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Marseille, Nadelöhr zur Freiheit

Uwe Wittstocks dokumentargesättigte Faktensammlung »Marseille 1940«

Von Gregor Keuschnig
 

Vor dreieinhalb Jahren verfasste Uwe Wittstock mit Februar 33 eine akribisch geführte, rasant erzählte Stoffsammlung über die Veränderungen im deutschen Kulturbetrieb nach der Machtübernahme durch die Nazis am 31.1.1933. Schwerpunkte waren Berlin und München. Parallel zu den Sorgen und Nöten der Künstler, die nicht selten schnell lebensbedrohliche Ausmaße annahmen, gab es Erläuterungen, wie die Nazis ihre Macht zu festigen begannen. Dabei verblüffte, wie schnell und zugleich strukturiert die gesellschaftliche und juristische Infrastruktur transformiert wurde. In nur wenigen Wochen besetzte man wichtige Positionen in Verwaltung, Polizei und Justiz mit SA- oder NSDAP-Leuten.

Mit Marseille 1940 legt Wittstock nun abermals ein historisch grundiertes Buch vor. Diesmal werden die Fluchtwege der deutschen Exilanten, die in Frankreich Schutz gesucht hatten, nach dem Angriff der Wehrmacht im Mai 1940 erzählt. Untertitelte man Februar 33 als "Winter der Literatur", so soll in Marseille 1940 "Die große Flucht der Literatur" gezeigt werden. Vielleicht wäre der im Vorwort entwickelte Begriff des "Dramas der zweiten Flucht" (nach Deutschland nun Frankreich) noch treffender gewesen.

Marseille 1940 ist streng chronologisch aufgebaut, beginnt allerdings mit der Schilderung von zwei Tagen im Juni 1935. Der damals 27jährige amerikanische Journalist Varian Fry will sich ein Bild über den europäischen Faschismus machen und hält sich in Berlin auf. Er wird Zeuge eines brutalen SA-Überfalls auf tatsächliche oder vermeintliche Juden. Zum ersten Mal während seines wochenlangen Aufenthalts in Deutschland ist er mit der hässlichen Fratze des Straßenterrors der Nazis direkt konfrontiert. Fry schreibt einen Artikel über den Vorfall für die New York Times und befragt in Berlin Ernst Hanfstaengl, damals Leiter des Auslandspressedienstes. Hanfstaengl, wie Fry ein Harvard-Absolvent, beschönigt zur Überraschung des Amerikaners nichts, gibt die Inszenierungen solcher Provokationen zu und entwickelt unter mehreren Möglichkeiten ein Zukunftsszenario, das für Juden in einem "Blutbad" enden könne. Die sei, so Hanfstaengls Vermutung, abhängig davon, welche Gruppe sich innerhalb der NSDAP durchsetzen sollte.     

Dies war ein zentrales Erlebnis für Fry, der fünf Jahre später "Cheflektor der Foreign Policy Association geworden ist, einer wohlhabenden Stiftung, die mit den Headline Books eine Buchreihe zu außenpolitischen Themen herausgibt". Seine Warnungen vor Hitler stießen im Heimatland auf wenig Gehör; die USA will mit dem Krieg in Europa nichts zu tun haben. Fry trifft sich mit dem Journalisten Paul Hagen (eigentlich Karl Frank), der ihm davon erzählt, wie die Nazis in eroberten Ländern sukzessive nach Juden und unliebsamen Intellektuellen suchen und diese inhaftieren. Man beginnt Rettungspläne zu entwerfen und gründet das "Emergency Rescue Committee" (ERC). Wichtig ist, jeden Anschein, dass hier eine Ideologie verbreitet werden soll, zu vermeiden. Es soll ausschließlich um die humanitäre Rettung von Künstlern und Intellektuellen gehen. Ein anderer Zweig des Komitees bemüht sich um Sozialdemokraten und Gewerkschaftler. Auf der ersten Spendenveranstaltung Ende Juni 1940 in New York spricht Erika Mann. Man sammelt 3400 Dollar, ein Anfang. Als vier Wochen später Thomas Mann eine Spendensammlung organisiert, nimmt dieser 4500 Dollar ein.   

Wittstock entwickelt nun mehrere, zeitlich parallele Erzählstränge aus unterschiedlichen Orten. Da ist der aristokratische Lion Feuchtwanger mit seiner Frau, die umtriebige Grande Dame Alma Mahler-Werfel mit ihrem manchmal unpraktischen Ehemann Franz Werfel, der eher kränkliche Heinrich Mann mit seiner „peinlichen“ Frau Nelly, der agile tschechische Staatsbürger Golo Mann, der unbedingt gegen Hitler kämpfen möchte und daher sein Refugium in der Schweiz aufgibt, um in einer wahren Odyssee durch Frankreich zu stolpern (inklusive Lageraufenthalt). Es gibt den "rührend unbeholfene[n]" Walter Benjamin, der seine Tasche mit Manuskripten für wertvoller erachtet als sein Leben und zwischenzeitlich mit Hannah Arendt in Lourdes Schach spielt. Man bekommt Einblicke auf den labilen Walter Mehring und seiner stabileren Freundin, der Schauspielerin und Literaturagentin Hertha Pauli. Da ist das Kommunistenehepaar Fittko, der kraft- und mutlose Ernst Weiß, der sich aus Verzweiflung umbringen wird und eine resolute Anna Seghers, mit ihren Kindern hin- und herirrend zwischen Paris, der französischen Provinz und Marseille. Später kommen die Schicksale von Max Ernst, André Breton, Alfred Kantorowicz noch dazu. Man lernt die die junge Erbin und Lebedame Mary Jayne Gold kennen, die als Geldgeberin nicht unwichtig werden wird wie auch Peggy Guggenheim. Letztere nutzt zunächst einmal die Gunst der Stunde: Der scheinbar unaufhaltsame Vormarsch der Nazis auf Paris veranlasst etliche Künstler so schnell wie möglich zu fliehen. Guggenheim fährt mit gut gefüllter Geldbörse die Ateliers ab und kauft auf diese Weise binnen kurzer Zeit "großartige Werke zu Spottpreisen". Dass sie selber Jüdin ist und mit den im Laufe der Zeit immer restriktiveren Gesetzen Probleme bekommen könnte, kümmert sie kaum.    

Inzwischen hat Frankreich kapituliert; in Vichy etabliert sich eine Marionettenregierung unter dem greisen Pétain, der den Nazis nicht abgeneigt ist. Dem ERC läuft die Zeit davon. Fry trifft nach endlosen Vorbereitungen erst Anfang August 1940 in Marseille ein. Der Rückflug ist für den 29.8. gebucht. Er hat die Aufgabe, die Lage in Marseille zu klären und Mitarbeiter einzustellen. "Von illegaler Fluchthilfe ist in seinem schriftlichen Arbeitsvertrag nicht die Rede." Mit dabei hat er 300 Dollar, die er illegal einschmuggelt und eine Liste der 200 "meistgefährdeten Künstler und Schriftsteller."    

Marseille hatte in drei Monaten rund 500.000 Flüchtlinge aufgenommen. Die Lage in der Stadt war katastrophal. Schnell wurde deutlich: Mit der bloßen Administration wird man den Flüchtlingen nicht gerecht werden. Der Andrang auf das behelfsmäßig eingerichtete ERC-Büro ist enorm. Fry braucht Mitarbeiter. Es kommt auf seine Menschenkenntnis an; Spitzel kann er nicht gebrauchen. Den Rückflug-Termin hat Fry schnell storniert.

Durch die Umstände erzwungen, entwickelt sich rasch eine spezielle Form der Schleppertätigkeit über die französisch-spanische Grenze auf dem Landweg; der Hafen ist vorerst nicht zu gebrauchen. Dabei sind die bürokratischen Hürden für das Wunschland USA hoch. Wer früher für eine kommunistische Organisation tätig war, kann seine Hoffnungen sofort begraben. Die Flüchtlinge brauchen einen Bürgen in den Staaten, der zur Not ihre Verbindlichkeiten übernimmt. Sie müssen zudem ein "Moral-Affidavit" vorlegen, "eine Art Leumundszeugnis, durch das ihnen ein sowohl sittlich wie politisch einwandfreier Lebenswandel bestätigt wird." Schließlich muss man ausführen, wie groß die Bedrohungssituation ist. USA-Visa gibt es nur begrenzt; die Behörde in den Staaten braucht lange bis zur Entscheidung. Roosevelt hat Kontingente eingeführt; sehr zum Ärger der First Lady Eleanor. (Hierüber kann man bei Nicholas Baker in Menschenrauch einiges nachlesen.) Später wird man Visa für Brasilien, Mexiko und vor allem Martinique ins Auge fassen.

Neben diesen Hürden müssen peinlich genau die örtlichen Vorschriften eingehalten werden. Es geht um lokale Aufenthaltsscheine, Aus- und Durchreisevisa, die nur zeitlich befristet sind und gegebenenfalls erneuert werden müssen, wenn die Antwort aus den USA auf sich warten lässt. Schließlich engagiert der ungeduldige Fry mit Bil Spira (bzw. Bil Freier) einen Wiener Zeichner, der französische Ausweispapiere fälschen kann. Fry und seine Mitarbeiter professionalisieren die Routen, entwickeln neue Fluchtmöglichkeiten, finden Begleiter, die den Flüchtenden Orientierung gibt. Ziel ist fast immer Portbou in Spanien, eine hässliche, im Bürgerkrieg arg mitgenommene Stadt – aber eben die erste Station auf dem Weg zur Rettung. Von hier aus geht es wie auch immer nach Lissabon. Dort braucht man Zeit und Glück, um auf ein Schiff zu kommen. Die Logistik, den diversen bürokratischen Anforderungen gerecht zu werden, ist eine Herkulesaufgabe.

Ein kleiner Höhepunkt des Buches ist die Überquerung der Grenzregion durch die Werfels und die Manns. Traurig hingegen die Schilderung, die zu dem impulsgesteuerten, nachträglich als sinnlos zu bezeichnenden Freitod Walter Benjamins führte. Wittstock blieb seinem Prinzip, bei widersprechenden Quellenaussagen diejenige zu verwenden, die näher am Geschehen war, treu. Dennoch hat er sich bisweilen von den überbordenden Informationen, die er aus seinen am Ende zahlreich genannten Quellen destillierte, verführen lassen. So erfährt man, dass der schwarze Pudel von Mary Jayne Gold Dagobert hieß und nicht schreckhaft war. Die Passagen über das Liebesverhältnis von Gold mit einem zwielichtigen Ganoven bekommen ausgiebig Raum. Das gilt auch für die Ereignisse um die Villa Air Bel ab November 1940, die Gold für die vorläufig Gestrandeten anmietete, obwohl man einiges über André Breton und das Verhältnis zu Max Ernst erfährt. Bis zum Schluss werden für jeden einzelnen "Fall" alle bürokratischen Einzelheiten, Unzulänglichkeiten und Ausnahmen ausgebreitet, was zuweilen ermüdet.

Dennoch gibt es auch markante Überraschungen. Etwa, als sich Eleanor Roosevelt, für die es eigentlich nicht genug Einreisevisa in die USA geben konnte, plötzlich darüber echauffierte, dass Max Ernst und Luise Straus-Ernst auf einem Visum einreisen wollten. Der First Lady gefiel dies nicht, weil die beiden seit 1926 geschieden waren. Dabei erfährt man nebenbei, dass sich unverheiratete Paare auf der Überfahrt sicherheitshalber haben trauen lassen. Max Ernst wollte Luise nochmals heiraten, vergaß jedoch dabei, dass er auf dem Papier noch mit einer anderen Frau verheiratet war. Luise Straus-Ernst nahm den Vorfall auf die leichte Schulter und tauchte später in Frankreich unter. Am Ende erfährt der Leser, dass sie 1944 in Auschwitz ermordet wurde.

Sehr gelungen ist die Darstellung der "Radikalisierung" von Varian Fry, der alles seiner selbstgestellten Aufgabe unterordnete, so viele Menschen wie möglich zu retten. Wittstock stellt klar, dass damit nur in den seltensten Fällen "gewöhnliche" Menschen gemeint waren, sondern eben die "Zielgruppe" der Künstler und Intellektuellen. Fry liebäugelte zwischenzeitlich mit der Fluchthilfe für britische Soldaten, die in Marseille mehr oder weniger gefangen waren. Damit hätte er jedoch die politische Neutralität der Organisation riskiert. Zunehmend wurden seine Aktivitäten in den USA misstrauisch beäugt. Auch Frys Frau sendete unmissverständliche Signale. Sie wollte ihren Mann zurück, eine Familie gründen. Ihr wurde zugetragen, Fry habe eine homosexuelle Affäre mit einem Mitarbeiter.

Als einige der Geretteten im Exil erklärten, wie das ERC vorging, horchte man auf. So hatte man sich das nicht vorgestellt bzw. so genau wollte man das nicht wissen. Fry wurde mehrfach aufgefordert, zurückzukommen und verlor sukzessive die Unterstützung. Er, der häufig Schwierigkeiten mit Autoritäten hatte, ignorierte alle Anweisungen. Auf das Geld des Komitees war er nicht mehr angewiesen; Gold und Guggenheim waren eingesprungen. Auch als er schon längst von ESC abgesetzt wurde und die Nachfolger in Marseille erschienen waren, hörte er nicht auf und sabotierte trickreich seine Widersacher. Erst als der Entzug des US-Einreisevisums drohte, musste er sich geschlagen geben. Am 2. November 1941 betrat Varian Fry nach einigen Wirrungen wieder amerikanischen Boden. Das ERC wurde im Juli 1942 aufgelöst.

Wittstock skizziert in der ausführlichen Nachbetrachtung das Leben von Varian Fry nach der Rückkehr. Die Frau ließ sich scheiden, er verheiratete sich wieder. Beruflich konnte er seinen Fähigkeiten gemäß kaum noch Fuß fassen. Sein 1945 herausgekommenes Buch über die Rettungsaktionen fand wenig Beachtung. Er verfiel zusehends in "Bitterkeit, Aggression und Depression". Sein Antikommunismus weckte Argwohn bei den Linken in den USA, die den McCarthyismus fürchteten. Fry litt unter dem "Mangel an Anerkennung", übrigens auch von den Geretteten selber, die, wie Wittstock weiß, in ihren Autobiographien und Aufzeichnungen für die Rettung und die Retter, wenn überhaupt, nur Nebensätze übrig hatten. Fry wird "wahlweise als Quäker, Unitarier, Diplomat oder Universitätsprofessor ausgegeben. In einigen Autobiografien, wie in der von Heinrich Mann, wird er nicht einmal erwähnt, fast so als sei Fluchthilfe für prominente Autoren eine Art Servicebetrieb, dessen Personal nicht weiter genannt werden muss." Bis heute sei, so Wittstock, keine Biographie dieses Mannes erschienen, der 1967 mit 59 Jahren an einem Gehirnschlag starb. Als erster US-Amerikaner (von insgesamt nur fünf) wurde Varian Fry 1994 der Status "Gerechter unter den Völkern" zuerkannt.

Nach dieser dokumentargesättigten Faktensammlung ist es nicht empfehlenswert, sich die Netflix-Schmonzette Transatlantic anzutun, in der ab Mitte der Folge 2 zunehmend eine Verramschung einst real existierender Personen und Ereignisse vorgenommen wird. Dass bereits nach einer Minute aus Mary Jayne Golds schwarzer Pudel ein weißer Terrier ist, erscheint am Ende als lächerliche Petitesse. Was man diesen Personen (die sich nicht mehr wehren können), allen voran Varian Fry, antut, ist von einer bodenlosen Frechheit. Der einzige Lichtblick sind die wenigen Szenen mit Moritz Bleibtreu als Walter Benjamin. Wer an der Thematik interessiert ist, sollte bei Wittstock bleiben.

Artikel online seit 15.02.24
 

Uwe Wittstock
Marseille 1940
C.H. Beck
351 S., mit 28 Abbildungen und 2 Karten
26,00 €
978-3-406-81490-7
Leseprobe & Infos


 

 


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