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Artige Wahrheiten zu Israel und Gaza?

Über das Verhältnis von Kritik und Selbstkritik.
Zu Eva Illouz' Intervention
»Der 8. Oktober«

Von Wolfgang Bock
 

Eine halbe Frage
Die französisch-israelische Soziologin Eva Illouz gilt als eine Spezialistin für die Funktionalisierung von Gefühlen in der Politik. Sie beginnt ihren Essay mit einer Frage. Diese enthält ihr Programm:

»Bis zum 7. Oktober 2023 glaubte ich, Verbrechen gegen die Menschlichkeit seien die letzten Ereignisse, die abweichende Überzeugungen und Meinungen in einer moralischen Gemeinschaft des Mitgefühls noch zusammenbringen könnten. Und mir schien, dass die politische Sensibilität, die sich am ehesten über Gräueltaten empören würde, meine sei, die linke. Ich habe mich geirrt. Ein beträchtlicher Teil der globalen Linken — unter wechselnden Namen wie identitäre, wache bzw. aufgeweckte, dekoloniale oder progressive Linke — hat die Existenz dieser Gräueltaten geleugnet oder sie als Akt des »antikolonialen Widerstands« gefeiert. Diese Linke hat die schockierten und leidtragenden Juden im Stich gelassen, ignoriert, stigmatisiert und einer vermeintlichen Urschuld, des israelischen Kolonialismus, bezichtigt. Warum? Wie ist es so weit gekommen?«

Illouz betreibt im Anschluss ein Sprachspiel, wenn man das in diesem Fall sagen darf, zwischen den Daten des 7. und 8. Oktober 2023. Am 7. Oktober erfolgte der bestialische Angriff der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung, am 8. Oktober gab es erste weltweiter Beifallskundgebungen zu diesem Massaker. Eine irgendwie geartete Zustimmung sei, wenn überhaupt, erst gerechtfertigt als Reaktion auf die darauffolgenden überzogenen Maßnahmen der israelischen Armee gegen die Palästinenser, so Illouz weiter. Dabei reagierte Israel zunächst mit Drohungen und Ankündigungen; der Einmarsch in den Gazastreifen fand am 29. Oktober statt. Erst das hätte der Freundenfeststimmung – wir erinnern uns, in Berlin z. B. wurden Süßigkeiten auf der Straße verteilt – weltweit einen, wenn auch schrägen, Grund geben können.

Das ist richtig. Mit solchem Argument blendet Illouz allerdings zugleich die Vorgeschichte des Konflikts aus, auf die die „Razzia“ der Hamas eine Reaktion darstellt. Aber von einem reziproken Verhältnis im Sinne von actio und reactio kann man in diesem Fall wohl kaum reden, der mit Recht als schlimmste Tat an Juden nach dem Holocaust gilt. Es geht hier vielmehr jeweils um Akte der Aggression, die als eine „Rache“ nur rationalisiert werden. Aber ähnlich wie im Konflikt der Ukraine mit Russland ist es gerade aus einer reflektierenden Verteidigungsposition notwendig, das Gegenüber und seine Motive sowie die Verschränkung mit der eigenen Position genau zu kennen. Die Leugnung einer solchen Dialektik und die Reduktion des Anderen auf ein „Böses“, beschädigt als verzerrende Weltsicht und als unzureichende Grundlage zuallererst die eigenen Urteile. Ähnlich wie Immanuel Kant sich mit der Einhaltung des kategorischen Imperativs gegen die Lüge ausspricht, um die eigene Integrität nicht zu gefährden – weil man nämlich nicht mehr weiß, wie und wann man gelogen hat – so wirkt auch das Bild eines Feindes, mit dem man sich nicht gemein machen will, auf den Verteidiger zurück. Zumindest das ist an Carl Schmitts Freund-Feind-Dialektik, die ansonsten zu Verkürzung und Verkennung jeder Lage führt, ein richtiges Moment.[1] Wenn man also dem Anderen vorwirft, eine moralische Gemeinschaft zu verlassen, muss man auch in der Lage sein, eine Selbstkritik zu üben.

Theorie in Anführungszeichen und die soziale Mobilität der Juden
Illouz untersucht also aus ihrer Position heraus in acht kurzen Abschnitten, wie es zum Vorwurf eines neuen moralischen Antisemitismus von Seiten der Linken kommen konnte. Sie nennt unter anderem Angela Davis, Judith Butler und Andreas Malm aus Lund als deren Unterstützer und erläutert das Abhandenkommen einer normalen Mitleidsreaktion mit den jüdischen Opfern der Hamas. Einen Grund dafür sieht sie in einer Theorie der Postmoderne, die sie als „Denkstil einer French Theory“ bezeichnet und im Text konsequent in Anführungszeichen setzt. Damit betrachtet sie die Philosophie aus der Perspektive eines angelsächsischen Pragmatismus und spricht ihr einen Erkenntniswert rundweg ab.[2] Mit Bezug auf Jacques Derrida und Michel Foucault mit ihren strukturrealistischen Theorien der Dekonstruktion und der Macht, identifiziert sie eine systematische Verkennung der Welt. Deren Kennzeichen seien eine Kritik der Aufklärung und Bezüge zu autoritären Denkern wie Marquis de Sade, Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger und Carl Schmitt. Dazu gehöre weiter ein Pantextualismus, wonach es nichts außerhalb des Textes gebe. Der Marxismus werde offiziell verworfen, die neue Struktur der Macht beziehe sich stattdessen auf Begriffe wie Disziplin, Überwachung, Orientalismus. Dazu träten eine überzogene Form der Kritik ebenso wie ein hypostasierter Strukturalismus als haltlose Machttheorie, die alles infiziere.

Mithilfe einer solchen „Theorie“ würden, so Illouz weiter, die Juden aus der Rolle der Verdammten dieser Erde und der Geschichte herausgenommen und nun den Mächtigen zugeschlagen. Eine Konkurrenz unter den Opfern und die Fähigkeit der Juden zu einem sozialen Aufstieg treibe einen solchen Wechsel an. Mit dem Holocaust, dem Status als Minderheiten in anderen Ländern und dem Kampf gegen die britische Kolonialmacht in Israel sollten die Juden aber zu einer solchen Opfergruppierung gehören.

Eine Opfer-Konkurrenz der Minderheiten nun ohne Juden
Illouz erläutert das weiter an der Verbindung von Juden und Schwarzen in den USA und in Frankreich. Historisch gehörten die Juden zu den diskriminierten Minderheiten. Mit dem Holocaust als Kulturbruch entsteht eine Konkurrenzsituation nicht nur zur Lage der schwarzen ehemaligen Sklaven, sondern auch zu anderen Unterdrückten. Indem Israel sich mit westlicher Hilfe im Nahen Osten als Staat der ersten Welt etabliert hat, gebe es vorschnelle Schlüsse. Die Wahrnehmung der Juden als Israelis oder Zionisten erfolge nun insgesamt in verkürzter Darstellung als ein Apartheidsregime. Illouz erläutert, dass eine solche Ideologie dazu beitrage, die Theorie des Dekolonialismus auch noch nach Ende der Kolonien als Superstruktur aufrechtzuerhalten. Damit würden die Ungerechtigkeiten verdeckt, die die neuen Regime sich selber zuzuschreiben hätten.

Dekolonialisierter Islamismus?
In einer Verbindung dieser Theorie mit derjenigen des Dekolonialismus des „globalen Südens“ und dem islamischen Fundamentalismus, wie er auch von der Hamas gepflegt wird, sieht Eva Illouz eine neue absurde Verbindung innerhalb der Linken. Wie sie erläutert, gründet sich in Frankreich 1949 die Bewegung gegen Rassismus, Antisemitismus und für den Frieden MRAP. Aufgrund der sozialen Mobilität der Juden wird die Diskriminierung aber zunehmend nur von Arabern wahrgenommen. 1970 wird Antisemitismus aus dem Titel der NGO gestrichen. Ähnliches passiert mit der Verbindung von Juden, Moslems und Schwarzen in den USA. Neuerdings gebe es auch eine Verbindung der Ökologie- und Klimabewegung und dem Islamistischen Fundamentalismus. Vorreiter sei hier Andreas Malm, Klimaforscher und Aktivist aus Schweden. Damit werde Israel nun auch für die Erderwärmung verantwortlich gemacht. Das sei umso absurder, als die arabischen Länder die größten Erdölproduzenten sind und der Zionismus und der Stadt Israel keinerlei Verbindung zum Erdöl oder zu Kohle aufwiesen. In diesem Zusammenhang agiert auch Greta Thunberg mit ihren Versuchen, per Segelschiff Proviant nach Gaza zu bringen.

Denkerischer Kurzschluss und Identitätspolitik
Auch dieser neue Antisemitismus bleibe damit wie der alte der Trost der dummen Kerle. Illouz macht am Ende zwei Momente aus, die ihn als neuen, sich nun tugendhaft gebenden Hass begünstigen: das schnelle Denken einer kognitiven Leichtigkeit, die Juden nach wie vor für alles Böse verantwortlich zu machen und eine durch bekannte Erzählstrukturen gestützte Tendenz zur „sozialen Identität“, nämlich feststellen zu sollen, „was und wer wir sind“. Gruppen und Klassen aber ständen in einem gesellschaftlichen Kampfverhältnis zueinander. Die Juden entwickelten sich dabei zu einer dominanten Minderheit, die den Antisemitismus zu einer Aktion des Protestes gegen die Herrschenden macht. Das hatte alles bereits Siegfried Bernfeld festgestellt.[3]

Eine notwendige Ergänzung
Illouz führt damit in ihrem Buch eine Reihe artiger Wahrheiten aus, die sich die Linke gegen den immerwährenden Hang zum drohenden Antisemitismus ins Stammbuch schreiben sollte. Sie schließt ihren Text aber im August des Jahres 2024 ab. Übersetzung und Herausgabe führen dazu, dass der Essay erst mit einem Jahr Verspätung auf Deutsch erscheint. In diesem Jahr sind die Geiseln immer noch nicht freigekommen, es hat sich aber der Druck der israelischen Armee und der israelischen Regierung auf Gaza ungeheuer verstärkt. Die Zahl der zivilen Opfer ist auf über 60.000 angestiegen. Ist Illouz‘ Parteinahme für Israel weiterhin gerechtfertigt? Versuchen wir es zunächst mit einer immanenten Kritik. Die Soziologin will in ihrem Text von 2024 eine marxistische Methode von der „French Theory“ absetzen. Diese bestünde in einem Dreischritt: Zunächst das Bestehende zu kritisieren, dann zu sagen, was sei und schließlich die Möglichkeiten dieser Kritik auch in der verzerrten Ideologie für die Zukunft auszuloten. Illouz‘ Text selbst bewegt sich allerdings nur innerhalb des ersten Feldes. Sie deutet auf blinde Flecken der Selbstkritik in der Theorie des sogenannten globalen Südens, der Dekonstruktion und des postmodernen Denkens insgesamt. Um nun zu dem zu gelangen, was auch Rosa Luxemburg für das Wesentliche an einer Theorie hält, nämlich zu sagen, was ist, muss diese sich der anderen Seite der eigenen Position stellen. In diesem Fall ist das die überzogene Reaktion Netanjahus und seiner rechtsradikalen Regierung mit Korruption, Klientelpolitik der Siedler und der Hügeljugend sowie mit Beziehungen zu dem sich selbst immer autoritärer und erratischer gebärdenden Regime Donald Trumps. Das versäumt Illouz in ihrem Essay von 2024. Sie beginnt es allerdings anscheinend in einem Interview nachzuholen, dass sie im September 2025 der Süddeutschen Zeitung gibt. Dort heißt es nach einer längeren Passage über Moralismus in den USA anlässlich des Todes von Charlie Kirk nun über ihren eigenen Essay:

»Wir sollten den Antisemitismus bekämpfen und zugleich Netanjahus Regime und seine verrückte Regierung, die so viele Menschen, Palästinenser und Juden in Israel, zur Verzweiflung treibt. Es gibt keine Schwierigkeit, beides gleichzeitig zu tun, und dennoch hat die Linke zu oft das eine oder das andere gewählt.[4] «

Ein dialektisches Denken sollte damit schließlich auch den dritten Schritt erlauben. Nämlich ein Israel, ohne seine rechtsradikale Regierung ebenso zu denken wie ein Palästina, das sich von der Hamas befreit.

[1] Vgl. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen (1917/1923). Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin: Duncker & Humblot 2015.

[2] Hier bezieht sie sich auf das Buch von Bruno Chaouas, Ist Theorie gut für die Juden? Das fatale Erbe französischen Denkens, Berlin 2024.

[3] Vgl. Siegfried Bernfeld, Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung (1925), Frankfurt/M: Suhrkamp 1967.

[4]Die Linke ist einem Gefühl der moralischen Überlegenheit erlegen.“ Der Kulturkampf tobt derzeit so heiß wie noch nie. Die Soziologin Eva Illouz im Gespräch darüber, wie es ihrer Ansicht nach dazu kommen konnte.  Süddeutsche Zeitung vom 23 September 2025, S. 10.

Artikel online seit 29.09.25
 

Eva Illouz
Der 8. Oktober
(frz. 2024)
Suhrkamp 2025
Aus dem Französischen von Michael Adrian

103 Seiten
12,00 €
978-3-518-47530-0

Leseprobe & Infos

 


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