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Aufklärung im besten Sinne |
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»Verlust« ist ein Wort, das Assoziationen weckt und einen vielfachen Raum von Bedeutungen öffnet: Verlust eines Menschen, Verlust von Arbeit, Verlust von Heimat, Verlust sozialer Sicherheiten. Dazu kommen ästhetizistische Verluste, im Sinne melancholischer Weltbetrachtung, die ebenso im Feld der Psychotherapien als trauernde Schübe die Gefühle eines Selbst bestimmen. Bis hin zu philosophischen Ausprägungen: dem Verlust an Weltorientierung und einem ins Leere gehaltenen Ich. Welt ohne Gott, Mönche am Meer und gescheiterte Hoffnungen. Vor allem aber sind es die sich in verschiedenen Feldern der Gesellschaft zutragenden Verluste, für die in der Moderne ein Umgang gefunden werden musste und die in einer sich neu ausfaltenden Autoreflexivität der Spätmoderne angesichts neu gewonnener Freiheitsgrade in der Theorie wie auch praktisch verarbeitet werden müssen. Reckwitz betrachtet den Begriff »Verlust« als Soziologe. Nicht um metaphysische Obdachlosigkeit geht es ihm oder um existenzialphilosophische oder psychotherapeutische Überlegungen. Dabei will Reckwitz in seiner Analyse »keiner haltlosen Dramatisierung Vorschub leisten«, es geht gerade nicht darum, eine weitere kulturpessimistische Schrift zu fabrizieren oder einen weiteren Krisendiskurs hinzuzufügen und ebenso wenig um eine Negativspirale wie es das »doomscrolling in der digitalen Welt« zur Folge hat. Spätestens die Epoche der Moderne, die Reckwitz um 1800 ansetzt, hat ein autoreflexives Potential ausgebildet, Verluste in ein Narrativ zu bringen und zudem Strategien zur Verlustbewältigung entwickelt, sei es indem Verluste, die als Verluste wahrgenommen werden, wieder unsichtbar gemacht werden (»undoing loss«) oder indem neue Narrative bereitgestellt werden, die Verlust als Transformation hin zu einem Besseren uminterpretieren (»doing loss«). Dabei unterscheidet Reckwitz zwischen einer modernen und einer spätmodernen Phase, die er mit den ausgehenden 1970er Jahren beginnen lässt. Die Fortschrittserzählung samt den Geschichtsphilosophien der Moderne geben für eine solche Verlustkompensation Beispiele. Das Individuum tritt hinter den Gemeinsinn zurück, die Zeiten des Glücks, so formulierte es Hegel und so zitiert es Reckwitz, sind die leeren Blätter der Geschichte. Geschichte ist nicht der Boden des Glücks. Der Geschichtsphilosoph reitet über solches Besondere kühn hinweg und rationalisiert. In einer »List der Vernunft« setzt sich im Unvernünftigen am Ende die Vernunft durch, so geht das fortschrittsfreundliche Narrativ. Die Französische Revolution mit ihrem entsetzlichen Terror ist für Hegel ein solches Beispiel. Und so finden wir in der Moderne zahlreiche Felder, darin Verlust wirkt, der zugleich bewältigt werden will. »Am Ende stellt sich die Frage: Wie kann es weitergehen mit der Moderne, wenn das prekäre Verhältnis zwischen Verlust und Fortschritt aus dem Gleichgewicht gerät?« (S. 25) Reckwitz formuliert es derart: »Um den Stellenwert von Verlusten in der Moderne zu verstehen, ist die Einsicht in den Grundwiderspruch zwischen Fortschritt und Verlust allerdings nur der erste Schritt.« (S. 21) Daraus ergibt sich für Reckwitz ein weiterer Spannungszustand, nämlich die Verlustparadoxie. Sie besteht darin, dass zwar die westliche Moderne einerseits versucht, Verluste zu minimieren, etwa mittels Technik und Verbesserung der Lebenswelt. Doch andererseits steigert sie diese Verluste, indem durch neue Technik Menschen ihre angestammte Welt verlieren – eklatant im 19. Jahrhundert zu spüren. Man kann es für die Moderne mit Marx formulieren: »Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände […] zeichnet die Bourgeois-Epoche vor allen früheren aus. Alle festen, eingerosteten Verhältnisse […] werden aufgelöst, […]. Alles Ständische und Stehende verdampft, […]«. Aus diesem Fortschrittsparadigma ergeben sich so Reckwitz, »in dieser Gesellschaft weniger und mehr Verluste zugleich«, sie werden »unsichtbarer und zugleich sichtbarer.« Mit diesem Verlustparadoxon entsteht in der modernen Gesellschaft nicht einfach nur eine Fortschritts-, sondern zugleich auch eine »außerordentliche Verlustdynamik.« (S. 23) In diesem Sinne will Reckwitz im Rahmen einer soziologischen Gesellschaftstheorie »einen Beitrag zur Theorie der Moderne« leisten. Es geht ihm um konkrete gesellschaftliche Mechanismen, die eben nicht, quasi als »Dialektik der Aufklärung«, von einer übergeordneten kulturkritischen und philosophischen Warte den Blick aufs Ganze der Gesellschaft als Verblendungszusammenhang richtet: »Nicht einzelne Verlusterfahrungen sollen bewertet, nicht Verluste als solche betrauert oder angeprangert werden. Es geht mir vielmehr darum, eine alternative Perspektive auf den Modernisierungsprozess zu entfalten, die dessen ‚blinden Fleck‘ sichtbar macht: die in sich widersprüchliche Verlustdynamik. Dies lässt sich als eine eigene Form der Modernekritik verstehen: als eine Kritik am mangelnden Bewusstsein der Moderne für die Widersprüche und Paradoxien hinsichtlich der Verluste. Mein Anliegen ist dabei keine pauschale Abrechnung mit der westlichen Moderne.« (S. 25 f.) Reckwitz nennt im ersten Kapitel zunächst einmal zentrale Verlusterfahrungen und fragt danach, was diese Verluste sind und wie sie wirken. »Verlust als soziales Phänomen«, »Verlust und soziale Praxis« sowie die unterschiedlichen Verlusttypen: vom Verlust eines Menschen über den Statusverlust bis hin zu kulturellen Verlusten. Verluste konfrontieren eine Gesellschaft mit der »radikalen Kontingenz der Welt. Deren Zustände können immer auch anders sein und scheren sich nicht um die emotionalen Bindungen der Subjekte.« (S. 56) Diesen Zustand gilt es in der Moderne zu verarbeiten, und im Blick darauf werden im zweiten Kapitel die Verlustparadoxien der Moderne entfaltet: etwa der »Fortschrittsimperativ und seine Folgen«, und es werden die verschiedenen Mechanismen gezeigt, wie in der Moderne Verluste zugleich sichtbar und unsichtbar gemacht werden Die Frage der Verlustverarbeitung potenziert sich in der Spätmoderne. Insbesondere dort werden Verlusten und Verletzungen zunehmend sichtbar. Das Opfer spielt eine wesentliche Rolle. Diese Transformationsprozesse hin zur Spätmoderne beginnen in den 1970er Jahren, darin die industrielle Moderne und damit auch das Fortschrittsversprechen samt dem daraus resultierenden Wohlstand in der westlichen Welt ihre Risse bekommt. Doch was zunächst als Bruch erscheint, ist es bei Reckwitz keineswegs. Die Spätmoderne kann als ihre verlängerte Version gelesen werden, »die grundlegende Strukturmerkmale des Modernisierungsprozesses fortführt und teilweise radikalisiert« (S. 289). Wir haben keineswegs die Moderne hinter uns gelassen – was man bereits an jenen Problemen sieht, die wir von ihr »geerbt« haben. Zugleich aber gibt es Unterschiede, und so ist auch die Annahme zu vermeiden, dass die Spätmoderne eine bloße Verlängerung der Moderne sei. Es fanden entscheidende Transformationsprozesse statt, die eine neue Problemlage schufen. Festzuhalten bleibt für Reckwitz, dass die für die Moderne konstatierten Verlustkonstellationen und -paradoxien bis in die Spätmoderne fortwirken. Die entscheidende Differenz freilich, bei gleichzeitiger Kontinuität, bringt Reckwitz derart auf den Punkt: »Die klassische Moderne war von einem Vertrauen an die Perfektibilität sozialer Ordnung beseelt, ein Vertrauen, das in der industriellen Moderne der 1960er und frühen 70er Jahre ihren Höhepunkt erfährt. In der Spätmoderne werden sich die Gesellschaft und ihre Subjekte ihrer Verlustaffinität und damit ihrer Vulnerabilität bewusst.« (S. 294) Ein zentraler Aspekt ist hier die Umpolung des Fortschrittsimperativs vom Gesellschaftlichen zur Subjektivierung: Wenn die positive Zukunftserwartung im politischen Raum nicht mehr glaubwürdig erscheint, wachsen doch die Erwartungen auf der Ebene des Subjekts: dass in einer von Wohlstand geprägten Gesellschaft zumindest eine gewisse Perfektibilität gewährleistet werden könnte, in »einer geglückten individuellen Selbstverwirklichung«, deren Formen seit den 1970er Jahren in verschiedenen Feldern als Individualisierungsschub zunehmend ihre Ausprägung erfuhren: eben genau in der Phase, als der »gesellschaftlich-politische Fortschrittsdiskurs« in eine Krise gerät, entwickelt sich über den Pop und auch innerhalb der neuen sozialen Bewegungen eine Kultur der Selbstverwirklichung und der Authentizität des Selbst. Auch hier finden wir also für die anbrechende Spätmoderne mit ihren Kreativitäts- und Selbsterfindungsimperativen neue Weisen der Transformation, um Verluste zu kompensieren. »Das kollektive Fortschrittsversprechen verwandelt sich in der Spätmoderne somit in ein subjektives Glücksversprechen.« (S. 323) Was freilich wieder neue Möglichkeiten von Verlust schafft, wenn dieses Glücksversprechen ausbleibt: Individualisierung des Scheiterns ist die Folge: Arbeitslosigkeit als individuelles Versagen, woraus dann wieder Ratgeber vom Schlage »Scheitern als Chance« entstehen, die auf der Ebene des Subjekts Verlust und Versagen internalisieren. Sehr schön zeigt Reckwitz hier einen besonderen Parallelgang: »Es ist nicht ohne Ironie, dass […] ungefähr zum selben Zeitpunkt, als Donella und Dennis Meadows in Bezug auf die Weltgesellschaft, ihre Ökonomie und ökologischen Grundlagen die bahnbrechende Idee der Grenzen des Wachstums etablieren, sich die von humanistischen Psychologen wie Carl Rogers und Abraham Maslow formulierte ebenso bahnbrechende Idee gesellschaftlich verankert, dass das Lebensziel des Individuums in seinem persönlichen Wachstum bestehen soll.« (S. 325) Positive Emotionen wie Freude und Zuversicht sind nicht mehr mit dem »Fortschrittsideal der klassischen Moderne verbunden«, sondern richten sich nun auf ein gelingendes Leben der Individuen. Gefragt ist nun das »gute Leben«. Dass dabei als Effekt solcher Verschiebungen in der Philosophie seit den 1970er Jahren der Neoaristotelismus und eine Tugendethik zunehmend den Kantischen Universalismus ablösen, sei nur am Rande noch erwähnt. Solche Individualisierung freilich birgt erhebliche politische Probleme: »Der Aufstieg der subjektiven Fortschrittshoffnungen geht einher mit einem entsprechenden Rückbau von Hoffnungen auf einen gesellschaftlichen Fortschritt. Funktionalistisch könnte man auch von einer Kompensation sprechen: Die Kultivierung der individuellen Entfaltungshoffnungen kompensiert in der Spätmoderne den Legitimationsverlust der gesellschaftlich-politischen Utopien. Dies bedeutet, dass die Zukunft sich nun tendenziell individualisiert, ja privatisiert.« (S. 326) Dieser Individualisierungsschub samt Internalisierung des Fortschrittsversprechens als privates Glück im Winkel scheint mir einer der entscheidendsten Aspekte zu sein, die insbesondere fürs Politische und im Blick auf die einstmals die ganze Gesellschaft umfassenden Utopien erhebliche Auswirkungen haben. Aber noch für die Kunst hat das erhebliche Folgen: Reckwitz schlägt hier die Brücke zum Genre des autofiktionalen Erzählens, das bereits in der Literatur der 1970er Jahre mit der Neuen Subjektivität eine Ausdrucksform fand, so sei ergänzt. Reckwitz sieht diese »Mechanismen der Individualisierung und Privatisierung« im Blick auf mögliche Verluste kritisch: In der »Kultur der Selbstverwirklichung« findet eine »radikale Erwartungsexpansion« statt, was wiederum zu ganz neuen Verlustszenarien führt, diesmal freilich individualisiert: »Die Subjektivierung des Fortschritts erweist sich so als ein Faktor spätmoderner Verlustpotenzierung.« (S. 327) Was dieser Wandel insbesondere für die Sphäre des Politischen und im Blick auf Wahlen bedeutet, wäre eine ganz eigene Diskussion, wert. Diese Erosion des Fortschrittsnarrativs, so kann man es als eine der zentralen Thesen des Buches formulieren, trägt entscheidend »zur spätmodernen Verlusteskalation bei.« (S. 328) Solche Formen zeigt insbesondere der dritte Teil des Buches. Und dabei gerät, so Reckwitzʼ These, in der Gegenwartsgesellschaft »die prekäre Balance der Verlustparadoxie […] aus dem Gleichgewicht«. (S. 23) Bei aller Kontinuität in Fragen der Problemübertragung liegt die zentrale Differenz zwischen Moderne und Spätmoderne darin, dass es jener gelungen war, die Verluste zu externalisieren bzw. sie unsichtbar zu machen. Dies gelingt in der Spätmoderne nicht mehr. Die Verluste »werden zum integralen Bestandteil auch der westlichen Gesellschaft. Es handelt sich nicht mehr um die Verluste der anderen, sondern um eigene Verluste.« (S. 372) Damit entsteht das, was wir heute die vulnerable Gesellschaft nennen. Die Fortschrittserzählungen der westlichen Moderne sind an ihre Grenzen gelangt. Welche Aktualität dieses Buch besitzt, zeigte sich in nuce gerade in den letzten Monaten mit dem Wahlsieg Donald Trumps und dem Zusammenbrechen alter Werteordnungen. Politische Konstellationen, die sich über mehrere Jahrzehnte etablierten und zu Gewissheiten wurden, etwa das transatlantische Bündnis, stehen auf dem Prüfstand. Frieden in Europa, der zum ersten Mal mit dem Jugoslawienkrieg als brüchig sich erwies, scheint keineswegs mehr selbstverständlich. Was als Fortschritt in der Geschichte zunächst sich zeigte, die Befreiung Mittel- und Osteuropas vom Joch Rußlands und was manchem als Zeitalter des ewigen Friedens zunächst erschien, weil der eine Machtblock implodierte, erwies sich als eine Sache mit dialektischen Tücken: die neue Freiheit auf der einen Seite ging mit erheblichen globalen Unsicherheiten einher und mit einem Russland, das unter Putin keineswegs gewillt ist, sich mit den Gebietsverlusten abzufinden. Die Annahme der Souveränität der Länder Europas wurde mit Russlands Überfall auf die Ukraine 2014 auf einen Prüfstand gestellt. Dass die Spätmoderne, als Verlängerung der Moderne in ihren Fortschrittsimperativen, immer so weitergeht, scheint keineswegs ausgemacht. Es könnte, wie es Reckwitz schreibt, auch einen Verlust der Moderne selber geben, der nicht nur Teilbereiche betrifft, sondern die gesamte Steuerung des Systems. Zu Kants großer Frage »Was darf ich hoffen« gesellt sich komplementär, so Reckwitz, die Frage »Was müssen wir fürchten?«
Bücher machen Krisen nicht ungeschehen und sie kompensieren sie auch nicht.
Solche Krisen jedoch thematisch unter einem Begriff zu fassen, ist eine
sinnvolle Möglichkeit, mit solchen Transformationsprozessen umzugehen. In diesem
Sinne lese ich diese detaillierte Analyse als Vademecum in Theorie. Relevant ist
das Buch insbesondere im Horizont gesteigerter Krisen. Jene glorreichen Jahre
zwischen 1950 und 1970 sind unwiederbringlich vorbei. Mit diesem Verlust müssen
wir gesellschaftlich wie auch individuell in irgendeiner Weise umgehen. Reckwitz
liefert für solchen Umgang keine Patentrezepte, sondern er zeigt seismographisch
auf, wie die Lage ist, indem er für die Moderne und die Spätmoderne eine
Vielfalt von Szenarien in die Analyse bringt und wie mittels Reflexion und
Theorie ein intellektueller Umgang mit solchen Krisen geschaffen werden kann.
Probleme lassen sich nur lösen, wenn man ein Problem überhaupt als Problem
erkennt und also auch benennt, und zwar bevor es einen mit der Wucht eines
Tsunami überrollt.
Dabei geht es
Reckwitz keineswegs darum, das Fortschrittsparadigma kulturkonservativ oder im
Sinne einer Dialektik der Aufklärung im Ganzen zu kritisieren, sondern er nimmt
noch solche Formen von Kritik mit in die Reflexion. Fortschritt ist für ihn
unhintergehbar. Verhängnisvoll wird es jedoch dann, wenn Ambivalenzen und
Probleme, die solcher Fortschritt mit sich bringt, grundsätzlich unsichtbar
gemacht werden. In diesem Sinne will das Buch in umfangreichen Szenarien
Aufklärung leisten. Allerdings hätte dem
Buch an einigen Stellen etwas Straffung gutgetan und zudem ein Kapitel darüber,
wie sich in der Moderne überhaupt solche Modelle von starker Autoreflexivität
entwickeln, die Krisen in eine Narration bringen und die also auch ein solches
Buch wie das von Reckwitz möglich machen – das sei nur am Rande bemerkt. Es
ändert freilich nichts an der Qualität. |
Andreas Reckwitz |
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