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Wer ist schuld an der Misere?

Wie schreibt man (k)eine Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland bis 1945?

Von Wolfgang Bock
 

Rektifikationen
Freudkritische und sich dessen Autorität zugleich für die eigenen Vorstellungen anmaßende Darstellungen der Psychoanalyse gibt es wie Sand am Meer. So will beispielsweise Jacques Lacans in seiner Version die Freud’sche Psychologie, die ihm zu sehr nach boche schmeckt, durch eine französische ersetzen (hinter der sich, Ironie der Geschichte, wiederum bei seinem Schwiegersohn Jacques Alain-Miller eine Interpretation Heideggers durchsetzt). Eva Weissweiler etwa möchte in ihrer zum Freudjahr 2006 erschienenen Studie nun Martha Freud zur Heldin ihrer Erzählung machen. Auch viele Anhänger von Wilhelm Reich sehen in Sigmund und Anna Freud die Hauptgegner – und nicht in den Nazis, vor denen alle drei fliehen mussten.[1] Stets geht es darum, Freud und seine Theorie als dogmatisch und orthodox zu diskreditieren, ihn wahlweise als verklemmten Bourgeois oder verkopften Kraken darzustellen, der seine Finger nach allem ausstreckt, was irgendwie nach Sexualität aussieht. Immer aber soll er den autoritären Patriarchen abgeben, der keine Widerworte zulässt und Willkür und Sonderweg anstelle von wissenschaftlicher Methodik und offenem Diskurs verwendet.

Das bis heute bestimmende Klischee ruft dann selbsternannte Männer und Frauen der Ordnung auf den Plan, die den Skandal der Psychoanalyse, der vor allem in ihrer Triebtheorie liegt, glauben maßregeln zu müssen, um die Welt wieder in Ordnung zu bringen. Auch die hier vorliegende „Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland bis 1945“ des Soziologen Michael Schröter folgt einem solchen rektifizierenden Anspruch. Wo allerdings die Franzosen weg vom Deutschen wollen, da will Schröter hin zu dem, was er gerade dafür hält. Und wenn er eine Frau verteidigt, so ist das nicht Martha Freud, sondern seine Lebensgefährtin Ulrike May. Sie gehört zu einer Gruppe von Berliner Psychologinnen und Psychologen um Regine Lockot, Ludger M. Hermanns und anderen, die das reformatorische „neoanalytische“ Erbe ihrer Lehrer von Harald Schultz-Hencke bis hin zur Praxis eines Carl Müller-Braunschweig als harmlos und notwendig verteidigen wollen. Das folgt, wie vieles in der Geschichte der Psychoanalyse, einer Clanlogik. Denn diese Therapeuten praktizierten 1936-1945 am Deutschen Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie in Berlin – dem sogenannten Göring-Institut, benannt nach dem Direktor Matthias Heinrich Göring, einem Vetter des Reichsmarschalls. Er hatte 1936 die frühere Berliner Psychoanalytische Gesellschaft im Auftrag der Deutschen Arbeitsfront auf Antrag ihrer „arischen Mitglieder“ übernommen. Entgegen der landläufigen Vorstellung einer durch die Bücherverbrennung gekennzeichneten radikalen Ablehnung Freuds wurde dieser dort „arisiert“ und ein sexuelles „jüdisches Unbewusstes“ von einem edleren „deutschen“ getrennt.[2] Darin ist der um die Triebtheorie und das Unbewusste entkernte Freud neben Jung, Adler und anderen nur ein Name unter vielen. Schultz-Hencke und die anderen verbliebenen Mitglieder der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft taten das, bevor sie sich selber 1938 als DPG auflösten, auf eine Weise, die das spätere Bild der Psychotherapie in Deutschland bis heute prägt. Schröter trauert anscheinend diesen Verhältnissen und ihrer Produktion bis heute nach.[3]

Eine steile These
Das voluminöse Buch gliedert sich in drei große inhaltliche Abschnitte. Schröter befasst sich zunächst kleinschrittig und in ausgewählten Zusammenfassungen auf gut 550 Seiten mit der Entwicklung der Psychotherapie in Deutschland (Teile I – IV). In dem Teil V: „Unaufhaltsame Erosion: die Freudianer unter dem NS-Regime (1933-45)“, geht es dann auf 250 Seiten um deren Rolle im gleichgeschalteten NS-Staat. Den krönenden Abschluss bilden die letzten dreißig Seiten eines eher wehmütigen Ausblicks auf die ambivalente Nachkriegszeit im Epilog: „Die Wiederbelebung der Freudianische Tradition nach 1945“ – glaubte man doch, Freud bereits endgültig überwunden zu haben. Der Schwerpunkt liegt auf den letzten beiden Bereichen: Schröter will die im ersten Teil von ihm ausgemachte Schieflage eines „Sonderwegs der Psychologie“ in der Psychoanalyse korrigieren und dann die aus der Umorganisation während der NS-Zeit entstandenen gleichgeschalteten Neuerungen der Psychotherapie auch nach 1945 rechtfertigen. Dafür bedient er sich politischer Ziele und Argumente, denen er nur einen historischen Anstrich gibt.

Nicht Freud erscheint in Schröters Ersatzerzählung als das Opfer; sondern die angeblich übertrieben und fälschlich denunzierten deutschen Tiefenpsychologen. Ihre Selbstanpassung an das NS-Regime wäre von der Sache her auch ohne den Druck von außen passiert, lautet die Hauptthese des Buches.

Eine fragwürdige Methode

Das Material dazu wird von Schröter lang und breit vorgebracht. In den ersten vier Kapiteln will er das deutsche Allgemeine des psychiatrischen Diskurses darstellen, von dem der Jude Freud die absonderliche Ausnahme abgeben soll. Dieser soll sich auf den eigenen Weg der Selbstisolierung aus dem wissenschaftlichen Diskurs begeben haben. Die entsprechenden Behauptungen einer Ablehnung seines Verfahrens durch die Mehrzahl der deutschen Psychiater, wie Sigmund Freud und sein Biograf Ernest Jones sie behaupteten, will Schröter damit materialreich widerlegen. Ihm ist kein Argument gegen Freud zu krude, als dass er es nicht übernähme, freilich oft genug hinter einem Zitat versteckt. Die Sache hat System: Schröter trägt eine Unmenge von Details zusammen, die er in seinem Sinne interpretieren will: Dafür bietet seine gewählte chronologische Betrachtungsweise genügend Anlass, während dabei die vorgängige These, nach der die von Schröder dargelegten Daten und Fakten sortiert werden, unangetastet bleibt. Zwar nennt er im gewissen Maße auch kritische Äußerungen, er platziert und gewichtet diese aber so, dass ihre wirkliche Bedeutung entstellt erscheint. Wie in einer Talkshow, wo jeder zu Wort kommt, wird am Ende nichts gesagt. Vielmehr wird die Sphäre der Sprache im Allgemeinen diskreditiert. Der Positivismusstreit der deutschen Soziologie ist anscheinend an Schröter vorbeigegangen. Nach außen hin will der Autor als ein objektiv abwägender Wissenschaftler daherkommen, um die vermeintlich subjektiven Unzulänglichkeiten der Freud'schen Methode wissenschaftstheoretisch zu korrigieren. Hinter diesem Schirm aus selbstgerecht bekundeter Absicht und positivistisch beigebrachten Dokumenten aber kann er dann seinem eigentlichen Anliegen nachgehen: dem Aufweis der angeblichen Unzulänglichkeit von Freuds Theoriegebäude.

Das Urteil über Freud steht zu Beginn bereits fest. Allerdings misslingt dieser Versuch gerade durch Schröters endemische Beibringung der Argumente von Freud-Gegnern. Ihren Versionen räumt er lang und breit viel Platz in seiner Darstellung ein. So aber wird diese Gegnerschaft nur umso gründlicher ins Bild gesetzt. Was er durch seine Beharrlichkeit gewinnen will, verliert er auf diese Weise zugleich wieder. Das passiert auch deshalb, weil hier – worauf Erich Fromm in seiner Kritik an Freuds Sexualkonzept nicht müde wird, hinzuweisen – neben einer intendierten Absicht gerade die unbewusste Einstellung eines Autors zu seinem Gegenstand eine zentrale Rolle spielt.[4]

Verleugnung, Verkleinerung und Verneinung –
ein Ensemble von Abwehrformen

Im zweiten großen Abschnitt des Buches befasst Schröter sich dann mit der erwähnten Gleichschaltung der Psychotherapie im NS. Hier reduziert er durchgängig die differenten und kritischen Forschungsergebnisse Jeffrey Cocks, Helmut Dahmers und anderer auf die eindimensionale und apologetische Version von Regine Lockot und Co., die rechtfertigend im Sinne der damals Beteiligten sprechen wollen.[5] Die zentralen kritischen Autoren werden ausgespart und stattdessen wieder ermüdende und unerhebliche Details in den Vordergrund gerückt. Solche reduzierte Perspektive wird dann erneut als „ganzheitliche Forschung“ ausgegeben. Wahr ist dagegen: Von den etwa einhundert Psychoanalytikern in Deutschland im Jahre 1933 bleiben bis 1936 noch fünf „arische Deutsche“ übrig. Die jüdischen Psychologinnen und Psychologen müssen aufgrund der neuen Rassegesetze emigrieren. Unter dem Druck des Regimes, der ihnen nicht ungelegen kommt, gewinnen die verbliebenen drittrangigen Therapeuten die Patienten der geflohenen ersten Garde der Psychoanalyse, sie rücken aber auch zusammen. Sie machen jedenfalls die Psychoanalyse fit für die Nazis, d.h. Jung, Müller-Braunschweig, Schultz-Hencke, Kemper, Boehm und Co. entwickeln eine mit der NS-Ideologie konforme Version einer „germanischen Tiefenpsychologie“. Zu dieser zählt Carl Gustav Jungs erwähnte radikale Unterscheidung einer „jüdischen Triebtheorie“ von der Fassung eines „deutschen Unbewussten“.[6] Das „deutsche Es“ soll danach anders als das jüdische kaum sexuell bestimmt sein. Dafür wird es als wild und gefährlich imaginiert. Es müsse, so stoßen auch Harald Schultz-Hencke und später sein Schüler Fritz Riemann in dasselbe Horn, von seinen hemmenden „Grundformen der Angst“ befreit werden befreit werden und könne erst dann nach seiner Bestimmung tüchtig streben, wie bei der Landnahme eines schwächeren Volkes. Dafür benötige der NS die germanisch reformierte Tiefenanalyse im Einklang mit dem ebenso gleichgeschalteten psychiatrischen Diskurs.[7] In diesem Sinne wurden die einzelnen therapeutischen Schulen von Jung, Adler und Freud zu einer funktionalen Gruppe zusammengefügt. Diese Folgen wiegelt Schröter unter Beibringung seiner „Fakten“ wieder ab. Schenkt man ihm und der Gruppe, für die er spricht, Gehör, dann handele es sich dabei um eine Entwicklung, die auch ohne den Exodus der jüdischen Therapeuten in Deutschland passiert wäre. Das muss man nicht glauben. Vor diesem Hintergrund der Notlüge und Schutzbehauptung der von der Arisierung auch fiskalisch profitierenden Therapeuten dient dem Autor die Analyse Freuds als bloßer Anlass zur begründeten Distanzierung von ihr.

Im dritten Abschnitt des Buches geht es schließlich um die von Schröter anscheinend missbilligte Rückkehr zu Freud nach 1945 in Deutschland. Auch hier ist die hinter der Chronologie wirkende trauernde Einstellung wieder mit den Händen zu greifen. Zu sehr hatte man die Arbeit ohne die von oben herab andauernd einsprechenden Juden gewöhnt.

Lässt man sich auf die kleinschrittigen Windungen und Wiederholungen des mäandernden Textes ein – zu dessen konstanter Inselwelt der Freudvorwürfe ein diese umfließender und ausufernder Strom der bagatellisierenden Narration gehört – so wird auch dem wohlmeinendsten Leser, der die Psychoanalyse ebenfalls kritisch sieht, nach wenigen Seiten rasch die Absicht klar, dass es dem Autor nirgendwo um Freuds Theorie geht. Denn eine ernstzunehmende Widerlegung einer Theorie erfordert, dass diese zuvor selbst ernst genommen wird. Eine bereits als inferior deklarierte Position im Anschluss wortreich zu widerlegen, zählt dagegen zu allzu einfachen Freuden. Aus diesem Grund scheitert Schröters Versuch, die Diskurse auf eine Materialebene herunterzubrechen, deren schiere Menge die wichtigen Fragen verschütten soll. Auch wenn er ein doppelt so dickes Buch mit Protokollen und Expertisen vorlegte, wirkte das nicht überzeugender. Es ist das überall spürbare Motiv der Vorverurteilung, das alle wirkliche Kritik über das hier sichtbar werdende Ressentiment hinaus zunichtemacht.

Eine einseitige „Geschichte der Psychoanalyse“ ohne kritische Stimmen

Die Zusammenhänge, um deren affirmative Rechtfertigung es in diesem Buch in Wirklichkeit geht, behandelt Schröter also in den letzten beiden Kapiteln seines Buches. Er tut das unter Aussparung der Kritiker dieser Entwicklung. Die einschlägigen Werke Helmut Dahmers, Hans-Martin Lohmanns, Lutz Rosenkötters und die französische Kritik von Elisabeth Roudinesco oder die brasilianische von Chaim Katz sucht man hier vergeblich. Nur die eigene Schule und deren Version soll gelten. Was Freud im ersten Teil des Buches vorgeworfen wird – die Isolierung auf die eigene Gruppe und die Ignoranz der internationalen wissenschaftlichen Community – wird von Schröter offenkundig selbst praktiziert: eine Reaktionsbildung. In solcherart verzerrten Darstellung der Person und der Lehre Freuds und seiner Mitarbeiter werden in bedenklichem Maße antisemitische Standards sichtbar. Absonderung von der Gemeinschaft gilt seit jeher den Juden als Hauptvorwurf. [8] Auch darin handelt es sich um eine Fortsetzung der offiziellen Einordnung des Juden Freuds im Göring-Institut. Offiziell wird von Schröter kein rassistischer Grund genannt, aber in der Sache erscheint umso deutlicher ein Bild des Wiener Psychologen, der selbst für den „Sonderweg“ verantwortlich gemacht wird, der diesem widerfährt.

Eine Versiegelung der Quellen

Offiziell soll also Freud den „Sonderweg“ gegangen sein, nicht sein Kritiker Schröter und dessen Verstümmelung der Lehre. Schaut man wiederum genauer hin, so erkennt man, dass Schröter mit seiner Methode der Fetischisierung des Materials nicht zuletzt versucht, eine Versiegelung der Quellen vorzunehmen und das Feld durch seine alleinige Lehrmeinung zu besetzen: Als Leser muss man sich erst durch den kaum verdaulichen Korpus des Buches hindurcharbeiten, um zu erkennen, dass in jedem Kapitel den Gegnern Freuds immer wieder das Feld freigeräumt und er damit gleichsam zum Abschuss freigegeben wird. Im Zentrum steht dabei die Eliminierung der Triebtheorie. Das Ergebnis ist ein irrlichternder Text, der vorgibt, wissenschaftlich vorzugehen und dahinter seine das Material in Wirklichkeit verstellende Absicht verbirgt.

Die selbsternannten Hüter der Psychoanalysegeschichte und der lange Schatten des Göring-Instituts

In den letzten Jahrzehnten konnte die Öffentlichkeit eine Aufarbeitung der Verstrickungen verschiedener Berufsgruppen wie der Juristen, der Diplomaten (Außenpolitiker), der Soziologen und der Philosophen mit dem NS-Regime verfolgen. Es sind allerdings die Disziplinen der Geschichte und der Psychologie, die sich bis heute einer umfassenden Aufklärung ihrer entsprechenden Kontamination widersetzen. Beide glauben anscheinend, ein exklusives Deutungsrecht der Geschichte zu besitzen.[9] Hinter dieser Abwehr verbreiten sie munter ihre Mythen weiter und machen Proselyten unter jungen Menschen. Schon Alexander Mitscherlich berichtete davon, dass der von Schröter als Mann der Mitte hochgelobte Psychiater Johannes Heinrich Schultz – der stellvertretende Direktor des Göring-Instituts, der nach 1945 unbehelligt weiter praktizierte und hauptsächlich Homosexuelle „therapierte“ – ihm den entsprechenden Bescheid gab: Auf seine Versuche, bei ihm in einer Analysestunde die Verbrechen der Nazis anzusprechen, hielt er ihm ein solches Ansinnen als einen homoerotischen Komplex vor. Mitscherlich ging dann zu einer freudianischen Analyse nach England.

So entsteht in dieser Studie das verstörendes Bild einer Rechtfertigung der entstellten Psychoanalyse-Rezeption in Deutschland von 1933 bis in die Nachkriegszeit hinein. Diese „Historiker der Psychoanalyse“ versuchen als selbsternannte Gatekeeper der Debatte über NS-Psychologie zu fungieren und andere Meinungen zu disqualifizieren oder aus dem Feld zu drängen.

Daher verwundert es nicht, dass in der Verleugnung, Verwirrung und Verniedlichung der Ereignisse auch die Register aller anderen Abwehrmechanismen gezogen werden, um eine eigene Schuld abzustreifen und ein Pseudoszenario zu entwickeln. Die entsprechenden Verbindungen innerhalb der „germanisierten Psychoanalyse“ erweisen sich anscheinend als besonders stabil. Das Irritierende an Schröters Buch ist diese Haltung, die es wider besseres Wissen als Szientismus durchzieht durchzieht und noch als „Vermächtnis für die nächste Generation“ angepriesen wird. Sigmund Freud und seine Theorie werden hier nur als entbehrliche Antithese erwähnt, wie auch nach Sören Kierkegaard das Alte Testament der Juden in der christlichen Bibel nur als sich selbst überlebendes Volk vorkommt. So verweist auch Schröter auf Freud, um die Position einer Kritik daran als Simulakrum stark zu machen.

An keiner Stelle wird dagegen der Versuch gemacht, sich mit dessen Theorie ernsthaft und anders als abwertend auseinanderzusetzen. Übergroß erscheint hier die seit 1945 bigotte Position der Daheimgebliebenen gegenüber dem Blickwinkel der 1933 zwangsweise emigrierten Psychoanalytiker. Diese „Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland“ endet bei Harald Schultz-Hencke, dem Gegner Freuds. Der scheitert 1949 auf dem ersten IPA-Kongress nach dem Krieg in Zürich mit seinem Antrag, ihn und seine wieder gegründete Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft, die sich 1938 angeekelt von den Juden abgewendet hatte, unter den neuen Machtverhältnissen nun doch wieder in die Internationale Psychoanalytische Gesellschaft aufgenommen zu werden. Schließlich wehte der Wind aus Amerika und man studierte amerikanische Psychoanalytiker. Nach Schröter aber hat die erfolgte Ablehnung nicht etwa damit zu tun, dass Schultz-Hencke dort das nur oberflächlich kaschierte Programm des Göring-Instituts als „Zukunftsversion der Psychoanalyse“ vorträgt, sondern mit der „Sezessionsnatur der Juden“:

»Es führt eine gerade Linie vom Lehrverbot für Schultz-Hencke 1929 über den Auftrag Freuds an Boehm 1933, er solle die DPG vor dem Einfluss des dissidenten Kollegen bewahren, bis zum Beschluss von 1949, mit dem die Freud-Schule, wie sie es seit Jahrzehnten gewohnt war, theoretische Meinungsverschiedenheiten durch Ausgrenzung zu erledigen suchte. Der IPV-Vorstand, mit anderen Worten, hatte sehr bewusste vereinspolitische Gründe, den Antrag der DPG vorerst abzulehnen, und seine Linie setzte sich durch.« (S. 725)

Wer also ist wieder schuld auch an dieser Misere?


[1] Vgl. Eva Weissweiler, Die Freuds. Biographie einer Familie, Köln: K&W 2006. So möchte Andreas Peglau die angeblich tabuisierten Ergebnisse der Forschungen am NS-Göring-Institut in Reichs Namen rehabilitieren und Stephen Theilemann versucht sich in seiner Biographie Harald-Schultz Henkes an dessen Reinwaschung von den Vorwürfen der Nazi-Kollaboration (vgl. Andreas Peglau, Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus, Gießen: Psychosozial Verlag 2013 und Steffen Theilemann, Harald Schultz-Hencke und die Freideutsche Jugend, ebd., 2013).
[2] „Like doctors in general, psychotherapists could offer the Nazis the type of practical, technical expertise they required in mobilizing and maintaining the human resources of a modern industrial society geared for rearmament and war.“ (Geoffrey Cocks, Psychotherapy in the Third Reich. The Göring-Institute. Second Edition, Revisited and Expanded, New Brunswik [USA] and London [UK]: Transaction Publishers 1997, S. 68).
[3] „Während Schultz-Henckes ‚Neo-Psychoanalyse‘ nach 1945 in Deutschland zunächst Konjunktur hatte, ist es ab dem 1960er Jahren still um sie geworden, was viel mit Entwicklung des Zeitgeistes in Westdeutschland zu tun hatte. Gegen das negative Vorurteil, das sich an seinen Namen geheftet hat, ist festzuhalten, dass Der gehemmte Mensch wohl der bedeutendste, innovativste Beitrag zum psychotherapeutischen Schrifttum ist, der in den NS-Jahren in Deutschland entstand.“ (Schröter S. 666). Das von Schröter zur Avantgarde gekürte Buch ist ein schlimmes Machwerk der NS-Propaganda. Es stammt von 1940 und entwickelt unter den Kategorien „a. Laster, b. Erlebnisweisen und c. Typische Entwicklungsbilder“ ein Fahndungshandbuch.
[4] Vgl. Erich Fromm, „Die gesellschaftliche Bedingtheit der psychoanalytischen Therapie“, in: Zeitschrift für Sozialforschung IV, 1935, S. 365-397, hier S. 385.
[5] So z.B. in ihrem Buch Reinigung der Psychoanalyse von 1994. Dessen Titel suggeriert, wie der ihres Buches von 1985/2002 Erinnern und Durcharbeiten eine Auseinandersetzung, die wie bei Schröter ebenfalls nicht stattfindet (vgl. S. 402-404). So werden die entsprechenden Schutzbehauptungen der beteiligten Akteure festgeschrieben.
[6] Vgl. C. G. Jung, „Zur gegenwärtigen Lage der Psychotherapie“ (1934), als Herausgeber des Zentralblattes für Psychotherapie, jetzt in Gesammelte Werke, Bd. 10, Olten 1960-1978, Walter Verlag, S. 190f. Schröter hält den programmatischen Text schlicht für nebensächlich und hält sich nicht weiter damit auf.
[7] Von hier aus versteht man Hans Freyers Weltgeschichte und Carl Schmitts Nomos der Erde. Man versteht nun auch Woody Allens Satz besser, wonach er, immer wenn er Deutsch höre, den Wunsch verspüre, Polen zu überfallen.
[8] Schröter rapportiert ausführlich und anscheinend zustimmend eine Kritik an der Psychoanalyse vom Münchner Psychiater Emil Kraepelin: „Der Haupteinwand, der gegen die Anschauungen Freuds erhoben werden muss, ist nicht die übermässige Betonung der Sexualität, sondern die Unzulänglichkeit seiner wissenschaftlichen Methodik. Sie wird durch zwei Eigentümlichkeiten gekennzeichnet, einmal die masslose Verallgemeinerung einzelner Beobachtungen, sodann die Aufstellung beweisloser Behauptungen. Damit hängt zusammen die unbekümmerte Vernachlässigung von Einwänden und gesicherten Erfahrungen.“ Schröter kommentiert jedenfalls: „Kraepelins Ausführungen, die den Finger auf tatsächlich vorhandene Probleme legen, entsprechen weithin den einschlägigen Passagen in der 8. Auflage seines Lehrbuchs.“ (S. 183).




Artikel online seit 08.01.24
 

Michael Schröter
Auf eigenem Weg
Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland bis 1945
Vandenhoeck & Ruprecht
865 Seiten
60,00 €

978-3-525-45028-4

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