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»Komm!
ins Offene, Freund!«
(Friedrich Hölderlin) Die Erfindung einer gemeinsamen Welt Bernhard Pörksens Plädoyer, sich der Welt zu öffnen. Von Jürgen Nielsen-Sikora |
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I Literarisches Auditorium In der Literatur wimmelt es von Figuren, die aufmerksame Zuhörer sind. Allen voran ist Michael Endes »Momo« zu nennen. Gleich zu Beginn der Geschichte über das mutige Mädchen mit der Blume in der Hand und einer Schildkröte unter dem Arm, heißt es: »Was die kleine Momo konnte wie kein anderer, das war: Zuhören.« In ihrer Gegenwart fühlen sich die Menschen verstanden und wertgeschätzt. Momo hört nicht nur mit den Ohren, sondern auch mit dem Herzen zu. Sie zeigt, wie wichtig Empathie, Geduld und Beziehungen in einer hektischen und oft lieblosen Welt sind. Ihr Zuhören heilt und verbindet. Aufmerksames Zuhören hilft, Missverständnissen vorzubeugen und Vorurteile zu entlarven. Das sehen wir etwa in Harper Lees Figur des Atticus Finch. Wer zuhört, muss zudem geduldig sein – so wie Arthur Conan Doyles Figur des Dr. Watson, der nicht nur ein verständnisvoller Zuhörer und der Chronist von Sherlock Holmes Abenteuern ist, sondern durch seine wachsame Präsenz dem Freund dabei hilft, selbst die schwierigsten Fälle zu lösen. Wer zuhört, zeigt Mitgefühl und Stärke. Das wiederum beweist Antoine de Saint-Exupérys Figur des kleinen Prinzen: Während seiner zahlreichen Reisen ist er stets ein sehr aufmerksamer und einfühlsamer Zuhörer, obwohl er selbst auch viele Fragen stellt. Wer zuhört, versteht die Welt auch besser. Das weiß Hermann Hesses »Siddhartha«, der den tausend Stimmen des Flusses lauscht, sich ganz ins Zuhören vertieft und am Ende erkennt, was es heißt, weise zu sein. Zuhörerschaft formt, so lässt sich resümieren, die Strukturen zwischenmenschlicher Beziehungen. Sie schafft etwas, was in der Soziologie als »Resonanz« bezeichnet worden ist: Eine auf Verständnis und Verständigung zielende Beziehung zur Welt, in der man achtsam mit sich und den anderen umgeht.
II Zuhörerschaft in der Realität Die Realität sieht leider oft ganz anders aus. Denn den zwischenmenschlichen Alltag der Gegenwart prägt etwas, das Philosophen schon vor langer Zeit als »Gerede« gebrandmarkt haben: Ein eher unüberlegtes Sich-Äußern, das von der Aufgabe echten Verstehens entbindet. In Zeiten von Instagram, X und Facebook schwillt dieser Bocksgesang nur weiter an: Wenn alle zum Sender ihrer eigenen Befindlichkeiten werden, ist am Ende niemand mehr da, der zuhört, weil die durch die digitalen Medien aufkommende publizistische Macht des Publikums wie ein ohrenbetäubender Donnerhall wirkliches Zuhören verunmöglicht. Echte Zuhörerschaft wird dann mehr und mehr zu einer Kunst, zu einem reinen Privileg des Weisen – einer Kunst desjenigen nämlich, der mehr als nur die eigene Wahrheit kennt und dem Gegenüber auch in einer lärmenden, von Spektakel und Polarisierung gekennzeichneten Welt noch Gehör schenkt. In der Geschichte des Denkens war Sokrates ein Weiser dieser Art – jemand, der seinen Dialogpartnern geduldig Aufmerksamkeit schenkte und sie beim Wort nahm. Die Kunst, ein Gespräch zu führen, in dem es nicht bloß darum geht, lauter als das Gegenüber zu sein, das heißt, sich auch hintanstellen zu können, ist aus der Mode gekommen, wenn nicht gar in Vergessenheit geraten. Wer die Muße aufbringt, sich ein Interview von Günter Gaus oder Alexander Kluge anzuschauen, wird mit Schrecken feststellen, wie sehr uns diese Art des Zuhörenkönnens heute abhandengekommen ist – auch dort, wo wir im Grunde zum Zuhören verdammt sind: Zum Beispiel auf Spotify, wo man jedoch selten etwas zu Ende hört, weil so viele andere Songs, Podcasts und Playlists schon warten. Es gibt freilich noch die professionellen Zuhörer: Die Therapeuten, Seelsorger und Beichtstuhl-Priester, die Richter – und natürlich Jürgen Domian. Ihre Zuhörerschaft aber bezeugt, dass bereits etwas im Argen liegt. Wer auf ihre Ohren angewiesen ist, weiß, dass ihnen zuvor niemand zugehört hat oder ihre Lage mit einem Male so existenziell bedrohlich ist, dass es keinen anderen Ausweg zu geben scheint, als sich dem fremden Ohr zu offenbaren. Und es gibt jene, von Natur aus leidenschaftlichen, Zuhörer – Kinder genannt. Wer sie lässt, spürt, wie sie geduldig und oft über Stunden jenen Geschichten lauschen, die man ihnen vorliest. Lesen selbst ist schließlich auch eine Form des Zuhörens: Wer liest, hört dem Autor zu, der uns seine Geschichte erzählt. Doch statt der Bücher, die die Fantasie anregen, greifen immer mehr Menschen auf Streamingdienste und soziale Medien zurück. Diese zerpflücken Kontexte, lenken uns ab und setzen auf teilnahmslosen Konsum. Lesen fügt die Fragmente wieder zusammen.
III Kleine Philosophie des Zuhörens
Bernhard Pörksen möchte diese kindliche Leidenschaft in neuem Glanz erstrahlen lassen und entwirft eine kleine Philosophie des Zuhörens. Die Kunst, sich der Welt zu öffnen (so der Untertitel) fragt: »Wie manövriert man sich selbst und andere in Richtung einer neuen Offenheit, die ein anderes Verstehen, ein tieferes, empathischeres Zuhören erlaubt?«. Ihn treibt hierbei nicht allein die Frage um, was die Überhitzung von Debatten befördert, sondern ebenso, was es heißt, sich der Perspektive des anderen mit allen Risiken für das eigene Leben zu nähern. Pörksen wird in diesem Buch selbst zum geduldigen Zuhörer, der das Kommunikationsschicksal seiner Gesprächspartner über lange Zeiträume begleitet und verstehen will, wie ein wirklicher Dialog gelingen kann. Eine der wichtigsten Voraussetzungen ist die Fähigkeit, empathisch zu sein und die Perspektive wechseln zu können. Echtes Zuhören und gerechte Urteile, so eine der zentralen Botschaften des Buches, sind aber auch nur möglich durch Kontexte, konkrete Betrachtungen und die Analyse besonderer Situationen. Aus diesem Grunde arbeitet Pörksen mit Fallstudien. Sie zeigen, wie Zuhörerschaft entsteht und sich wandelt, wie man Gespräche beginnen kann und Menschen erreicht, die man eigentlich nicht mehr erreicht. Die Geschichten sind sehr persönlich und teils emotional, um die Frage nach echter Zuhörerschaft zu veranschaulichen: »Wir hören, was wir fühlen«, lautet das Credo, an das Pörksen sich hierbei hält und selbst vorlebt, wie das permanente Bemühen um Offenheit und Verständigung zu neuen Erkenntnissen verhelfen kann.
IV Praxis und
Politik des Zuhörens
Pörksen fragt
sich, wie ein solcher Wandel der Wahrnehmung und Aufmerksamkeit möglich ist,
welche Faktoren diesen auslösen und warum das Zuhören zuvor so schwerfiel. Er
rekonstruiert den Fall insbesondere vor der Folie dieser Fragen, ohne alle
Einzelheiten abermals zu präsentieren. Dass der Fall noch immer nicht
abgeschlossen ist, zeigt u.a. der Kentler-Bericht, den die Universität
Hildesheim im Jahr 2024 veröffentlicht hat und der nachweist, dass es ein ganzes
Netzwerk pädokrimineller Professoren und Lehrer gab, die engen Kontakt
untereinander hatten.
Der Bericht ist hier abrufbar.
b)
Pörksens zweites Beispiel betrifft den Ukraine-Krieg und die Tatsache, dass ein
Miteinander-Reden in Kriegszeiten nicht mehr möglich ist. Ihn interessiert der
Riss, der angesichts sich gegenüberstehender Perspektiven auch durch Familien
geht und begleitet über längeren Zeitraum einen jungen Ukrainer, der sich dem
eigenen, in Russland lebenden, Vater entfremdet, weil dieser anfangs den Krieg
verteidigt. Wie ist Zuhören im Ausnahmezustand noch möglich? Welche »Wahrheiten«
weisen uns in der Katastrophe den Weg? Und wie erlangen wir Dialogbereitschaft
zurück?
c)
Im Anschluss nimmt uns Pörksen mit auf eine Reise ins Silicon Valley: Im
Zeitalter der Digitalität ist permanente Ablenkung der Normalfall, das Zuhören
findet hier keinen guten Nährboden; Push-Nachrichten und Eilmeldungen,
»Informationskonfetti« und Dauerempörung sind hingegen an der Tagesordnung. Wie
schafft man es, angesichts der schönen neuen Medienwelt, offen für andere zu
sein? Antworten findet Pörksen nicht zuletzt bei der US-amerikanischen
Schriftstellerin und Künstlerin Jenny Odell, die der Schnelllebigkeit der Welt
in ihrem gleichnamigen Buch das »Nichtstun« und ein radikales Innehalten
entgegensetzt und damit eine Art »Ästhetik des Widerstands« (wenn man Peter
Weiss´ Formulierung hier benutzen will) in Gang setzt. Warten können, den Vögeln
lauschen, ihnen ab und zu etwas Futter geben und ansonsten die Dinge geschehen
lassen, so das Fazit, sind möglicherweise Strategien, dem Chaos des Internets
ein Stück weit zu entfliehen und zu neuer Aufmerksamkeit zu gelangen.
d)
»Wie trainiert man das ökologische Gehör?« lautet abschließend die zentrale
Frage des vierten Fallbeispiels. Es ist ein Rätsel: Die Menschen wissen nicht
bloß mit Blick auf den Klimawandel sehr wohl um die Notwendigkeit eines
Umdenkens, fallen aber in eine Verhaltensstarre, die rein gar nichts bewirkt –
beinahe so wie bei biologischen Stressreaktionen, in denen unser Stammhirn
entweder in den Flucht- oder Kampfmodus umschaltet. Wenn das alles nicht hilft,
stellt der Körper sich im Angesicht der Bedrohung einfach tot (freeze). Von der
Erde fliehen ist schwierig, und gegen wen sollte man kämpfen? Die Bedrohung ist
abstrakt. Bleibt noch das Sich-Totstellen, das Einfach-so-Weitermachen. Den
warnenden Stimmen wird dann kaum noch Gehör geschenkt. Bernhard Pörksen aber
gibt sich auch hiermit nicht zufrieden. Er lädt die Klimaaktivistin Luisa
Neubauer an die Universität Tübingen ein, um zu erfahren, wie man die Menschen
für die Problematik sensibilisiert. Wie schafft man es, aus den Kassandrarufen
der Klimaaktivisten eine Stimme zu formen, die nicht nur die Menschen, sondern
auch die politisch Verantwortlichen wieder erreicht und sie motiviert, durch
eigenes Handeln die drohende Katastrophe noch abzuwenden?
Dies führt
unmittelbar in eine Politik des Zuhörens, die nicht allein solche Fragen und
Themen verhandelt, sondern zu einer grundsätzlichen Reflexion über Praktiken des
Zuhörens wird. Wo liegen die Grenzen dieser Politik? Darf man z.B. auch
Populisten Gehör schenken? Pörksen meint, hier sei keine eindeutige Antwort
möglich. Am Ende betont er die Freiheit jedes Einzelnen und die vielen Facetten
kommunikativen Handelns. Unbestritten sei hingegen, dass wirkliches Zuhören Ruhe
brauche, auch Konzentration und Zuwendung. Daran scheitern die meisten. Zuhören
verlange auch nicht, gehorsam zu sein, im Gegenteil. Es gehe im Kern darum, zu
verstehen, was die Beweggründe des anderen ausmachen. Dialogbereitschaft sei
jedoch die Voraussetzung. Fehle diese, sei alles vorbei. Die Bedingung lautet
also: »Anerkennung und Akzeptanz von Verschiedenheit, Suche nach dem
Verbindenden, Klärung des Trennenden, gemeinschaftliche Erfindung einer Welt,
die überhaupt erst im Miteinander-reden und Einander-Zuhören entsteht.«
V Fazit
Literaturhinweise
Conan Doyle, Sir
Arthur: Sherlock Holmes. Die Romane: Eine Studie in Scharlachrot – Das Zeichen
der Vier – Der Hund der Baskervilles – Das Tal des Grauens. Anaconda Verlag,
Köln 2013. Gaus, Günter: Zur Person, Interviews. Abrufbar unter: https://www.zdf.de/dokumentation/zur-person. Letzter Aufruf: Januar 2025.
Heidegger, Martin:
Sein und Zeit. Niemeyer, Tübingen 2006. Hesse, Hermann: Siddharta. Eine indische Dichtung. Suhrkamp, Berlin 2022.
Hölderlin: Der
Gang aufs Land. An Landauer. In: Gedichte, hg. von Jochen Schmidt. Dtv,
Frankfurt am Main 1992.
Kleist, Heinrich
von: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. In: Werke und
Briefe in vier Bänden, hg. von S. Streller. Insel Verlag, Frankfurt 1986, Bd. 3,
S. 722–723. Kluge, Alexander: Interviews in 10 vor 11, dctp.de.
Lee, Harper: Wer
die Nachtigall stört. Rowohlt, Reinbek 2008.
Odell, Jenny:
Nichts tun. Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen. Beck,
München 2021.
Platon: Sämtliche
Dialoge. 7 Bände. Meiner, Hamburg 1988.
Rosa, Hartmut:
Resonanz. Eine Soziologie. Suhrkamp, Berlin 2019.
Saint-Exupéry,
Antoine de: Der Kleine Prinz.
Schindler, Jörg:
Der Lack ist ab. In: Frankfurter Rundschau Nr. 268 vom 17.11.1999, S. 3.
Weiss, Peter:
Ästhetik des Widerstands. Suhrkamp, Berlin 2017. |
Bernhard
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