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Zwischen den deutschen Welten

»Das Jahr ohne Sommer« erzählt die Lebensgeschichte
einer jungen Frau, die ihren Platz im Leben sucht.

Von Sigrid Lüdke-Haertel


 

Die Autorin stammt aus dem Verlagsgewerbe. Sie hat als Übersetzerin gearbeitet, als Lektorin und, mehr geht da nicht, als Verlegerin, als Verlagsleiterin des Aufbau Verlags in Berlin: Das neue Buch, ihr drittes, »Das Jahr ohne Sommer«, verzichtet auf jede Gattungsbezeichnung. Man könnte es, der neueren Mode gehorchend, als »Autofiktion« bezeichnen, denn es ist dicht an der eigenen Lebensgeschichte entlang geschrieben und zwar gut, sehr gut. Darum ist es Literatur, und die Gattung ist egal.

»Als ich klein war, lebte ich in einem Land, das es nicht mehr gibt.« »Man konnte nicht sagen, was man dachte, und man konnte nicht fahren, wohin man wollte.« Das Kind lebt mit seinen Eltern erst in Leipzig, dann in Dresden und dann wollten sie »abhauen«. Der Fluchtversuch geht schief, die Eltern kommen für zwei Jahre ins Gefängnis, das dreijährige Kind erst ins Heim, dann zu seiner Großmutter. Die Mutter, eine Geigerin, wird sich davon nie mehr richtig erholen. Die Eltern werden von der BRD freigekauft und das inzwischen sechsjährige Mädchen, sieht endlich seine Eltern wieder. Der Vater erhält in Aachen eine Stelle als Leiter der Musikschule, er kann sich bald arrangieren, »er redet viel, die Mutter schweigt«. Die Ich-Erzählerin schafft es einfühlsam, ohne Pathos, aus der Sicht des Kindes, den Zeitgeist der achtziger und neunziger Jahre der DDR einerseits und der BRD andrerseits zu beschreiben.

Die graue DDR zerfiel. »Ganze Häuserzüge wurden nach und nach unbewohnbar, die Leute mussten ausziehen, erst in den oberen Etagen, dann auch in den unteren.« Sie vermissten die graue Stadt nicht. In Aachen fühlten sie sich wohl, hier war alles wunderbar grün und sauber. Selbst dem Karneval können sie allmählich etwas abgewinnen. Ihr Leben in Freiheit gefällt ihnen. Sie finden Freunde, fahren in den Sommerferien ins Ausland. Das Kind wird immer selbständiger, sodass es, inzwischen zehn Jahre alt, alleine zur Oma nach Leipzig fährt. An der Grenze die üblichen Schikanen, selbst beim Kind. Koffer aufmachen, alles wird durchwühlt, verstreut. Das Kind bekommt den Koffer danach nur noch mit Mühe zu. Das Kind hat schon eine feste Meinung: »Undenkbar, dass sich jemals etwas ändern würde: die Grenze, die Mauer, die grauen Leipziger Straßen mit den Häusern, die immer weiter verfielen, die Schlangen vor den Geschäften.«

Der Besuch einer Cousine in Amerika bringt die Steigerung von allem, »Amerika: ein Land der Farben, der Landschaften und weiten Himmel, mit einem Cowboy als Präsident, den mein Vater bewunderte.« »Das ist die Zukunft, sagte mein Vater, die Amerikaner verteidigen uns, hier sind wir sicher, und hier gehst du später einmal zur Schule.« Anhand ihrer Familiengeschichte beschreibt Neumann auch den Zeitgeist der achtziger und neunziger Jahre. So den Unfall in Tschernobyl und die Angst, dass alles verseucht sein könnte. Oder die Volkszählung, die, von heute aus gesehen, völlig verrückt, die Menschen spaltet. Die, die sich weigern, weil sie »Grüne« sind und die, die die Einstellung des Vaters teilen. »Ich leiste meinen Beitrag für Transparenz, ich gebe dem Staat all die Informationen über mich, die er braucht. »Er, der die Erinnerung an das Gefängnis in Bautzen nie los wird, glaubt nicht an »Glasnost« und »Perestroika«. »Der Russe rüstet nicht ab, sagte er, zum Glück bleibt Reagan hart und die SPD ist hier abgewählt.« Der Vater mit seinen Wutausbrüchen und der heranwachsende Teenager haben immer öfter Konflikte miteinander. Die Mutter wird immer stiller, von ihr erhält sie keinerlei Unterstützung gegen den Vater. Sie wird krank und schließlich depressiv. Sie kann nicht mehr unterrichten. »Sie wollte die Geige überhaupt nicht mehr anfassen. Das Instrument, das sie so geliebt hatte, war zum Feind geworden, so wie die Töne und das Rauschen in ihren Ohren.« Und dann, 1987, plötzlich ein Lichtblick, die Eltern erfahren, dass auch ehemalige Republikflüchtlinge wieder einreisen dürfen.

Den Fall der Mauer erlebt die Tochter in Michigan, USA. Sie ist da als Austauschschülerin und ihr kommt das alles unecht vor, »wie die viel zu bunten Zuckerstreusel auf den Donuts, die ich hier aß«. Nach der anfänglichen Euphorie, frei zu sein, reisen zu können, wohin man will, wird dem Vater klar, dass er nicht mehr nach Leipzig gehört, aber auch im Rheinland nicht angekommen ist. »All der Mut, das Geschick und der Humor, mit dem die Menschen, die ich kannte, ihr Leben in der DDR bewältigt hatten, die Kämpfe, die sie Tag für Tag ausgefochten hatten, waren nicht nachvollziehbar für die, die mit der Geste der Sieger in den Osten zogen.«

Neumann beschreibt sehr einfühlsam und überzeugend an ihrer eigenen Familie die Probleme, die sie als Flüchtlinge bewältigen müssen. Einerseits der Heimatverlust, andrerseits die Dankbarkeit für die Chance, die man ihnen gegeben hatte. »Es war nun so, wie es hatte sein sollen, wie wir es uns immer gewünscht hatten, und doch war alles ganz anders und fremd, und so würde es lange bleiben.« Die junge Gymnastin langweilt sich. Sie weiß nicht, was sie später einmal werden möchte, sie ist auf nichts neugierig. »Es gab nur Angst, Angst davor, allein zu sein, keinen Weg zu finden, sich zu verlieren.« Im Epilog erfahren wir dann auch Tröstliches. Sie studiert Literaturwissenschaften, lebt zeitweise in Palermo, »aber immer kam ich nach Deutschland zurück, ich fand meinen Rhythmus im Hin und Her, im Dazwischen.« Constanze Neumann beschreibt, ohne Pathos und doch ergreifend, ein deutsches Schicksal. Sie erinnert an eine Geschichte, unsere Geschichte, die hier wie dort, also hüben wie drüben, ziemlich in Vergessenheit geraten ist und bestenfalls verzerrt noch wahrgenommen wird.


Artikel online seit 22.09.25

Wir danken Strandgut - Das Kulturmagazin für Frankfurt & Rhein-Main
 

Constanze Neumann
Das Jahr ohne Sommer
Ullstein Verlag
192 Seiten
22 ,00 €
9783550202292

Leseprobe & Infos

 


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