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Von »Engeln auf Krücken«

Die neun Erzählungen in Ralf Rothmanns »Museum der Einsamkeit« werden
getragen vom Respekt des Autors seinen erzählten Figuren gegenüber.

Von Sigrid Lüdke-Haertel
 

Er gehört zu den großen deutschen Erzählern der Gegenwart. Sein Vater war Bergmann, er selbst hat Maurer gelernt und in den verschiedensten Berufen gearbeitet. Er kennt die Welt. Seine Bücher, die frühen Romane über die Kriegs- und Nachkriegsjahre, seine Geschichten vom Ruhrpott, von Berliner Großküchen, oder jetzt die neuen Erzählungen mit ihrem etwas pathetischen Titel, sind immer erfahrungsgesättigt, in genauen Bildern beschrieben, teils ergreifend, immer packend.

In seiner ersten Erzählung »Normschrift« geht es um einen Maurerlehrling im Ruhrgebiet der 60er Jahre. Ein Milieu, in dem sich Rothmann, wie gesagt, bestens auskennt. Ein paar Wochen im Jahr arbeiten die zukünftigen Betonbauer, Zimmerer und Schlosser auf einer Schulbaustelle. Diese Zeit ist für die meisten eine Erholung: »es gab keinen Akkord, keine Überstunden und keine brüllenden Poliere«. Der sensible Ich-Erzähler, der sogar liest und eine besonders saubere Handschrift hat, versucht sich gegen die teilweise brutalen und ungehobelten Schlägertypen durchzusetzen und schafft das teilweise auf seine besondere Art.

Eine chinesische Handpuppe »Herr Dingens« genannt, gibt einem todkranken achtjährigen Mädchen Halt, indem sie ihm ihre Ängste, ihre Einsamkeit, ihr Leiden mitteilt. Ihr Vater, ein Pfarrer, ist wenig hilfreich. Täglich besucht er sie, kann aber seine Hilflosigkeit und Verzweiflung nur dadurch verstecken, indem er »blöde Witze« erzählt, was die Kleine natürlich durchschaut.

In der Geschichte »Budenzauber« muss ein sechsjähriger Junge auf seinen zweijährigen Bruder aufpassen. Die Eltern gehen tanzen aufs »Revierfest«. Eigentlich mag Tim den kleinen Flori nicht, denn er darf alles bei der Mutter: »Sogar wenn Flori den verhassten Spinat an die Küchenwand schmierte oder ihren vollen Aschenbecher von der Sofalehne stieß, wurde Tim angeherrscht und gar geohrfeigt, weil er nicht achtgegeben hatte auf ihn.« Natürlich wird Flori nachts wach, schreit jämmerlich nach der Mama, lässt sich durch nichts beruhigen, auch durch keine tröstenden Worte: »Die Nacht ist gleich vorbei, bald kommt die Mama. Sie ist nur tanzen, verstehst du?« Natürlich versteht der zweijährige nicht, der große Bruder legt sich schließlich zu ihm ins Gitterbett und beide schlafen sie irgendwann ein, »so nah beieinander, wie sonst nie, wobei der Ältere dem Kleinen eine Hand auf den Rücken gelegt hatte«.

Es sind sehr unterschiedliche Geschichten. Nüchtern, ja sachlich beschreibt er die Schicksale. Randfiguren der Gesellschaft. Doch egal wie tief sie auch gesunken sind, allen gilt die Sympathie ihres Erzählers.

Willi, ein »hagerer, fast kahlköpfiger Hilfsarbeiter, Ende fünfzig«, soll auf eine andere Baustelle versetzt werden, sein Vorgesetzter versucht ihm das schmackhaft zu machen: »Das ist eine gemütliche Innenbaustelle, da kannst du Wind und Wetter vergessen. Außerdem haben die keinen Akkord; du stemmst und spachtelst ein bisschen und hast immer pünktlich Feierabend.« Für Willi ist das eine Degradierung, man nimmt ihm seine Würde, dagegen versucht er sich zu wehren. Der Bauleiter bleibt hart: »seit der Sache mit deiner Hüfte, lass uns ehrlich sein, bist du nicht mehr so belastbar wie früher«. Auf seinem Heimweg, einem Tag vor Weihnachten, erinnert er sich an Elfriede, alkoholabhängig, im Leben hat sie immer das Falsche gemacht. Sie freut sich über seinen überraschenden Besuch in der heruntergekommenen Wohnung und während sie sich gegenseitig Halt geben und weil morgen Weihnachten ist, »schaltete sie die Lichter an dem Baum auf ihrem Couchtisch an, das bunte Blinken, das den Kunstschnee auf den Zweigen färbte«.

Ben und Johannes, beide 1959 im Ruhrgebiet eingeschult, kamen aus sehr unterschiedlichen Familien. Ben war ein typisches Arbeiterkind, Johannes dagegen spielte Klavier und Orgel. Dieser »Streber« hatte einen schweren Stand in der Klasse. Bei einer Prügelei ist es ausgerechnet der viel kleinere und schwächere Ben, der bei Johannes einen harten Treffer landet. »Es war der entgeisterte Blick dessen, der im Gegensatz zu ihm wohl noch nie im Leben geschlagen worden war, jedenfalls nicht ins Gesicht, nicht bis aufs Blut und der in seiner Arglosigkeit … nicht für möglich gehalten hatte, dass ihm so etwas je widerfahren könnte. Und dieser Blick zerriss ihm das Herz.« Fünf Jahrzehnte lies das Ben keine Ruhe und da er jetzt in einem Alter war, »in dem man anfängt, sein Leben zu bilanzieren«, nimmt er mit ihm Kontakt auf, besucht ihn. Auch hier eine unvorhergesehene Wendung und ein fast bizarres Ende.

Rothmann fragt nach der Würde seiner Figuren. Er interessiert sich für ihr Schicksal. Fragt sich, wie geht man um mit Einsamkeit, Hilflosigkeit und Ängsten. Er lässt sie seine Sympathie spüren. Das macht diese Geschichten so ergreifend, so lesenswert.


Artikel online seit 18.08.25

Wir danken Strandgut - Das Kulturmagazin für Frankfurt & Rhein-Main
 

Ralf Rothmann
Museum der Einsamkeit
Erzählungen
Suhrkamp
268 Seiten
25 ,00 €
978-3-518-43230-3

Leseprobe & Infos

 


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