damit
bewegt er sich im Kontext dessen, was Scholem und Walter Benjamin in ihrer
Auseinandersetzung über das Wesen der Sprache umtreibt. Scholem hatte 1935 den
Beginn des Ersten Buches Mose in der Fassung des Sohar ins Deutsche
übersetzt – einen Text, den Celan gekannt haben dürfte.
Bei Walter Benjamin firmiert der Vorgang unter der Idee der Apokatastasis, also
eines zweiten Wurfs der Welt als Rückgängigmachung einer Fehlentwicklung. Das
Motiv greift auch auf die Lurianische Kabbala zurück, die Schäfer ebenfalls
erwähnt.
So
viel zu dem, wie eingangs angedeutet, vielschichtigen Hintergrund dieser
zunächst so unschuldig daherkommenden Gedichtinterpretation. Nicht unmöglich,
dass nun bei Schäfer auch die eigene Verteidigung gegen entsprechende Vorwürfe
hinzutritt, der jüdischen Sache nicht richtig gedient zu haben. Schäfer hatte
nach einigen Auseinandersetzungen den Direktorposten des Jüdischen Museums, den
er von 2014 bis 2019 innehatte, niedergelegt. Ihm war vorgeworfen worden, in der
Antisemitismusdebatte und anlässlich einer Ausstellung über Jerusalem zu sehr
eine christliche und palästinensische Position in den Blick genommen zu haben.
Damit kann man die vorliegende Studie, die nun jüdische Motive in der
Interpretation des Gedichtes von Celan gegen christliche – wie beispielsweise
bei Albrecht Schöne – aufführt, durchaus auch als Schäfers eigene Verteidigung
gegen ungerechtfertigte Vorwürfe lesen. Ob diese Vorwürfe stimmen oder nicht,
kann der Rezensent nicht überprüfen. Er befand sich, als diese Dinge sich
ereigneten, außer Landes. Er kann nur sehen, wie der Autor sich bemüht, die
Intention des Rabbi Löw und die von Paul Celan mit denen des Philologen
zumindest eng zu führen. Das aber bleibt Spekulation, denn ein Philologe sagt ja
nicht ich, sondern nimmt sich zugunsten der Sache zurück. Was er dennoch damit
zu tun hat, obliegt bei Goethe dem Verhältnis von Wahrheit und Dichtung, bei
Benjamin der vermittelnden Kritik von Wahrheitswert und Sachgehalt.
Augenscheinlich geht es, wenn der Messias im Spiel ist, immer um Gerechtigkeit,
auch um persönliche. Wie es sich also damit verhält, sollte jede Leserin und
jeder Leser dieses gelehrten Büchleins selbst überprüfen. Die Wahrheit wird
zwischen den Zeilen der 99 talmudischen Interpretationsmöglichkeiten jeder
Textstelle verborgen sein. Wie heißt es bei Walter Benjamin: „Methode ist
Umweg.“ Sehr wohl, Umweg aber wofür? Die Frage gilt auch für dieses Büchlein.
Artikel online seit 13.02.25
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Peter Schäfer
Paul Celans
Golem
Eine Interpretation des Gedichts »Einem,
der vor der Tür stand«
Klostermann Essay 112025 132 Seiten. Kt
21,80 €
978-3-465-04669-1
Leseprobe & Infos
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