Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik                                           Impressum & Datenschutz

 

Home   Belletristik   Literatur & Betrieb  Krimi   Biografien, Briefe & Tagebücher   Politik   Geschichte   Philosophie  


 







In gespannter Ruhe

Zu Hugo Dittberners Erzählband »Der Professor im Keller«

Von Jürgen Theobaldy

Als der schweizerische Nimbus Verlag vom Romancier, Lyriker und Essayisten Hugo Dittberner mit “Der Professor im Keller” eine stimmige Auswahl aus seinen Erzählbänden zum 80. Geburtstag im November 2024 herausgab, konnte Norbert Hummelt im Tagesspiegel “nicht genug staunen über die frische Lesbarkeit der Texte”, die hauptsächlich zwischen 1973 und 1986 im Rowohlt Verlag erschienen waren. Und im Deutschlandfunk Kultur schloss Sieglinde Geisel ihren Beitrag: “Hugo Dittberners Prosa hat das Zeug zum Klassiker”. Seltsam, dass zwei derart eindeutige Urteile die einzigen überhaupt blieben und der runde Geburtstag des Autors nicht einmal von der Frankfurter Rundschau gewürdigt wurde, obschon Dittberner ihr bis zirka 1996 eine Menge kluger, bis heute lesenswerter Beiträge lieferte. Damals war in den Feuilletons viel von der Unmöglichkeit, noch zu erzählen, die Rede. Wo das sogenannte spätbürgerliche Individuum nurmehr zum grauen Anti-Helden zu taugen schien, sollten nicht Geschichten, Stories oder Erzählungen, sondern schlicht Texte, behelfsmäßig auch Prosa genannt, sich mit der Reflexion über ihre gesellschaftlichen und literarischen Bedingungen in der Moderne behaupten.

Hugo Dittberner hat derlei Überlegungen, wenn nicht modische Skrupel, verworfen und das Reflexive oft in die Titel seiner Erzählungen und in packende erste Sätze gesteckt. “Der Neffe will es wissen. Das ist gut.” Oder: “Gänsefüßchen machen mich verlegen.” Oder: “Die Familienverhältnisse bei den Wehrhahns waren etwas kompliziert. Nur Elfriede, die Mutter, gehörte immer dazu.” Wer so beginnt, hat darüber nachgedacht, was er wie erzählen will, er signalisiert eine Sicherheit, der sich Leser anvertrauen k
önnen, ohne ihr Urteilsvermögen dranzugeben. Im Nachgang des Wirtschaftswunders gestalten Dittberners Akteure in kleineren, solide gepflegten Städten oder “draußen auf dem Dorf” ihren anspruchsvollen Alltag, was sie mitunter letzten Fragen aussetzen kann. Auch die finsteren zwölf Jahre davor reichen in ihre westdeutsche Gegenwart, in der Pandemien in Europa ähnlich undenkbar waren wie ein militärischer Überfall auf einen Nachbarstaat. Wer zu lesen beginnt, fühlt sich eingeladen, mitzugehen, ja mitzuschwingen, und lässt sich von unverhofften Wendungen ebenso überraschen wie von einem so unerwarteten wie plausiblen Schluss verblüffen. Dittberners Beschreibungen einzelner Personen kommen weder lakonisch verknappt noch ausschweifend daher, sondern wohldosiert, und das sitzt: Ein Schuldirektor war “ein großer hagerer Mann Mitte vierzig, der grüne Cordanzüge trug und in seiner Freizeit für angesehene deutsche Zeitschriften Satiren schrieb.” Und dieser Direktor will einem Schüler gerecht werden, der sich nicht gern “überdeutlich behandeln” lässt. Im Protagonisten der Titelerzählung werden vom Zeitgeist durchwehte Leser schnell einen der weißen alten Männer ausmachen, denen die Völker der Welt viel koloniales Unheil verdanken. Aber dann scheint der Professor von selbst in seine persönliche Katastrophe hineinzusteuern, wenn er in den Sommerferien erst in den Weinkeller schaut, bevor er sich an den Schreibtisch setzt und sich zwischendurch mit bissigen Kontern den politisierten Sohn vom Leibe hält. In der menschenfreundlichen Stimmung von Dittberners Erzählungen wird er am Ende des Sommers die Kurve kriegen und statt seinen Essay über einen deutschen Gouverneur auf Samoa zu vollenden, auf seine alten Tage in das familiäre Leben einschwenken. Befreit vom spröden wissenschaftlichen Ehrgeiz ist er ein bisschen weiser geworden, wie auch der nicht mehr ganz junge Stadtrat in “Der letzte Schritt”, dessen Liebesnot nach einem zufälligen Treffen in der Fußgängerzone noch einmal aufreißt und ihn zu einem Anrennen gegen den Tod antreibt.

In der Germanistik hat man das im weiten Sinn realistische Erzählen gern als welthaltig bezeichnet, mal positiv bis polemisch gegen experimentellen Leerlauf gewendet, mal stark abwertend gemeint, sobald das Inhaltliche die Form zu zerdrücken schien. In Dittberners Erzählungen ist dieser Zwiespalt aufgehoben, woran die Vielfalt an Tönen, die sie anschlagen, ebenso ihren Anteil hat wie das Timing für den treffenden Ausdruck, die gezielte Wende. In der das Buch eröffnenden “Eine Flasche Brandy” kommt es zum sommerlich lockeren Zufallsplausch, bis er einer unverhohlenen Anmache bedrohlich ähnelt, der sich eine junge Frau gerade noch mit einem handfesten Scherz entzieht. Im aberwitzigen “Besuch im November” ist es nach “einem feinen hellen Geräusch” in der Küche mit “deutscher Wertarbeit” vorbei, und ein überfallartiger Besucher guckt den Mann in der Tür “genau und rücksichts
los” an. Ihr scheinbar gesittetes Gespräch wird zum intellektuellen Duell zwischen einem eigenwilligen Fabrikanten mit Guru-Qualitäten und einem etwas verladenen Bonvivant, der erst am Abend erkennt, was ihm geschah. Dagegen verläuft “Eine Reise nach Wick” direkt erholsam, selbst wenn der wohlgemute Erzähler schon morgens um zehn einem gefährlich leutseligen Trunkenbold standhalten muss, bis der ihn schließlich doch in seinem Glauben vielleicht nicht an das Gute, aber an das Umgängliche im Menschen bestärkt.

Daneben gibt es in Dittberners Auswahlband dialogfreie Lebensgeschichten, die scheinbar nur durch Zufälle und doch schwer aufhaltsam ins Unglück abtriften. “Das Kriegsopfer” kündet schon im Titel vom Ausgang aus den finstersten Jahren deutscher Geschichte und macht aus einer Siedlung voll skeptischer Beobachter eben der Familie Wehrhahn nach Jahren eine “Trauergemeinde”.

All das wird nicht plan erzählt. Im Mittelteil von “Scheveningen” wechselt die Perspektive so radikal, dass man sich in eine andere Geschichte versetzt meint. In “Sina” beginnt der Apotheker Fehr sein Erlebnis ausdrücklich mit einem kursiven “ich” in direkter Rede, und dann lesen wir doch in der Er-Perspektive weiter, denn es sind die Sätze des Autors Dittberner, mit denen Fehr seinen Zuhörer, den Steuerberater Friedrich, erregt. Und
verkörpert ein Geschenk eine hintersinnig üble Kränkung oder ist die Schenkende halt ein unbedarftes Wesen? Solche schillernden Ambivalenzen dürfen gespürige Leser selbst entscheiden oder so stehen lassen, ohne sich damit ein Leseglück zu vermiesen, das sich dem Raffinement eines wissenden, so gut wie nie sich einmischenden Autors verdankt. Hierzu gehört auch, dass Dittberner völlig uneitel schreibt, während er mit seinen Formulierungen ins Zentrum trifft, und das gilt schon für die Namen, die er vergibt. Nie charakterisierend oder plump beredt, verleihen sie den auftretenden, an ihrem Tun und Lassen schaffenden Personen einen ersten Umriss.

Manche Qualitäten von Dittberners Erzählungen sind derart offensichtlich, dass man sie kaum bemerkt, etwa so wie eine literarische Form nachhaltig wirkt, indem sie sich vergessen macht. Das hat die erzählende Prosa von Anfang an mit Dittberners Gedichten gemein, dieses ernste, dennoch nicht verbissen geübte “Spiel mit der Beiläufigkeit, dem Unterstatement”, wie es sich im gesamten Werk entfaltet: durchdrungen von Stimmungen und Kontroversen der letzten zweiten Jahrhunderthälfte, herabgedimmt auf Menschen, die jenseits der internationalen Politik miteinander auskommen wollen und das, bisweilen unter Verlusten, auch irgendwie hinkriegen. Dieses Irgendwie nimmt sich Dittberner auf eine mitreißende, nie abschätzige Weise vor, und er muss dabei weder die eigene Biografie zum Steinbruch machen noch aus historischen, mittlerweile leicht zu recherchierenden Dokumenten Funken schlagen. Ihm geht es um das Erzählen, nicht um das Bekennen, und letztlich sind es immer die Wörter, die ganz eigenen Sätze, die alles ausmachen. Sie haben einen verstärkten Gehalt an scheinbar schlichten Bedeutungen, sie warten mit kaum spektakulären, doch oft frappanten Einfällen auf, und sie kehren
an alltäglichen Dingen und Ereignissen sinnliche Einzelheiten hervor, die die Aufmerksamkeit beim Lesen schärfen, etwa wenn es von einem eingenickten Fahrgast im Zugabteil heißt: “das Gesicht war gerötet als strenge ihn das Schlafen an.”

Hugo Dittberner, der umstandslos und souverän Erzählungen startet und fortschreibt, hat in seiner kleinen Schrift “
Arche Nova” 1998 ausgerechnet die typologisch kaum fassbare “Aufzeichnung” als “literarische Leitform” ausgemacht. Leitform heißt bei ihm, dass sich “zu einer bestimmten Zeit das Faszinosum der Literatur in einer bestimmten Form sammelt” und hiermit die allein schon ökonomische Vormacht des Romans unterläuft. Und doch sind Aufzeichnungen eben auch “ein Parterre der Literatur, in dem eine konstatierende, chronikale Grundordnung herrscht”. Dittberner gelingt das schwierige Unterfangen, die Aufzeichnung fast als Gattung zu fassen, obwohl sie gerade nicht “prägnante Form” sein will, vielmehr die “Formulierung” ihr das Eigentliche ist, “ein Flüchtiges als Resultat”.

Kluge Einsichten blitzen in seinen zahlreichen, noch in den Nullerjahren in TEXT+KRITIK erschienenen Essays schon im Titel auf: “Tänzelnd und böse” zu Nietzsche, “Sätze wie Rufe” zu Yasunari Kawabata, “Literatur vom Blatt” zu Arno Schmidt, zum “Mann in der Manege“ namens Reich-Ranicki, zum “Sensationsdichter” Kleist. Verhalten und bestimmt zugleich spricht Dittberner von seinem “Versuch zu rühmen”, und “Wohltäter” sieht er in Größen wie Jean Paul oder Mme de Stael, in Fontane oder Patricia Highsmith, in Mark Twain oder Virginia Woolf und einer Menge anderer. Bücher können also Wohltaten sein. Wer sie auskostet, dem oder der wird das ein sinnvolles Tun sein: unter anderem eine Antwort auf die periodisch vorgebrachten Zweifel am Erkenntnis- und Genusspotenzial von Literatur. In den ersten Sätzen über “Wielands Auferstehung” finde ich vieles von Dittberners eigenem Ansinnen angestoßen: Nichts falle “schwerer als über das Leichte nicht läppisch zu reden. Über das Gefällige nicht herablassend zu urteilen. Die Zartheit, auf die Dauer, nicht zu übersehen. Die Wahrheit nicht doch im Abgründigen zu suchen. Und die Weisheit nicht für ein Zitat der Alten zu erklären.” Indem sich Dittberner solchen Sätzen stellt, statt sie ohne weiteres als wahr auszubreiten, gelingt ihm ein Werk, worin zeitgebundene, die Sprache nicht ritzende Einzelheiten wie eine Telefonzelle, wo heute Handy stehen würde, nur bestätigen, dass es seit Jahrzehnten der deutschsprachigen Erzählkunst angehört, weil es sie bereichert.


Artikel online seit 20.04.25
 

Hugo Dittberner
Der Professor im Keller
Erzählungen
Mit einem Nachwort von Manfred Papst
Nimbus Verlag
Band 11 der Reihe «unbegrenzt haltbar»
246 Seiten
28,00 €
978-3-03850-100-8

 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Literatur   Krimi   Biografien, Briefe & Tagebücher   Politik   Geschichte   Philosophie    Impressum - Mediadaten