Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik                                           Impressum & Datenschutz

 

Home   Belletristik   Literatur & Betrieb  Krimi   Biografien, Briefe & Tagebücher   Politik   Geschichte   Philosophie  


 








Dialektik der Reform

Wolfgang Kemps Sprachkritik
streift elegant und geistreich
durch die wundersame Welt des öffentlichen Sprechens.

Von Wolfgang Bock
 

Die Erneuerer einer Institution hinterlassen oft einen größeren Scherbenhaufen als die Anhänger der alten Ordnung, die vorgeblich überwunden werden soll. Das ist eine Weisheit, die auf Michel Foucaults Untersuchungen zur Reform der Psychiatrie zurückgeht. In diesem Sinne schreibt der Hamburger Emeritus für Kunstgeschichte Wolfgang Kemp seine Sprachkritik. Sie erschien in einer Reihe von Glossen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und ist nun als durchgängiger Text in der Ausgabe des zu Klampen Verlages erhältlich. Adornos Jargon der Eigentlichkeit oder Eckhard Henscheids Dummdeutsch sind ebenso wie Ernst Cassirers Symbolische Formen oder Karl Kraus‘ Sprachkritik in diesen Texten immer präsent. Kemp ist nicht allein als Leser und Hörer, sondern auch als aktiver Sprachnutzer gebeutelt. Da sind zum Beispiel die Urteile, die sogenannte peer reviewer – offiziell im Rahmen einer objektiven Wissenschaft, in Wirklichkeit aber als Resultat verschiedener Seilschaften dortselbst – über seine eigenen Texte in Sammelbänden und wissenschaftlichen Zeitschriften gefällt haben. Sie kannten ihn und seine Arbeit definitionsgemäß nicht und konnten sich entsprechend ihrer eigenen Vorurteile daran auslassen. Außerdem ist Kemp dem Medium Radio sehr verbunden, und das nicht erst, seit er als Autor eines Artikels im Funkkolleg tätig war.[1] Als regelmäßiger Hörer des Deutschlandfunks und entsprechender Podcasts über Kunst, Politik, Literatur und Kultur ist er auf diese Weise einer verschliffenen Sprache ausgesetzt. Nun schlägt das Imperium zurück. Denn das vorletzte Medium ist keinesfalls der Hort der Kultur, als der es sich gegenüber dem letzten oft genug ausgeben will.

Kemps Buch hat drei Teile: Im ersten beschäftigt er sich mit Sprachpartikeln als Füllsel, im zweiten geht es um die bürokratische Seite der neuen Sprachverordnungen von Universitäten und politischen Verwaltungen unter der Ägide der political correctness und dem Gendern; der dritte Teil arbeitet sich an der Welt der modernen Adjektive des Vagen ab. Die Grundlage seiner Kritik bildet der Übergang vom traditionellen Medium der Schrift und des Bildes wie dem Buch und der Zeitung zu demjenigen des Radios und hier speziell der Welt des Podcasts, die mit dem Internet entsteht. Die sich in einem Medium elaboriert und formell ausdrückende Schriftstellerinnen und Schriftsteller wollen sich in dem anderen volksnah und informell geben. Daraus entsteht oft genug eine ungenaue Sprache, die – weiter unterfüttert durch den Gebrauch in den sogenannten sozialen Medien – auf den schriftlichen Ausdruck generell zurückschlägt. Diese Ungenauigkeiten, die Kemp treffsicher aufspießt wie den Schwarm der kleinen Partikel – „so“, „halt“, „eben“, „eh“, „sowieso“, „sozusagen“, „geht in Ordnung“ oder „genau“ – erscheinen aber nicht zufällig, sondern sie bilden ein System. Dieses kommt George Orwells „Neusprech“ aus seinem Roman 1984 bereits gefährlich nahe. Eine verschlissene Sprache ist Ausdruck eines entsprechenden Denkens und wirkt auf jenes wieder zurück. Dahinter steht eine Tatsache, die bereits Pierre Bourdieu aufgefallen ist, wonach das betroffene Medium (mit Ausnahme des ansonsten viel gescholtenen Buches) selbst kaum in der Lage ist, erschöpfend in einer Selbstkritik über sich zu reflektieren. Bourdieu spielt das am Beispiel des Fernsehens durch.[2] Kemp wählt sich für seine Beispiele hauptsächlich das Radio und den Podcast, aber auch neue Romane und andere Äußerungen der Pop-Kultur wie Filme, Memes und was das Internet sonst so im Umgang mit der Sprache hergibt.

In Tateinheit mit einer Genderreform der Sprache macht er die Tendenz zur Ent-subjektivierung aus, indem – wie in dem prominenten Beispiel von den „Studenten“ nun nur noch von „Student_innen“, „Student:innen“ oder „Student*innen“ die Rede sein soll oder eben von Studierenden. Was diese aus der ASCII Tastatur stammenden Zeichen und die Gerundiumform mit der Sprache macht, fällt gewöhnlich aus der Wahrnehmung derjenigen, die diese neue Sprache samt ausgeschlossenen F-, N- und L-Wörtern forcieren, heraus. Ausgehend von einer Bürokratisierung geht es hier also um einen Umbau der deutschen Sprache. Für die Lesenden glücklich, verfügt Kemp über genügend Kenntnis der entsprechenden Literatur und des Sprachverständnisses auch außerhalb des Deutschen: Die wesentlichen Beispiele entnimmt er auch der englischen und lateinischen Sprache, um historische und aktuell Entwicklungen – von like etwa im amerikanischen Englisch – als Referenzgröße aus den Regionen jeweils heranziehen zu können, die hier den Ton angeben.

Kemp ist von Haus aus Kunsthistoriker. Seine wichtigsten Beispiele stammen denn auch aus dem Kunstbetrieb, wo die Sprache ohnehin Beigabe ist zum Wesentlichen, nämlich dem bildenden Kunstwerk. Dieses spricht zwar bekanntlich seine eigene Sprache, es bleibt aber innerhalb der Menschensprache stumm. Nicht nur die Neue Musik lebt ja von der Pause zwischen den Tönen, auch wenn sie sich wie eine beliebte Sendung im Deutschlandfunk Zwischentöne nennt. So nimmt es kein Wunder, dass hier von Kemp im Feld der Sprache die allgemeine Kritik am Kunstbetrieb bestätigt wird, die der schwedische Regisseur Ruben Östlund 2017 in seinem Film The Square, aufgemacht hat (und damit im selben Jahr die Goldene Palme von Cannes gewann). In diesem Film, der in einem Stockholm der verlotterten Kunstszene spielt und damit auch das entsprechende Leben der Nobelpreisakademie vorführt, ist die Kunst nur die Beigabe zum Leben: Kunst ist, was im Museum ist oder was der Künstler macht. Diese haltlosen Aussagen innerhalb des Betriebs finden in dem Film ihr Korrektiv in der Theorie des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard.

Der auch von Kemp ausgemachte Trend zur Verunsicherung der Sprache im Kunstbetrieb entstammt neben dem Feld zwischen geschriebener und gesprochener Sprache offensichtlich dieser Sphäre der sprachlichen Beigaben zu Werken der Bildenden Kunst – als Titel, Katalog- und Verkaufstexten der Werbung und Reklame:

»Als Deutschland 2000 die Weltausstellung in Hannover veranstaltete, hieß der Kunstbereich »In-Between«. Genau dort finden wir die Kunst weiterhin. Eine Berliner Galerie hat oder hatte bis vor kurzem Ausstellungen mit folgenden Titeln im Angebot: »Forms of Misleading«, »Renegade Dreams Hanging from the Clouds«, »Navigating the Unknown«, »Sensitive Euro Man«, »Growing Pains«, »Melting«, »Infinite Unfolding«. Das alles ist so eindeutig ambivalent, so zipfelsinnig vulnerabel und entschieden in-between! Diese Titel enthalten wie Einschlüsse die Keime des aktuellen Sprachgeschehens; sie sind Partikeln im Großformat, vor allem Abtönungspartikeln wie »irgendwie«, »ein bisschen«, »so' ne«. Und man erkennt schon an dieser kurzen Strecke, dass der Kunstbetrieb ohne das Gerundium zumachen könnte. Das liegt zuallererst daran, dass Galerien nur noch auf Englisch schreiben und in dieser Sprache das Gerundium sehr viel »natürlicher« ist und frei von der Aufgabe, Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern herzustellen.«

In der Welt der Kunst ist das Inkommensurable und Unsagbare im Gesagten oft genug als Fetisch so anwesend wie abwesend: „[...] wovon man spricht, das hat man nicht.“ Das wusste bereits der Romantiker Novalis. Kein Wunder also, dass der „Sonntagssprachforscher“ (Kemp über Kemp) dann auch besonders bei der Bilderschrift der Emoticons hellhörig wird. Stammen diese neuerdings doch aus Japan, in der Renaissance aber nach dem Urteil des Kunsthistoriker-Kollegen Rudolf Wittkower aus Ägypten.[3] Der heutige Mensch trägt dagegen seine Marker nicht nur auf dem Handy mit sich herum, sondern auch auf der Haut. Kemp fragt nach deren Herkunft und Funktion als Bildmotive:

»Eines der beliebtesten Tattoo-Muster von heute ist übrigens das Kettenrad, ein Beweis dafür, wie das Dispositiv Gestell im digitalen Zeitalter fortlebt. Im übrigen finde ich, dass die Neo-Pronomen sich stilistisch als Tattoos eignen, sobald sie die Kennzeichnung der Basisgeschlechter verlassen. Die spanischen Neo-Pronomen ell@ und a@ B. ergäben schöne Vorlagen für den Tätowierer. Aussprechen kann man sie ohnehin nicht, und die Assoziation mit dem @-Zeichen ist falsch. Vielmehr wird das weibliche Suffix »a« in ein männliches Suffix »o« eingeschrieben und damit die binäre Geschlechtlichkeit neutralisiert. Solche Ansätze zu einer Neo-Emblematik rühren sich überall. Man denke an das kaum mehr überschaubare Feld der Memes.

Auf jeden Fall ist das Repertoire an Zeichen und Zeichensystemen, ist die »Schattenwelt der >Bedeutungen<« (Susan Sontag) jetzt groß und multimedial genug, um die Identität eines Individuums mit Markern umfassend abbilden zu können: »Ich sag mal so: Als Tattoos trage ich das Kettenrad und mein Sternzeichen. Meine Pronomen sind im Moment xer und zier. Zu meinen Lieblingsemojis gehören >upside-down-face< und >slightly-happy<. Beim Gendern verwende ich den Asterisk und meine denselben, wenn ich den Glottisschlag spreche. Und auf meinem Outfit führe ich die Marker der Marken Nike, Moncler und True Religion aus. Mein Symbolgebrauch ist sozusagen intersektional.«

So redet die/der von Kemp gefundene ideelle Sprecher_:*in der heutigen Zeit.
Was für ein Unterschied zu den gebashten Schriftstellern wie Ernst Jünger, über den Kemp im Podcast Lakonisch elegant des Deutschlandfunks in der Folge mit dem Titel „Überall Krise: Kann Ernst Jünger was dafür?“ das fluide Urteil eines Literaturkritikers gehört hatte: „Von Ernst Jünger ist das ja auch so ein bisschen bekannt, das ist sehr anstrengend zu lesen.“

Die Sendung kam anscheinend ohne Belege aus. Kemp macht sich dann auf und interpretiert seinerseits eine Stelle aus Jüngers Textsammlung Das abenteuerliche Herz, in dem es um den Lummenflug auf Helgoland geht: „Gleich darauf sah ich die Vögel von der Klippe abstreichen; ihre Niststätten waren durch den überhängenden Fels gegen die Sicht gedeckt. […]“ Hier findet Kemp allerdings bei Jünger durchaus eine elaborierte Verbindung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Diese unterscheidet sich trotz dessen unbestritten prekärer politischer Haltung doch meilenweit von der formalen Ausdrucksfähigkeit der PodcastteilnehmerInnen. Mit formalen wie inhaltlichen Widersprüchen auch sprachlich zu leben, bedeutet für Kemp also nicht, sich selbst einer ungenauen Sprache anheim zu geben. Das führt er in seinen Kommentaren nachdrücklich vor.

P. S: Das Rechtschreibprogramm von Word versucht übrigens beim Schreiben der Kritik unablässig „Kemp“ durch „Camp“ zu ersetzen und möchte statt „Niststätten“ „Nesthäkchen“ setzen.

[1] Monika Wagner, Funkkolleg Moderne Kunst, Reinbek; Rowohlt 2000.
[2] Vgl. Pierre Bourdieu, Über das Fernsehen (1996), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998.
[3] Rudolf Wittkower, Allegorie und der Wandel der Symbole in Antike und Renaissance, Köln: DuMont 1984.

Artikel online seit 22.09.25
 

Wolfgang Kemp,
Anne Hamilton
Irgendwie so total spannend
Unser schöner neuer Sprachgebrauch
zu Klampen Verlag
18,00 €
9783987370342

 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Literatur   Krimi   Biografien, Briefe & Tagebücher   Politik   Geschichte   Philosophie    Impressum - Mediadaten