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Wölfe statt Pferde

Über Moshe Zimmermans
Unorthodoxe Sichtweisen auf Israel und den Gazakrieg.
»Niemals Frieden? Israel am Scheideweg«
 

Von Wolfgang Bock
 

Palästina oder Eretz Israel? Die Verwirrung der Begriffe
Der renommierte Historiker Moshe Zimmermann (*1943) ist eine liberale und selbstkritische Stimme aus Israel, der die deutschen Verhältnisse genau kennt. Sein Buch ist auf Deutsch und für Deutsche geschrieben. Es beginnt mit einem Prolog, wo er sich mit den verschiedenen Konzepten hinter den Sprachen auseinandersetzt. Er ist überschrieben mit: Palästina oder Eretz Israel? Vorbemerkung zu einigen Begriffen. Er findet in seinem aktuellen Essay eine instruktive Form, die nicht nur Statistiken, Daten und Fakten im Kontext darbietet, sondern auch voller Anekdoten, Fabeln und Parabeln ist. Sein klarer Stil ist einfach und komplex zugleich und ersetzt den Überbau der Parolen, die die Diskussion in den Medien ansonsten weitgehend bestimmen. In vierzehn Kapitel widmet er sich den wichtigsten Fragen zur raison d’être, der Existenzberechtigung Israels und des Hintergrunds des Gazakrieges.

Für ein anderes Israel. Gegen politische und religiöse Vorurteile aus dem Innern der Unruhe
Zimmermann räumt aus der Sicht eines Kritikers der israelischen Politik mit den gröbsten Vorurteilen auf, die in Deutschland gegenüber Israel und den Juden herrschen. Er selbst stammt aus einer Hamburger Familie, die vor den Nazis nach Palästina geflüchtet war. Seine Perspektive auf die Lage nach der Razzia der Hamas am 7. Oktober 2023 bleibt kritisch und solidarisch auf den Staat Israel gerichtet. Als den größeren Feind macht Zimmermann die restriktive Politik der Siedler und der fundamentalistischen Orthodoxen aus, die durch Benjamin Netanjahu seit fast 20 Jahren die Politik bestimmen. Die restliche Bevölkerung, aber auch die Diasporajuden in den anderen Ländern, sieht Zimmermann durch die Politik des Siedlungsbaus in den besetzten Gebieten als Geisel genommen. Ihre oft auch familiäre Verbindung mit Israel führe sie in eine double bind - Situation: Sie sind gegenüber der Großmachtpolitik, die Netanjahu und seine vierzig Ministerinnen und Minister (für manche Posten gibt es aus Gründen des Parteienproporzes zwei Personen) unternehmen, mitgefangen und mitgehangen.

Das trifft auch auf Deutschland und die Rede von Israels Existenzrecht als „deutsche Staatsraison“ zu, die von Angela Merkel im März 2008 im Mund geführt und von Olaf Scholz im Oktober 2023 wiederholt wurde. Wenn es eine solche Solidarität der Deutschen aus Einsicht in die eigene Schuld mit Israel gebe, so sollte sie nach Zimmermann an die demokratischen Traditionen des Landes anschließen und nicht an die neoimperialistischen. Denn Netanjahus Politik zeichne sich vor allem dadurch aus, dass er alles darangibt, die völkerrechtswidrige Siedlungspolitik in den annektierten Gebieten des Westjordanlandes voranzutreiben. Bibi mache das nicht nur aus persönlichen Gründen (um von seiner Korruption abzulenken), sondern vor allem aus einer Position eines Ganz-Israels (Eretz Israel ha’schlema) heraus. Zimmermann weist darauf hin, dass durch solches Vorgehen nicht nur die Grundlage einer Solidarität Deutschland und anderer befreundeter Nation aufgekündigt werde, sondern auch die hehre Idee von Israel als einziger Demokratie in der Region des Nahen Ostens zugunsten einer Theokratie (Zimmermann spricht sogar vom politischen Ist-Zustand als „Kakistokratie“, gr.: „Die Herrschaft der Schlechtesten“). Auf diese Weise verspiele Israel sämtliche Sympathien der demokratischen Weltgemeinschaft und nähert sich der Staatsdoktrin eines autoritären Staates an.

Zwischen den Fronten
Wohlgemerkt argumentiert Zimmermann aus einer aufgeklärten solidarischen Position mit Israel als offener und demokratischer Gesellschaft. Er kritisiert den rechten Antisemitismus ebenso wie den linken aus dem Lager der Postkolonialisten, die sich etwa auf Frantz Fanon oder Achille Mbembe beziehen wollen. Als ein solcher Kritiker sitzt Zimmermann zwischen allen Stühlen:

»Als Beobachter des Nahost-Konflikts wie auch als Historiker, der mit der Geschichte Israels vertraut ist, gerät man jedoch zwischen Scylla und Charybdis — einerseits die pauschalen, teilweise antisemitisch motivierten Versuche der Delegitimierung des zionistischen Unternehmens unter einem postkolonialen Deckmantel, andererseits die Handlungsweisen der israelischen Politik und der israelischen rechts-nationalistischen Regierungen, die es den Vertretern der postkolonialen Rechthaberei leicht machen, ihre Vorwürfe, gelegentlich auch Ihre Vorurteile gegen Israel und den Zionismus bestätigt zu bekommen. Vor allem die Regierung, die in Israel im Jahr 2023 entstand, mit rechtsextremen Ministern und mit einem fundamentalistisch-rassistischen Programm sowie nicht zuletzt der Art des Krieges, den sie in Gaza rührt, liefert diesen Postkolonialisten (nicht nur in Deutschland) Wasser auf die Mühlen.« (S: 76)

Jüdisch oder demokratisch?
Als Historiker widmet sich Zimmermann der Vorgeschichte des Staates Israel, die nicht erst mit Theodor Herzls Programm eines Judenstaats und Altneulands beginnt, sondern mit dem Großmachtstreben des Osmanischen Reiches. Dessen wichtigster Verbündeter war das Deutsche Kaiserreich und hier spielen die späteren Siegermächte des Ersten Weltkriegs Frankreich, England und die USA eine unrühmliche Rolle. Die mehr oder weniger willkürliche Benennung der einzelnen Regionen und Nationen im Nahen Osten als Staaten, die abstrakte Ziehung ihrer Grenzen und die nicht erfolgte Trennung von Moschee und Staat unterliegen dem Machtkalkül der komplexen Einflusssphären dieser Kolonialmächte seit dem späten 19. Jahrhundert. Aber auch die moderne Entwicklung des Judenstaates von den Vorstellungen Herzl und Ben-Gurions hin zu den seit den Eroberungen von 1967 zunehmenden Visionen von Großisrael und schließlich dem „Nationalstaatsgesetz“ vom 18. 7. 2018, bereiten Zimmermann mit Recht große Sorgen. Denn in diesem Gesetz, das die Zukunft bestimmen wird, ist das Arabische als zweite Amtssprache abgeschafft und dafür das Recht des Staates Israel auf eine weitere Besiedlung der besetzten Gebiete festgeschrieben.

Höre, Deutschland!
Der wichtigste Verdienst von Zimmermanns schmalem, aber gehaltvollem Büchlein, dass ganze Bibliotheken ersetzt, liegt im Aufbrechen der bekannten Vorurteile in Deutschland. Der Historiker macht deutlich, wie fatal das Hintergrundrauschen der religiösen Mächte in diesem Zusammenhang wirkt. Geschichte ist zuallererst eine politische und als solche eine Sache der Verhandlung zwischen Menschen. Sie als Heilsgeschichte begreifen zu wollen, arbeitet dagegen den Machtphantasmagorien eines Carl Schmitt zu. Dessen Idee von Realpolitik ist in diesem Konflikt vielleicht auch auf andere Weise gegenwärtiger als mancher zugeben mag. Jacob Taubes berichtet jedenfalls vom israelischen Justizminister, der sich 1952 Schmitts Verfassungslehre aus der Bibliothek der Universität von Jerusalem am Skopusberg ausgeliehen hatte, um sie intensiv zu studieren – affirmativ, nicht kritisch.[1] Auch Moshe Zimmermann weist unerbittlich darauf hin, dass die von der Regierung Netanjahu in den letzten Jahren geplante Veränderung der israelischen Verfassung in diese Richtung weist. Wenn er auch die postkoloniale Bezeichnung von Israel als „Apartheitsstaat“ zurückweist, so spricht immerhin von einer „Quasi-Apartheit“ und die Pläne der Siedlerbewegung einen „Transfer der Palästinenser“ durchzuführen, gleichen nicht von ungefähr den „Umvolkungs-Phantasien“ der Nazis, Neonazis und der AfD. Auch dagegen sind in Israel vor dem 7. Oktober 2023 viele Menschen auf die Straße gegangen. Dieses Engagement gegen eine Theokratie und für eine Demokratie sollte nicht umsonst gewesen sein.

Nichts gelernt?
Die Regierung Netanjahu aber hat nach dem Massaker der Hamas den Notstand ausgerufen und ein Kriegskabinett eingesetzt. Sie ist nicht in sich gegangen oder zurückgetreten oder hätte sich auf die menschlichen Mittel eine Verständigung besonnen. Sie hat mit einem Bellizismus geantwortet, dessen Logik auch in Europa immer mehr überhandnimmt, während Verhandlungen insgesamt denunziert werden. In der Zwischenzeit sind im Gazastreifen über 30.000 Menschen der Antwort der israelischen Streitkräfte zum Opfer gefallen. Selbst Joe Biden und Annalena Baerbock, die vorher unerschütterlich zu Netanjahu standen, beginnen das Problem zu verstehen. Sie kritisieren nun die israelische Regierung und senden Hilfsgüter nach Gaza.

Das Problem der Zerstörung des demokratischen israelischen Staates durch eine fundamentalistische Politik von innen benennt Zimmermann als langjähriger Beobachter des Konflikts gleich zu Anfang seines Buches. Er weist darauf hin, dass die aggressiven Falken der Kriegstreiber auf beiden Seiten des Konflikts ganz wunderbar miteinander kommunizierten – die Sprache der Brutalität und der Gewalt verstünden beide. Aktiv arbeiteten sie Hand in Hand und gegen ihre jeweilige Bevölkerung an der Verhinderung einer wirklichen Verhandlungslösung.

Bibelromantik und Hügeljugend
Für Zimmermann ist es die Politik der rechtsradikalen Siedlungsbewegung seit 1967, die sich langsam und in Stufen unter dem Stichwort der vermeintlichen Emanzipation der sephardischen (arabischen) Juden von den aschkenasischen (europäischen) Bevormundung in die besetzten Gebiete vordringt. Die radikalen Siedler bilden so die eigentliche Klientel der rechtsradikalen Regierung. Ein Gutteil der Gewalt der Hamas geht für Zimmermann auf die zuvor stattgefundenen Provokationen durch die sogenannte „Hügeljugend“ zurück, also auf die Nachkommen derjenigen Siedler, die vom früheren Premierminister Ariel Sharon zur illegalen Besiedlung der Hügel in den besetzten Gebieten aufgefordert wurden.[2] So berichtet Zimmermann darüber, dass in der Umgebung des Gazastreifens hauptsächlich linksgerichtete Kibbuzim angesiedelt sind, die eher auf eine Verständigung mit den Arabern setzen und mit der aggressiven Siedlungsbewegung im Westjordanland kaum etwas zu tun hätten. Die militärischen Kräfte seien zum Zeitpunkt des 7. Oktobers im Westjordanland gebunden gewesen, während die Siedlungen um Gaza herum, der Aggression der Hamas mehr oder weniger schutzlos ausgeliefert waren. Zuvor wurden dem dann überfallenen Kibbuz Kfar Azzar das Geld für Schutzräume gestrichen, während der rechtsradikale Minister es in die Alimentation der illegalen Siedler im Westjordanland gesteckt hatte.

Israels Demokratie als ein trojanisches Pferd
Zimmermann warnt damit nicht allein vor einem äußeren Feind, sondern vor allem vor dem inneren Feind Israels. So schreibt er über den schleichenden Übergang von einer säkular ausgerichteten zur fundamentalistischen Politik:

»Die Fabel, die mir in diesem Zusammenhang immer einfällt, ist eine »Baron Münchhausen«-Erzählung. Münchhausen fährt mit seinem Schlitten - so die bekannte Geschichte -, als plötzlich ein Wolf das Gespann überfällt und von hinten auf das Pferd, das den Schlitten zieht, springt. Das Pferd hält nicht inne, obwohl sich der Wolf in seinem Hinterteil festgebissen hat. Der Wolf frisst das Pferd von hinten immer weiter auf, bis er anstelle des Pferdes in dessen Geschirr hängt und den Schlitten zieht. Und das alles, ohne dass der Galopp auch nur kurz unterbrochen worden wäre. Genau das geschah dem Zionismus: An der Stelle des vormaligen säkularen, sozialliberalen Pferds zieht nun der nationalistisch religiöse Wolf die Karre. Der Zionismus durchlief eine erschreckende Metamorphose, ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass man vom Wolf und nicht mehr vom Pferd gezogen wird. Diese Metamorphose führte schließlich nahtlos in die Netanjahu-Regierung des Jahres 2023 und erklärt sowohl die alarmierte Reaktion seitens der Opposition als auch den Beitrag der israelischen Politik zur Katastrophe vom 7. Oktober.« (S. 84-85)

Die vereinigten Staaten von Palästina
Im letzten Kapitel setzt Zimmermann erneut auf die Zweistaatenlösung, aber als Teil einer Union der Region Palästina. Die Abraham-Verträge Israels mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und mit Bahrain von 2020 wiesen in diese Richtung. Das bedeutete auch eine Liberalisierung in Israel:

»Jüdisch und liberal müssen keine Gegensätze sein Punkt das wiederum könnte zum Abbau der antisemitischen Verwendung dieser Bezeichnung auf nichtjüdischer Seite beitragen, im Nahen Osten wie auch im Ausland.« (S. 185)

[1] Vgl. Jacob Taubes, Ad Carl Schmitt: Gegenstrebige Fügung, Berlin: Merve 1987, S. 31 (Fußnote 32). Nebenbei bemerkt hat die jetzige Entwicklung zum religiösen Fundamentalismus auch nichts mehr mit dem heterogenen und anarchistischen Messianismus von Walter Benjamins Geschichtsthesen zu tun. Benjamin kannte seinen Herzl; sein Schwiegervater Leon Kellner war ein enger Freund, Sekretär und Weggenosse Theodor Herzls.

[2] „Junge Menschen, Kinder von Siedlern oder auch verwahrloste Jugendliche aus anderen Teilen des Landes, finden sich zusammen, lassen sich in »Außenposten« neben den etablierten Siedlungen nieder, behaupten, ihre Lebensweise ähnele der der biblischen Patriarchen, und suchen die Konfrontation mit den Palästinensern.“ (S. 134) Auf ihrer Seite stehen der aktuelle Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir und der Finanzminister Bezalel Smotrich: „Die gezielte Provokationen gegen die palästinensische Bevölkerung gleicht dem Öl, das man ins Feuer gießt.“ (S. 135)

Artikel online seit 07.04.24
 

Moshe Zimmermann
Niemals Frieden?
Israel am Scheideweg
Propyläen Verlag
16,00 €
9783549100837

 


 

 


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